Steigerung des Lebensgefühls

Rudolf Steiner, GA 301, 5. Vortrag

Alle Deklamationen unserer Zeit, man solle gewissermaßen das Kind selber schon über das urteilen lassen, was es zu lernen für richtig findet - auf das kommt ja manches heute schon hinaus -, alle diese Deklamationen berücksichtigen eben nicht das Bedürfnis der Menschennatur selbst, das in das ganze spätere Leben hineingetragen wird dadurch, dass der Mensch, indem er nur noch das Nachahmungsprinzip über das 7. Jahr ins 9. Jahr führt, dieses Nachahmungsprinzip mit dem Autoritätsgefühlsprinzip durchwirkt. Vom 9. Jahre an kommt dann dieses Autoritätsprinzip immer reiner und reiner heraus, und vom 12. Jahre an mischt sich wieder ein Neues hinein, nämlich das eigene Urteilsvermögen.

Es ist für alle Erziehungskunst von fundamentaler Bedeutung, dass man den Menschen, den werdenden Menschen nicht zu früh zum eigenen Urteil bringt. […]

Wer nicht in der richtigen Weise zu rechnen vermag mit diesem Gefühl, etwas hinzunehmen, weil man einer Autorität gegenübersteht, etwas zu glauben, weil diese Autorität glaubt, wenn man darauf nicht die nötige Rücksicht nimmt, so nimmt man dem Menschen, den man erzieht, für das ganze spätere Leben etwas. Ich meine, man sehe hin auf dasjenige, was man erlebt. Wenn man, ich will gleich einen sehr späten Termin annehmen, als 30-35jähriger Mensch sich zurückerinnert an irgend etwas, was man in der Schule beigebracht erhalten hat, so ergibt sich, dass man es dazumal nicht verstanden hat, aber weil man den Lehrer liebte, nahm man es auf. Man hatte das Gefühl, das man natürlich nicht exemplifizierte, aber das man erlebte, man hatte das Gefühl: Diesen Mann muss ich verehren, oder diese Frau muss ich verehren, die meint das, ich muss es auch meinen. An so etwas, was man nicht verstanden, sondern aus Liebe angenommen hat, erinnert man sich im 30. oder 35. Lebensjahre. Jetzt ist man reifer geworden. Man sieht das, was man herausholt aus den Untergründen seiner Seele, mit seinem späteren Menschen an, und man kommt auf folgendes: was man viele Jahre vorher aus Liebe aufgenommen hat, man nimmt es wiederum in den Horizont des Lebens herein und klärt sich jetzt darüber auf. Man muss nur beobachten können, was das bedeutet. Das bedeutet, dass aus einem solchen Wiederheraufholen dessen, was jetzt erst aus der eigenen Reife heraus verstanden wird, eine Steigerung des Lebensgefühls kommt, die wir brauchen, wenn wir für das Leben, für das soziale Leben überhaupt brauchbare Menschen werden wollen. Das würde den Menschen viel nehmen, wenn wir ihnen das Aufnehmen von Wahrheiten aus Liebe nehmen würden, aus hingebender Liebe in berechtigtem Autoritätsempfinden. Dieses berechtigte Autoritätsempfinden, dem muss das Kind ausgesetzt sein, und wir müssen mit aller Kraft unserer Seele in der pädagogischen Kunst darauf hinarbeiten, dass wir dem Kinde von seinem Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife die berechtigte Autorität erhalten. […]

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