Grundfähigkeiten der sozialen Selbstverwirklichung

Ein Beitrag von Lars Grünewald

Wozu Bildung?

Wozu braucht der Mensch Bildung? Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre die Zielsetzung, auf möglichst vielen Sachgebieten ein möglichst umfangreiches und fundiertes Wissen zu erwerben, um sich in der Welt „auszukennen“. Dieses althergebrachte Bildungsideal – das ursprünglich der griechischen Kultur entstammt und heute insbesondere in der staatlich organisierten und kontrollierten Pädagogik noch weiter gepflegt wird – ist allerdings in der heutigen Zeit nicht mehr in der Lage, den aktuellen biografischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Menschen gerecht zu werden. Unsere gegenwärtige Situation erfordert statt dessen allgemein – und folglich auch in der Pädagogik – eine fortwährende Umorientierung von der Erkenntnis hin zum Willen: An die Stelle der Frage: „Wie kann der Mensch möglichst viel von der Welt wissen?“ müsste zunehmend die Frage treten: „Wie kann der Mensch mit Herausforderungen [1] angemessen umgehen?“ Zukunftsorientierte Bildung hat deswegen die Aufgabe, Menschen darauf vorzubereiten, möglichst vielen der im Verlaufe ihres Lebens an sie herantretenden Herausforderungen gewachsen zu sein. Wie lässt sich diese Zielsetzung pädagogisch realisieren?


Biographische Individualisierung

Gegenüber den festgefügten kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Vergangenheit zeichnet sich unsere Zeit durch eine allmähliche und stetig fortschreitende Auflösung gesellschaftlicher Strukturen aus. Die Lebensverhältnisse in unserer Gesellschaft werden deswegen immer wechselhafter und unsicherer. Labile gesellschaftliche Verhältnisse resultieren jedoch zwingend in immer unvorhersehbareren und unterschiedlicheren Entwicklungsperspektiven der in dieser Gesellschaft lebenden Menschen. Infolgedessen werden sich die Lebensvoraussetzungen sowie die Bedürfnisse, denen gemäß unterschiedliche Menschen ihr Leben gestalten, in immer größerem Umfang individualisieren, denn die gegenwärtige Entwicklung erfordert eine zunehmende biographische Individualisierung von Menschen, während Lebensläufe in der Vergangenheit prinzipiell standardisierten Einheitsmustern folgten, welche insbesondere durch den Beruf und den familiären Status eines Menschen bestimmt wurden.

Weil die biographische Entwicklung der Menschen immer unvorhersehbarer wird, ist auch nicht kalkulierbar, welche konkreten Fähigkeiten ein Mensch benötigen wird, um die in unterschiedlichen Situationen seines Lebens an ihn herantretenden Herausforderungen zu bewältigen. Und da Fähigkeiten durch Bildung vermittelt werden, ist folglich auch unabsehbar, welche Bildung ein Mensch während seines Lebens brauchen, und wann die jeweilige Bildung für ihn von Bedeutung sein wird. Allgemeine Lehrpläne und Studien- bzw. Ausbildungsverordnungen stellen deswegen vollkommen ungeeignete Instrumente dar, Menschen eine zukunftstaugliche Bildung zu vermitteln, denn konkrete, situationsbezogene Fähigkeiten (Sachkompetenzen) sind immer nur in bestimmten Lebenssituationen anwendbar, von denen vielfach nicht abzusehen ist, ob und in welcher Ausprägung ein einzelner Mensch derartige Situationen wirklich erleben und die zu ihrer Bewältigung jeweils erforderlichen Fähigkeiten tatsächlich benötigen wird.


Grundfähigkeiten

Eine zeitgemäße Pädagogik müsste primär darauf abzielen, statt spezieller, situationsbezogener Sachkompetenzen allgemeine Fähigkeiten auszubilden, die ein Mensch dann in unterschiedlichen Situationen selber individualisieren und auf die jeweils aktuellen Erfordernisse abstimmen muss. Wir können solche allgemeinen Fähigkeiten als Metafähigkeiten bezeichnen und zunächst vier selbstbezogene Grundfähigkeiten voneinander unterscheiden, nämlich

  1. die Fähigkeit, seine eigenen Handlungsprioritäten selber zu bestimmen und seine Zeitgestaltung entsprechend einzurichten, d.h. die Fähigkeit zur Selbstorganisation
  2. die Fähigkeit, sich neue Kenntnisse und Fähigkeiten gezielt und effektiv anzueignen, d.h. die Fähigkeit zur Selbstausbildung
  3. die Fähigkeit, seine eigenen Verhaltensgewohnheiten zu ändern und seine intellektuellen und charakterlichen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, d.h. die Fähigkeit zur Selbsterziehung
  4. die Fähigkeit, seine Erfahrungen gezielt auszuwerten und die eigenen Entwicklungsperspektiven realistisch zu beurteilen, um auf dieser Grundlage bewusste und tragfähige Entschlüsse zu fassen, d.h. die Fähigkeit zur Selbstreflexion

    Zu diesen vier Grundfähigkeiten der individuellen Selbstverwirklichung treten drei soziale Grundfähigkeiten hinzu:
     
  5. die Fähigkeit zur bewussten Mitgestaltung seiner zwischenmenschlichen Beziehungen, d.h. zur Beziehungsgestaltung
  6. die Fähigkeit, sich anderen Menschen verständlich zu machen, sie zu verstehen sowie konstruktiv auf ihre Äußerungen zu reagieren, d.h. die Fähigkeit zur Kommunikation
  7. die Fähigkeit zum konstruktiven Zusammenwirken mit anderen Menschen bei der Verwirklichung gemeinsamer Zielsetzungen, d.h. zur Gemeinschaftsgestaltung

Die Ausbildung der genannten Grundfähigkeiten wird einen Menschen befähigen, sich genau diejenigen konkreten Fähigkeiten selber anzueignen, welche er in einer bestimmten Lebenssituation oder Lebensphase wirklich braucht, und ihm dadurch eine umfassende soziale Selbstverwirklichung ermöglichen. Der Erwerb konkreter Bildung wird damit zu großen Teilen ebenfalls zu einer durch den einzelnen Menschen in eigener Initiative – d.h. aufgrund individueller Willensentschlüsse – betriebenen Angelegenheit, wie dies in unserer gegenwärtigen Situation durch die gesellschaftlichen Verhältnisse gefordert ist.


Vermittlung von Grundfähigkeiten

Aus pädagogischer Sicht stellt sich die Frage, wie sich die dargestellten Grundfähigkeiten erwerben bzw. vermitteln lassen. In Bezug auf allgemeinbildende Schulen ergibt sich insbesondere die Fragestellung, wie der Erwerb der Grundfähigkeiten in den bestehenden Schulbetrieb, der bis auf weiteres auf der konventionellen Einteilung in Fächer beruht, integrierbar ist. Dabei ist grundsätzlich zu beachten, dass allgemeine und spezielle Fähigkeiten einander keineswegs ausschließen. Eine Synthese beider Fähigkeitsarten ergibt sich, wenn wir berücksichtigen, dass sich konventionelle, erkenntnisorientierte Pädagogik vor allem auf konkrete und gegenständliche Bildungsinhalte, eine zeitgemäße, willensorientierte Pädagogik hingegen primär auf Bildungsmethoden, d.h. auf bewusst vollzogene menschliche Willensprozesse richtet.

Insofern widersprechen konkrete Sachkompetenzen und Metafähigkeiten einander keineswegs; vielmehr ließen sich die angeführten Grundfähigkeiten anhand des Erwerbs konkreter Sachkompetenzen fördern und ausbilden, indem der pädagogische Akzent hierbei vor allem auf den Methoden gegenüber den Inhalten liegt: Auch sachbezogener Bildungserwerb ließe sich im Hinblick auf eine gezielte Ausbildung der Fähigkeiten zur Selbstorganisation, Selbstausbildung, Selbsterziehung und Selbstreflexion vermitteln, ohne notwendigerweise mit vorgegebenen Lehrplänen in Konflikt zu geraten. Hierfür müssten die jeweiligen Pädagogen allerdings von ihrer Methodenfreiheit einen gezielten und bewussten Gebrauch machen und die erforderlichen Methoden hinreichend beherrschen, um sie effektiv zur Vermittlung der Grundfähigkeiten einsetzen zu können.

Der Erwerb der sozialen Grundfähigkeiten (Beziehungsgestaltung, Kommunikation und Gemeinschaftsgestaltung) betrifft hingegen zunächst primär den Umgang von Schülern und Lehrern miteinander sowie die Entwicklung einer Klassengemeinschaft in ihrer Gesamtheit. Diese Aspekte dürfen gegenüber den zu erwerbenden Sachkompetenzen keinesfalls als sekundär angesehen werden, da ansonsten die Ausbildung grundlegender sozialer Fähigkeiten vernachlässigt würde, welche in unserer Zeit dringender als je zuvor benötigt werden.

Im Zuge der gegenwärtig notwendigen Individualisierung der Bildung wird auch die Vermittlung allgemeiner Grundfähigkeiten nicht von einer „Einheitsdidaktik“ ausgehen oder eine solche anstreben können. Vielmehr besteht hier die Möglichkeit der Entwicklung unterschiedlicher methodischer Ansätze, die allerdings miteinander ins Gespräch kommen sollten, um sich im Dialog aneinander korrigieren, weiterentwickeln und dadurch verbessern zu können.

 

[1] Eine Herausforderung ist eine Erlebnissituation oder eine Zielsetzung, welche an den Menschen Anforderungen stellt, die sich mit den ihm gegenwärtig zur Verfügung stehenden Mitteln nicht oder nur mit Schwierigkeiten bewältigen lassen.

www.selbstorganisierte-bildung.de
lars-gruenewald@arcor.de

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