Eine Vorgeschichte

ein Reise- und Erfahrungsbericht aus Serra Grande, Bahia, Brasilien von Tabea und Renato Fraenkel

Im Sommer 2002 haben wir uns von unserer Welt getrennt: In einem Freijahr sind wir in eine entlegene Gegend Brasiliens etwas nördlich von Ilhéus, die ehemalige „Hauptstadt des Kakaos“, am wunderschönen Küstenstreifen Bahias - ein Bundesland doppelt so groß wie Deutschland - gereist.

Ich selbst bin in Brasilien geboren und verbrachte dort die ersten 23 Jahre meines Lebens, um dann schließlich nach Deutschland zu ziehen. Dort bin ich seit 25 Jahren an der Freien Waldorfschule Braunschweig Lehrer. Ich machte diese Reise mit meiner Frau und meinem 11 jährigen Sohn. In dieser ganz anderen Welt Brasiliens sollte dann alles ganz anders kommen, als wir es vorhatten bzw. erwarteten und geplant hatten.

Alles was uns „zu Hause“ wohl vertraut war – einkaufen, kochen, backen, Vorräte anlegen, Wäsche waschen und in Schränken aufbewahren, Müll entsorgen, fließend Wasser verbrauchen, sich waschen, telefonieren, planen, ..., mussten wir in dieser paradiesischen, immer feuchten, sehr heißen Gegend neu erlernen (unser neues, dort adoptiertes Kind Ivanildo hatte z. B. in seinen 15 Jahren noch NIE eine lange Hose, einen Pulli oder ein paar Schuhe, geschweige denn Strümpfe angehabt). Es bedeutete für uns, von unserem bisherigen Leben ganz loszulassen und uns völlig neu zu definieren, zu orientieren, zu finden. Es galt, alles neu zu lernen; es brachte Grenzerfahrungen bis zur Verzweifelung mit sich, aber es beschenkte und bereicherte auch uns sehr.

 

Die Menschen

Obwohl wir die einzigen Weißen im Ort waren, meine Frau Tabea und mein Sohn Felix die Sprache nicht kannten und fremdländischer nicht aussehen und handeln konnten, gehörten wir in kürzester Zeit zur Gemeinschaft: Rührend, ganz unkompliziert, selbstverständlich und spontan halfen uns die Menschen, hörten uns zu, verbanden sich mit uns, erzählten lange Geschichten, die Tabea zunächst noch gar nicht verstand. Gleichgültig, ob es um Alltägliches ging – z. B. wie man die unzähligen Früchte, die nach einander reiften, zu öffnen und zu essen hatte (diese Fähigkeit war am Aussehen der fremden Früchte für uns wirklich nicht zu erraten), wie man sich bei dem Wassermangel behelfen musste oder bei der Suche nach Wohnung und Arbeit - die Menschen vor Ort unterstützen uns.

Diese soziale Eingliederung war natürlich nur deshalb möglich, weil wir nicht wie Touristen lebten, sondern uns dort mit Kraft und Tat in das soziale Leben eingaben.

 

Die Lebensbedingungen

Alle Vorräte wurden von Käfern und sonstigem Ungeziefer, die Wäsche und Lederschuhe aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit schnell von Schimmel befallen. Die Wäsche, die ausschließlich mit der Hand in der Regel im Fluss gewaschen wurde, musste regelmäßig in der Sonne ausgebreitet werden, wo sie in kürzester Zeit verblich (das tat sie auch in den offenen Regalen – geschlossene werden wegen der Schimmelgefahr gar nicht benutzt). Überall im Dorf hängt die Wäsche auf Stacheldrahtzäunen in der Sonne, nur wir benutzten Wäscheklammern statt Stacheldraht, weil wir sie uns leisten konnten.

 

Der Müll

In Bahia gab es kaum Müll. Alles Organische wurde aus den Fenstern geworfen und von den vielen überall frei herumlaufenden Tieren (u. a. hat jeder Hühner für die Ernährung, Katzen gegen die Ratten, Hunde zum Anschlagen) sofort weggeschnappt. Anders wurden sie nicht gefüttert (übrigens: Unsere Haustiere werden in Deutschland wesentlich besser ernährt als die Hälfte der brasilianischen Kinder).

Müll ist ein Ergebnis von Überfluss. Wer nichts kauft, produziert keinen Müll. Bleibt doch etwas übrig, dann werden Dosen als Regenrinnen, Plastikbehälter zum Gießen, Waschen, Essen, oder als Pflanzentöpfe verwendet. Wir erhielten zum Beispiel unsere Frischmilch in gebrauchten Cola-Flaschen, die wir auswuschen und wieder zurückgaben.

 

Das Wasser

Wasser zu bekommen war eigentlich unser größtes Problem. In einer unglaublich wasserreichen Gegend hatten wir dauerhaften Wassermangel. Es wurde aus dem Fluss mit einer schwachen Pumpe in einen erhöhten Wasserbehälter gepumpt und von einem Mann mittels im Ort verteilten Registern in die 2 cm (!) starke „Kanalisation“ gelassen, die nur ein Teil der Häuser erreichte. Von dort „tropfte“ es ein bis zwei Stunden täglich mit ca. 1,5 – 2 Litern pro Minute in irgendeinen Behälter (... na ja, wir haben uns eine 1000 l Wassertonne geleistet). Für uns reichte es für 2- bis 3-mal Toilettenspülung. Der Rest wurde „gesammelt“ für äußerst sparsames Geschirrspülen und Wäschewaschen. Die Frauen im Ort machten dies ausschließlich im Fluss.

Zum Baden mussten auch wir in den Fluss, in den warmen Stausee, zu einer der vielen Quellen, Wasserfälle, oder zu einer Dusche am Meer laufen, jeweils ein Gehweg von 40 Min. Dort verrichteten wir dann in aller Öffentlichkeit die komplette Körperpflege.

 

Die Kinder

Der herunter gekommene Rasen neben unserem Haus, von den Einwohnern „Fußballplatz“ genannt, war die Sozialisationsstätte für Felix: Dort spielte sich - nicht nur für die Kinder - ein großer Teil des sozialen Lebens ab. Die Kinder nahmen Felix ganz und gar vorbehalts- und vorurteilslos auf und bezogen ihn mit viel Rücksicht auf sein Anderssein mit ein (er konnte nicht Fußball spielen, noch nicht auf Bäume klettern und nicht richtig Murmeln spielen). Außerdem spielten sie täglich im Fluss, fingen Fische, Krebse und Süßwasserhummeln mit den Händen oder selbst geschnitzten Harpunen; Vögel wurden mit der Zwille abgeschossen oder kunstvoll in Käfige gelockt – all das zeigten sie ihm. Es war ein Jahr ohne jeglichen Konsum und Spielzeug, welches Felix heute ohne Einschränkung als das schönste und glücklichste seines Lebens bezeichnet.

Von Anfang an war von uns vorgesehen, dass Felix auf die „normale Dorfschule“ gehen solle – was sollte es dort auch anderes geben? Das tat er dann auch, genau einen Tag! Die Lehrerin verlangte ihm etwas ab, das er nicht leisten konnte, und damit war es aus. Was tun?

Wir hatten im Vorfeld schon zu in Brasilien lebenden Verwandten einer Giersberger Kindergartenfamilie Kontakt, die uns erzählten, dass „irgendwo“ in dieser Gegend eine Deutsche eine Waldorfschule zu gründen versuche. Wir suchten nun nach dieser „Deutschen“ und fanden nach einigen Mühen, versteckt und abseits jeglicher Zivilisation, weit und breit … das einzige „Waldorfschulchen“ Bahias! Dort durfte unser Sohn Felix ein halbes Jahr in die 4. Klasse gehen, obwohl er in Braunschweig schon in die 6. gehen würde.

 

Die Waldorfschule in Bahia

Alles war dort SEHR anders. Die vier Klassen waren durch 1,50m hohe Sperrholzbretter geteilt in einem ansonsten nach allen Seiten offenen ehemaligen Stall untergebracht, in dem Wind, Wetter und allerlei Getier freien Durchgang und Unterschlupf fanden. Jeden Morgen, wenn die Tiere die Klassenräume wieder verlassen hatten, wurde gefegt und der Jahreszeitentisch neu aufgebaut. Der Unterricht begann zwischen 7:30 und 8:30 Uhr, je nachdem wann die Schulräume wiederhergerichtet waren. Es wurde außerdem gewartet, bis der einzige und 50 Jahre alte Schulbus des Landkreises die etwa 30 km abgefahren und „unsere“ Schule und die Dorfschule erreicht hatte (bis zu 150 Kinder fuhren in dem Vehikel mit) oder bis die letzten Kinder ankamen, die wie unser Ivanildo 6 km oder mehr Fußweg durch Land und Flur zurückgelegt hatten. Es gab dort kein Wasser, keinen Strom und selbst keine Toiletten - nicht einmal ein Plumpsklo, jeder ging einfach in den Wald.

Eine liebevolle „Köchin“, wie man sie aus einem Bilderbuch über die Dritte Welt kennt, bereitete täglich eine heimische Mahlzeit zu und ging danach mit einer einen Meter breiten Schüssel auf dem Kopf voll mit Plastikgeschirr 800 m bergauf und bergab zum nächsten Bach, um es zu waschen.

 

Felix

... und drei weitere Lehrerkinder waren dort die einzigen Weißen - von 75 Kindern ausschließlich aus den ärmsten Verhältnissen - und wir waren die einzigen, die Schulgeld zahlten. Nicht einen Augenblick bereiteten Felix diese einfachen Umstände Abneigung oder inneren Widerstand; er fügte sich problemlos ein und fühlte sich pudelwohl. Wie konnte das sein?

Alles war sehr anders, aber doch fühlte er sich gleich heimisch. Er lernte mit Begeisterung unter anderem noch einmal das Einmaleins und das Bruchrechnen (für eine richtig aufgesagte Reihe gab es EINE Murmel, die wie eine Trophäe mit nach Hause gebracht wurde), das Schönschreiben, die Entdeckung Brasiliens (im Fach Geschichte), das Leben der Menschen und die Eigenart der Umgebung (im Fach Heimatkunde), das Christgeburt- sowie das Drei-Königs-Spiel – alles auf portugiesisch -, aber in Methodik und geistigem Hintergrund doch vertraut aus der Heimatschule.

 

Ivanildo

In die Klasse ging auch unser 15-jähriger Ivanildo, den wir adoptierten und der mit 12 km Fußweg durch Wald und Flur an keinem einzigen Tag fehlte. Die Schule war für ihn in seinem schwierigen sozialen Umfeld der einzige Lebensanker. Er wurde erst mit 10 Jahren eingeschult in eine Landschulklasse, die die ersten vier Grundschuljahre umfasste. Als er 2001 in die 3. Klasse kam, wurde diese eben zu der Walddorfschule, nun in 4 Klassen aufgeteilt. Die sich daran anschließenden 3. und 4. Klasse öffneten diesem Jungen eine neue Welt.

Niemals zuvor hatte er einen Wachsstift oder ein Blatt Papier zum Bemalen gesehen, geschweige denn einen Tisch gehabt, um ihn dafür zu benutzen, kein Fernsehen, keine Medien, durch die man die Welt hätte kennen lernen können. Die Lieder, Rezitationen, kleinen Spiele auf den Schulfeiern, Weihnachtsspiele, Schulfeste, sowie der geistige Hintergrund der Inhalte sowie die Persönlichkeit der deutsch-brasilianischen Lehrerin machten ihn jedoch empfänglich für vieles Neues und auch für die vielfältigen menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten, so dass man den Eindruck haben könnte, dass er nur darauf wartete, an die Kultur der alten Welt herangeführt zu werden.

 

Die Rückkehr zur Waldorfschule in der Heimat

Kurz vor den Sommerferien sind wir nach Deutschland zurückgekehrt (bzw. angekommen für Ivanildo, der kein Wort Deutsch konnte).
Er hat aus Brasilien wirklich GAR NICHTS mitgebracht außer seinen Epochenheften, die im Handarbeitsunterricht selbst gehäkelte Tasche und das selbst genähte und bestickte Stiftemäppchen – dies sind seine wichtigsten Erinnerungen.

In welche Klasse sollte aber unser 15-jähriger Brasilianer gehen, der erst 4 Jahre zur Schule gegangen war und dazu kein Wort Deutsch spricht? Nach intensiven und zum Teil sehr dichten Gesprächen sind wir gemeinsam mit den Lehrern zu der schwerwiegenden Entscheidung gekommen, ihn mehr oder weniger altersgemäß in die 8. Klasse zu geben - Wissen kann man mit Eifer und Begabung nachholen, nicht aber altersgemäß die Inhalte.
In Riesenschritten und voller Eifer holt Ivanildo nun die versäumten Entwicklungsschritte nach und lernt dabei noch Deutsch – dafür ist er zunächst auch vom Englisch- und Französischunterricht befreit und wird in dieser Zeit von Herrn Wolter bzw. Herrn Hesse liebevoll betreut. An welcher anderen Schule wäre so ein „Experiment“ möglich – ein individuelles Eingehen auf die Bedürfnisse eines Kindes in einer 38 Kinder umfassenden Klasse?

Wir danken der Lehrerschaft und insbesondere Herrn Daecke, aber auch allen lieben Betroffenen und Mitdenkenden in der Schulgemeinschaft, dass man dieses gewagte Experiment eingegangen ist, und wir setzen alle guten Gedanken darauf, dass es glückt.

Beide Jungens interessieren sich gegenseitig für all das, was der andere macht, obwohl sie in andere Klassen gehen. So entstehen z.B. erstaunliche geometrische Figuren, die unterschiedlich und kreativ konstruiert und farblich gestaltet werden. Sie lieben es, die Bilder und Epochenhefte der älteren Halbgeschwister und Schüler/Innen anzusehen und ihnen nachzueifern.

Noch an keinem Tag in der gesamten Schulzeit sind sie ungern in die Schule gegangen und stürmen morgens ganz früh aus dem Haus. Sie kommen erfüllt nach Hause und machen nach dem Mittagessen die Hausaufgaben mit größter Selbstverständlichkeit – wobei beide weder fleißig noch strebsam sind!

Natürlich sehen auch wir einige Dinge manchmal mit einem kritischen Auge, aber wir sind sehr glücklich, dass es diese Schulen für unsere Kinder gibt – einen herzlichen Dank an alle Lehrerinnen und Lehrer beiderseits des Atlantiks!

Ihr Kommentar