Erfahrungen mit den Zeugnissprüchen
Ein Beitrag von Horst Hellmann
Zum Textzeugnis erhalten die SchülerInnen vom ersten bis siebenten Schuljahr vom Klassenlehrer einen Spruch, der sie das Jahr hindurch begleitet. Aus meiner jahrzehntelangen Erfahrung möchte ich einiges davon berichten.
Da für mich das Schreiben des Zeugnisses und das Dichten so sehr verschiedene Arbeitsweisen sind werden in den Osterferien die Sprüche gedichtet und in den Pfingstferien die Zeugnisse entworfen. Danach vergleiche ich beide Zeugnisse, ob sie sich in der Kernaussage decken; meistens ergibt sich in den wesentlichen Punkten eine Übereinstimmung.
Wie entstehen die Sprüche? - Ich konzentriere mich auf das Kind und versuche abzuspüren, wie sein Temperament ist, wie der Wille sich äußert, ob es ängstlich ist, wie es mit den Gefühlen umgeht, wie es mit seinen Formkräften bestellt ist und so ließen sich noch viele Gesichtspunkte anführen. Jetzt entsteht innerlich entweder ein Bild, ein Klang, eine Farbe oder ein Rhythmus, dem ich nachgehe und woraus der Spruch sich formt. Manchmal trifft man in der Literatur auf ein passendes Motiv oder einen Spruch, der einen inspiriert.
Wenn ein Kind oder die Eltern gar keine Beziehung zu dem Spruch entwickeln konnten und Widerwillen hatten, was selten vorkam, dann machte ich kurzerhand einen neuen Vers, mit dem sich das Kind verbinden konnte: es hat immer positiv gewirkt.
Wie lässt sich mit den Kindern an den Versen arbeiten? Manche Lehrer halten sich an die Wochentage der Geburt, an denen sie den Spruch aufsagen lassen, ich habe es nie getan, es hätte mich zu sehr eingegrenzt; nur in der zweiten Klasse habe ich mich an bestimmte Tage gehalten, an denen das Kind wusste, das es dran war, weil mir der Wochenrhythmus wichtig war. Später arbeitete ich unter sehr verschiedenen Aspekten, von denen einige hier angeführt werden: Es kann sein, dass ich ein Kind seinen Vers jeden Tag aufsagen lasse, bis es den Text, den Rhythmus oder ein Wort sicher beherrscht. Das ist aufweckend und erfüllt alle mit Freude, wenn es schließlich gelungen ist. Dabei ist es wichtig, dass alle in der Klasse immer gut zuhören. Beim Aufsagen steht das Kind nicht unbedingt vor der Klasse, es gibt viele Plätze von denen aus gesprochen werden kann, sogar von draußen.
Für die Arbeit mit dem Kinde am Spruch braucht es viel Fantasie, um das Interesse zu erhalten und um ihm weiterzuhelfen. Einem Mädchen, dass beim Aufsagen nicht recht anwesend war und das zu schnell sprach, war es eine Hilfe, als sie zu bestimmten Worten schreiten musste und bei anderen stehen zu bleiben hatte, bald blieb sie nicht mehr stecken und es konnte an der Intonation gearbeitet werden. Ein anderes Kind durfte auf einen Rollbrett stehend sprechen, dabei das Gleichgewicht suchend, wodurch eine innere Ruhe entstand. Manchmal achte ich beim Üben nur auf ein Wort, eine Endung, eine Zeile, eine Wortart usw. An manchen Tagen darf jedes Kind seinen Spruch vortragen oder in immer neuen Gruppierungen zusammenstehen. Dann wieder wird am Inhalt gearbeitet, an den Empfindungen oder ich frage, wer heute gerne vorsprechen möchte; die Kinder dürfen raten, wer dran ist, indem ich den Rhythmus des Spruches klatsche usw. Wenn ein Kind z.B. mehr Wachheit entwickeln soll, muss es einige Wörter anders betonen lernen; das ist eine Änderung von Gewohnheiten, welches u.a. auch die Lebenskräfte des Menschen stärkt.
Für die höheren Klassen habe ich die Sprüche nur selten selber gemacht, sondern habe, je nach dem Themenschwerpunkt, Weisheitssprüche aus den Weltkulturen genommen, die uns einen großen, weiten Umkreis eröffnen konnten.
Abschließend ist aus meiner Erfahrung festzustellen, dass die Zeugnissprüche eine geniale Ergänzung des Zeugnisses sind, das in erster Linie für die Eltern geschrieben wurde und welche ihrem Kinde die relevanten Aussagen des Textzeugnisses mündlich vortragen sollten. Der SPRUCH dagegen richtet sich unmittelbar an das Kind, er ist sein individuelles Zeugnis!
Weil an dem Spruch das ganze Jahr hindurch gearbeitet wird, ist das Zeugnis in seiner Essenz immer präsent, jedoch nicht als moralischer Zeigefinger, sondern, wenn es gelingt, als „Arbeit im Gewande der Freude“.