Michaeliansprache und -geschichte

Ein Beitrag von Thomas Storcks

Michaelifeier in den Werkstätten Gottessegen 2022
(Teile der Begrüßung sind sicherlich eher für ältere Schüler geeignet, einige Gedanken können aber vielleicht auch für jüngere verwendet werden)

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, (Anm. der Redaktion: In dieser Werkstatt für "Menschen mit Behinderungen" werden die beschäftigten MitarbeiterInnen ebenfalls mit "KollegInnen" angesprochen)

ich freue mich sehr, Euch heute zur Michaelifeier begrüßen zu dürfen. Zunächst möchte ich allen Helfern einen herzlichen Dank aussprechen…

Manchmal gibt es leider Situationen, da begegnet uns in irgendeiner Weise etwas Böses: Da ist jemand gemein, ungerecht, vielleicht sogar auf irgendeine Weise grausam. Das kann in der Freizeit, der Nachbarschaft, vielleicht sogar in der Familie/ Verwandtschaft oder hier bei der Arbeit sein. Auf jeden Fall kennen viele das aus den Nachrichten der großen, weiten Welt. Da gibt es ja zurzeit leider nicht nur diesen traurigen Krieg in der Ukraine, sondern schon lange auch noch viele andere Probleme und Streitigkeiten. Die sind dann oft so eskaliert, weil Menschen zu Waffen gegriffen haben.

Da kann man sich jeweils fragen: „Was kann ich denn da tun?“ Oder auch: „Was können wir tun, ohne selber dabei böse oder gemein zu werden?“

Wenn wir jetzt Michaeli feiern, dann denken wir an den Erzengel Michael und ehren ihn. Der Erzengel Michael ist besonders bekannt für seinen Kampf mit dem Drachen. Dieser Kampf steht ja für die Auseinandersetzung zwischen dem Guten und dem Bösen… Aber es ist für viele heutzutage schwer, sich diesen Drachenkampf konkret vorzustellen. Etwas leichter geht das bei dem Kampf des Ritters Georg mit dem Drachen. Der Ritter ist immerhin schon einmal menschlich. Das Geschehen und Mut, Kraft und Haltung des Ritters Georg sind genauso wie bei Michael. Der Erzengel ist dem Ritter Sankt Georg bei dessen Kampf sicherlich zur Seite gestanden.

Um noch besser verstehen zu können, was das konkreter bedeuten kann, möchte ich Euch die Geschichte „Die Kerze“ von Leo Tolstoi erzählen. Leo Tolstoi ist einer der großen russischen Erzähler. Er hat so bedeutende Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King inspiriert. Und die beiden haben gewaltfrei gekämpft, wodurch sie wiederum für viele andere Menschen zu wichtigen Vorbildern geworden sind. Der eine hat die vielen Menschen im großen Indien zu Freiheit und Unabhängigkeit geführt, der andere die dunkelhäutigen Menschen in Amerika zu Recht und Freiheit. Die Wege, die sie gegangen sind, zeugen von einer großen Hoffnung, von enormer innerer Kraft und dann brauchten sie auch großen Mut! Und so waren ihre Wege auch von Schönheit, Vertrauen und Klarheit geprägt – und von einem Licht, das trotz aller Widerstände ohne zu flackern hell leuchtete!

Mut aufzubringen (also sich zu überwinden, etwas Neues oder Schwieriges zu tun) kann man üben. Und dieses Üben kann einem in späteren Situationen, wenn es mal drauf ankommt, hilfreich sein. Dann kann man den notwendigen Mut vielleicht leichter aufbringen. Darum haben wir für Euch einige Mutproben vorbereitet, die ihr gleich ausprobieren könnt…

Neben dem Mut/ mutig sein, kann man im Alltag auch üben, sich bewusst für das Gute und gegen das Böse zu entscheiden. In jedem Moment kann man eigentlich die Dinge so oder so tun. Wenn man da das Gefühl hat, ohne Kraft und Mut zu sein, kann sich jede und jeder jederzeit an den Erzengel Michael wenden und ihn um Hilfe bitten!

Ehe ich nun mit der Geschichte beginne, die ich etwas gekürzt und ganz leicht verändert habe, möchte ich noch kurz etwas zum weiteren Ablauf sagen… und dann treffen wir uns um 15 h wieder, um noch zum Abschluss etwas gemeinsam zu singen und wer mag, kann ja auch noch etwas von den Mutproben berichten.

 

Die Kerze

Die Erzählung handelt in Russland, zu einer Zeit als es noch Herren und Leibeigene gab. Auf dem Gut eines Adligen wurde ein besonders ungerechter und grausamer Verwalter eingesetzt. Die Bauern, die für ihn arbeiten mussten, nutzte er auf üble Weise aus. Diese überlegten deswegen schon, ihn zu töten. Sie dachten, dass das bei so einem bösartigen Menschen ja auch keine Sünde sein könne.

Eines Tages war es dann soweit. Sie waren fest entschlossen. Dann kam er aber angeritten und war schon von weitem fluchend zu hören. Er drohte, sie auspeitschen zu lassen, wenn sie nicht besser arbeiten würden. Da bekamen sie Angst, zumal er einem direkt mitten ins Gesicht geschlagen hatte. Danach ärgerten sie sich über ihre Feigheit. Als die Karwoche gekommen war, ließ dieser Verwalter sagen, die Bauern sollten sich bereithalten. In der Osterwoche müsste evtl. das herrschaftliche Haferfeld umgepflügt werden. Die Bauern fühlten sich um ihr gutes Recht betrogen und begannen zu murren: „So weit hat er schon Gott und sein Gebot vergessen, dass er eine solche Sünde von uns verlangt. Jetzt sollte man ihn wirklich erschlagen.“

Auch Wanja Petrow war gekommen. Still und friedfertig wie er war, konnte er aber nicht damit einverstanden sein, was die aufsässigen Bauern planten. Lange hörte er sich an, was die anderen redeten. Dann sagte er: „Eine große Sünde habt ihr im Sinn, liebe Brüder! Einen Menschen umzubringen ist nicht schwer. Was tut ihr aber damit eurer Seele an? Ins Verderben bringt ihr sie damit! Gewiss tut der Verwalter böses – nun, Böses wird er auch erleiden müssen. Uns aber kommt es zu, Geduld zu haben und das zu tragen, was uns auferlegt wird. So denke ich darüber, liebe Brüder!“

Ärgerlich fuhr Igor, der besonders unter dem Verwalter zu leiden hatte, auf: „Immer schwatzt Du dasselbe: Sünde, Sünde! Natürlich ist es Sünde, einen Menschen zu töten. Aber was ist denn der Verwalter für ein Mensch! Töte ich einen guten Menschen, dann begehe ich eine schwere Sünde. Aber so ein Vieh umzubringen, das befiehlt uns Gott selbst. Auch einen tollwütigen Hund wirst Du erschlagen um der Menschen willen. Nein, wir sündigen nur, wenn wir diesen Bösewicht am Leben lassen. Wieviele Menschen wird er noch zugrunde richten? Es wäre ja auch eine Sünde, an Christi Feiertag zu arbeiten! Du wirst da als erster nicht zur Arbeit gehen!“

„Aber natürlich werde ich arbeiten!“ antwortete Wanja Petrow. „Befiehlt er mir zu pflügen, dann werde ich pflügen. Ich tue es ja nicht um meines eigenen Vorteils willen. Gott aber weiß, wessen Sünde das ist. Was ich euch sage, das sind ja nicht meine eigenen Gedanken. Hätte uns Gott befohlen, das Böse in der Welt dadurch zu vertreiben, dass wir selber Böses tun, dann würde es auch in der Bibel stehen. Dort aber lesen wir es anders. Du meinst, Du hättest die Welt von einem bösen Menschen befreit. Du glaubst, etwas Böses vernichtet zu haben und merkst nicht, wie du in dir selbst mehr Böses geschaffen hast, als vorher in der Welt war. Beuge Dich vor dem Bösen, dann wird sich das Böse vor dir beugen!“ So waren die Bauern verschiedener Meinung. Die einen waren eines Sinnes mit dem Igor, die anderen standen zu den Worten des Wanja Petrow.

Am Ostersonntag ruhte im Dorf jede Arbeit und die Bauern feierten Ostern, die Auferstehung des Herrn. Am Abend jedoch ging der Stellvertreter des Verwalters mit seinen Schreibern von Haus zu Haus und sagte: „Boris Iwanow, der Verwalter, befiehlt, morgen früh das herrschaftliche Haferfeld zu pflügen.“

Die Bauern klagten und murrten, doch wagte keiner, den Gehorsam zu verweigern. Alle fuhren sie am nächsten Morgen auf das Feld hinaus. Von der Kirche klingt festliches Geläute, die Glocken rufen zur Ostermesse, die Bauern aber pflügen.

Nach einem späten, ausgiebigen Frühstück horcht Boris Iwanow, der Verwalter, seinen Stellvertreter aus, ob die Bauern auch gute Arbeit leisten. Da er von der Antwort seines Stellvertreters aber nicht ganz überzeugt ist, sagt er zu ihm: „Fahr aufs Feld hinaus und sage den Bauern, dass ich nach dem Mittagessen hinkomme. Je zwei Mann sollen einen Hektar pflügen! Finde ich etwas auszusetzen, dann kenne ich auch am Feiertag keine Nachsicht!“

Außerdem trägt er ihm auf, die Bauern auszuhorchen, wie sie über den Verwalter denken und reden. Die Frau des Verwalters hatte alles gehört, was ihr Mann mit dem Stellvertreter besprochen hatte. Sie kam zur Tür herein und begann, für die Bauern zu bitten, denn sie war eine gutherzige Frau. „Mein lieber Boris“, sagte sie, „versündige dich nicht an diesem hohen Festtag. Um Christi Willen bitte ich dich, schick die Bauern heim!“

Boris Iwanow lachte nur über die Worte seiner Frau: „Es ist wohl schon lange her, dass du Schläge bekommen hast. Kühn bist du geworden, mischst dich in Sachen ein, die dich nichts angehen.“ „Boris, lieber Freund, ich habe schlecht von dir geträumt. Hör auf mich, schick die Bauern nach Hause!“ „Und ich sage dir, Alte, dass du wohl zu viel Fett angesetzt hast. Halte dich da raus!“

Voller Zorn stieß der Verwalter seine Frau an, jagte sie zur Stube hinaus und rief nach dem Mittagessen. Er speist ausgiebig, in großen Mengen die feinsten Köstlichkeiten. Mit dem Essen fertig, ruft er nach der Köchin. Diese ist Igors Frau. Sie war vom Verwalter gezwungen worden, für ihn zu arbeiten. Er befiehlt ihr, ihm vorzusingen. Er selber aber nimmt seine Gitarre zur Hand und begleitet sie. So sitzt Boris Iwanow da, fröhlich und guter Laune, klimpert auf den Saiten herum, rülpst und schäkert mit der Köchin. Da tritt der Stellvertreter zur Tür herein, verneigt sich und beginnt zu erzählen, was er auf dem Feld gesehen hat.

„Nun, was gibt’s? Pflügt die faule Bande? Sind sie bald fertig?“ „Schon mehr als die Hälfte haben sie geschafft.“            „Ohne Fehler?“ „Ich habe keinen gesehen. Sie pflügen gut, zittern vor Angst.“ „Ist die Erde auch locker genug?“ „Die Erde ist weich, bröckelt wie Mohn.“

Der Verwalter schwieg eine Weile. Dann fuhr er fort: „Nun, und was reden sie von mir? Sie schimpfen wohl gewaltig?“  „Sie murren, Boris Iwanow, murren tun sie.“ „Ja, was reden sie denn? So erzähl doch schon!“ „Eines sagen sie: er glaubt nicht an Gott!“

Der Verwalter lachte: „Wer hat das gesagt?“ fragt er. „Ja, alle sagen es. Sie sagen auch, er hat sich dem Bösen unterworfen.“ Wieder lachte der Verwalter: „Das ist nicht schlecht. Nun aber will ich wissen, was jeder einzelne von mir redet. Was sagt da zum Beispiel der Igor?“

Nun wollte der Stellvertreter bestimmt nichts gegen die Bauern sagen, die ihm nahe standen, doch mit dem Igor war er schon seit langem spinnefeind. Und so redete er denn ohne Hemmungen weiter: „Igor schimpft am ärgsten von allen. Er sagt, ihr werdet noch eines plötzlichen Todes sterben - ohne Beichte und ohne Beistand.“

Da lacht Boris Iwanow noch mehr und will dann wissen, was die anderen sagen.  “Alle murren sie“, erwidert der Stellvertreter, „alle drohen.“ „Nun, und was tut Wanja Petrow? Was redet der? Der schimpft wohl auch gewaltig, das Mistvieh?“ „Nein, Boris Iwanow. Wanja Petrow schimpft nicht.“ „Was tut er denn?“ „Er ist der einzige, der nichts gesagt hat. Ein seltsamer Mann ist das. Ich habe mich sehr über ihn gewundert, Boris Iwanow.“  „Wieso?“ „Ja, darüber, was er getan hat. Alle wundern sich darüber.“ „Was hat er denn angestellt?“

„Ich weiß gar nicht, wie ich es erzählen soll, so seltsam ist das alles. Ich reite zu ihm hin – er pflügt den schiefen Acker am Türkenberg. Schon von ferne höre ich es: es singt jemand, so schön, so künstlerisch, und am Pflug leuchtet etwas zwischen den Deichseln.“ „Und weiter?“ „Es leuchtet wie ein Feuer. Wie ich näher komme, sehe ich eine große Wachskerze, die er am Querholz befestigt hat. Die brennt hell und flackert nicht im Wind. Er aber geht im sauberen Hemd hinter dem Pflug, arbeitet und singt. Die Kerze verlöscht aber auch dann nicht, wenn er den Pflug wendet und die Erde vom Pflug abschüttelt.“

„Hat er etwas zu dir gesagt?“ „Als er mich sah, tauschte er mit mir den Osterkuss und sang dann weiter.“ „Und was habt ihr miteinander geredet?“ „Ich habe nichts gesagt, aber als die anderen Bauern hinkamen, lachten sie über ihn. Sein Leben lang wird er es nicht büßen können, sagten sie, dass er in der heiligen Osterwoche gepflügt hat.“ „Und was gab er ihnen zur Antwort?“ „Er sagte nur: ‘Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!‘ Dann packte er den Pflug, trieb sein Pferd an und begann mit dünner Stimme wieder zu singen. Die Kerze aber brannte ruhig im Wind und flackerte nicht.“

Da hörte der Verwalter auf zu lachen und versank in tiefes Nachdenken. So saß er eine ganze Weile. Dann hieß er die Köchin gehen und schickte auch den Stellvertreter fort. Er legte sich hinter den Vorhang auf sein Bett und begann zu jammern und zu stöhnen. Die Frau des Verwalters kam gelaufen und fragte ihn, ob ihm etwas fehle. Aber er gab keine Antwort darauf und sagte nur: „Besiegt hat er mich! Jetzt ist die Reihe an mir!“

Die Frau redete ihm gut zu: „Fahr doch aufs Feld hinaus und lass die Bauern endlich heimgehen. Vielleicht wird dann alles besser. Du kanntest doch sonst keine Angst, wovor fürchtest du dich denn jetzt?“ „Ich bin verloren“ war das einzige, was der Verwalter sagte, „er hat mich besiegt.“ Die Frau verlor die Geduld: „Was schwatzt du immer dasselbe: ‘besiegt, besiegt‘. Fahr besser hin und gib die Bauern frei, dann wird schon nichts geschehen. Los, mach dich fertig! Ich lasse dein Pferd satteln.“ Endlich hatte sie ihren Mann so weit, dass er die Bauern nach Hause schicken wollte.

Boris Iwanow bestieg sein Pferd und ritt durch das Tor auf die Dorfstraße hinaus. Kaum hatte man ihn dort erblickt, da war im Handumdrehen die Straße leer. Alles flüchtete vor ihm. So ritt der Verwalter durch das menschenleere Dorf zum zweiten Tor, das aufs freie Feld führte. Dieses Tor aber war verschlossen und vom Pferd aus konnte der Verwalter es nicht öffnen. Da auf all sein Rufen keine Menschenseele erschien, musste er vom Pferd absteigen, um selber das Tor zu öffnen. Als er sich dann wieder aufs Pferd schwingen wollte – einen Fuß hatte er schon im Steigbügel und wollte gerade sein Bein hinüber werfen –, da scheute sein Pferd wegen eines Schweines, das gelaufen kam. Der Verwalter, dick und schwer wie er war, verlor das Gleichgewicht. Er fiel auf die Erde und verblutete.

Als die Bauern vom Pflügen heimkamen, schnaubten ihre Pferde vor dem Tor und wollten nicht weiter. Die Bauern stiegen ab, um nachzusehen, wovor die Tiere scheuten. Sie erblickten den toten Boris Iwanow und erschraken sehr. Nur Wanja Petrow ging an den toten Verwalter heran. Dann luden er und sein Sohn vorsichtig den Leib des Toten auf ihren Wagen und brachten ihn zum Herrenhaus.

Als der Gutsherr erfuhr, was sich zugetragen hatte, versuchte er die Schuld des Verwalters wieder gut zu machen und schenkte den Bauern die Freiheit. Da verstanden die Bauern, dass Gottes Kraft nur in dem ist, der durch Güte das Böse zu besiegen versucht.

Leo Tolstoi (bearbeitet von Thomas Storcks)

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