Ein Fest des Wiedersehens

Eine Pfingstgeschichte von Franka Paul

Für meine 4. Klasse wollte ich den zentralen Gedanken des Pfingstfestes - Gemeinschaft im Zeichen des Individualismus - in ein Bild fassen. Daraus entstand die folgende Geschichte. 

„Auf einem alten, aber gut gepflegten Hofe am Fuße eines Gebirges wohnten ein Mann und eine Frau. Sie hatten drei Söhne, die tüchtig waren und ihnen wohl gefielen. Als sie noch klein waren, erzählte der Vater abends oft lange Geschichten von wilden und zahmen Tieren, von Abenteurern, die die Welt bereisten, von Menschen, die es schwer hatten in ihrem Leben und doch nicht aufgaben, ihr Glück zu suchen. Die Söhne hingen mit leuchtenden Augen an seinen Lippen und liebten ihren Vater über alles. Hatte einer von ihnen Kummer, so fanden sie bei der Mutter ein offenes Ohr und ein großes Herz. Man brauchte sich nur an ihren weichen Rock zu schmiegen, schon war alles nur noch halb so schlimm und wenn sie sich niederbeugte und einen mit ihren klaren, freundlichen Augen ansah, so konnte man nicht mehr traurig sein.

Jahraus, jahrein trieben sie das Vieh auf die Almen, säten Getreide aus, das sie im Sommer schnitten und ausdroschen. In einem großen Garten rund um das Haus wuchs alles, was man zum Essen brauchte und wunderschöne Rosen rankten an der Hauswand empor. Ihr Duft zog bis in die Bauernstube hinein. Im Herbst holten sie die Früchte des Feldes und der Bäume ein und im Winter hatten sie Freude an der Behaglichkeit von Stall und Stube.

So ging es eine lange Zeit und obwohl die Söhne inzwischen groß geworden waren, trug sich keiner von ihnen mit dem Gedanken, einmal fortzuziehen. Es war ja genug für alle da: Arbeit für den ganzen Tag, Nahrung, die gute Lebenskräfte gab, das fröhliche Gemüt der Mutter und die lebendigen Geschichten, die der Vater erzählte – es fehlte ihnen an nichts.

Doch dann legte sich eine Krankheit über das Land, die auch Vater und Mutter befiel und ihrem Leben innerhalb kurzer Zeit ein Ende bereitete. Die Söhne waren untröstlich. Jeden Tag gingen sie ins Dorf zum Friedhof, um das Grab ihrer Eltern mit den schönsten Blumen zu schmücken. Auch erzählten sie die Geschichten des Vaters nach und versuchten, sie so spannend und bilderreich zu erzählen, wie es der Vater immer getan hatte. Auch die Fröhlichkeit der Mutter und ihre tröstenden Worte wollten sie nie vergessen. So achtete jeder gut auf die beiden anderen, ja, das Wohlergehen der Brüder war jedem wichtiger als das eigene.

Und doch war es nicht mehr so wie früher. Seit die Eltern gestorben waren, herrschte eine Leere im Haus, die sie nicht ausfüllen konnten. Und in diese Leere schlichen sich Sorgen, Zweifel und Unzufriedenheit ein. Zunächst lebten sie weiter wie vorher, aber sie wurden immer rastloser und die Abende, an denen sie beisammensaßen, sich Geschichten erzählten und der Eltern gedachten, wurden seltener. Jeder begann, in seinem eigenen Rhythmus zu leben. Der eine stand erst spät am Tage auf, weil er nachts nicht gut schlafen konnte, der andere wollte nur noch im Garten sein und sich dort im Duft der Rosen in die Vergangenheit zurückträumen. Der dritte arbeitete wie ein Besessener, so dass ihm, kaum dass das Abendbrot vorbei war, die Augen zufielen.

Doch so sehr sich auch jeder sein eigenes Leben suchte, keiner von ihnen war zufrieden damit. Was sollte das alles für einen Sinn haben? Das Band, das Vater und Mutter um die Familie gespannt hatten, war zerrissen, jeder stand für sich alleine da. Als sie schließlich begannen, sich zu streiten, war es mit dem Frieden endgültig vorbei. Sie sprachen zwar noch miteinander, aber sie verstanden sich nicht mehr. Jeder war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er dem anderen noch hätte zuhören wollen.

Da machte sich eines Tages der Träumer auf den Weg, sein Glück zu suchen. Auch der Langschläfer hielt es in seinem Bette nicht mehr aus und wollte seinen Platz anderswo suchen. Schließlich gab auch der dritte den Hof auf, bat die umliegenden Bauern, nach dem Vieh zu sehen und machte sich auf die Reise.

Jeder versuchte sein Glück auf seine Weise. Der Träumer begann, Bilder zu malen und Kunststücke aufzuführen. Er lernte andere Gaukler und Spaßvögel kennen und sah viel von der Welt. Der Langschläfer begann in seinen schlaflosen Nächten zunächst das Glücksspiel, verlor viel Geld, musste sich verschulden und weil er die Schulden nicht zurückzahlen konnte, kam er für eine Zeit ins Gefängnis. Danach zog er ohne feste Bleibe umher, half hier und dort für ein Essen und einen Schlafplatz, begegnete freundlichen und unfreundlichen Menschen und erfuhr vieles von ihnen. Der dritte schließlich lernte das Schreinern, zog als Geselle durch die Welt, war ein geschickter Handwerker, aber auch er hielt sich nirgendwo länger als nötig auf.

Den Brüdern ging es nicht schlecht und dennoch ließ sie die Heimatlosigkeit manchmal fast verzweifeln. Wo war ihr Platz in dieser Welt? Wo war das Glück, das sie mit Vater und Mutter erlebt hatten? Wo würden sie finden, wonach sie suchten? Diese Fragen machten ihnen manches Mal das Leben schwer. Doch es gab etwas, was ihnen den Glauben am Leben aufrechterhielt: Der stetige Wechsel der Jahreszeiten, die Verlässlichkeit der Natur, die jeden Frühling aufs Neue alles wachsen und blühen ließ, die durch die Hitze des Sommers Korn und Früchte reifen ließ, deren Herbststürme aufräumten mit allem, was verdorrt auf der Erde lag und schließlich mit dem Schnee den Winterschlaf brachte, die Ruhe nach einem vollen Jahr, um mit neuen Kräften das Frühjahr zu beginnen. All das hatten sie gemeinsam mit Vater und Mutter kennen und lieben gelernt. – Wie es wohl den beiden anderen erging, dachte jeder für sich hin und wieder.

Viele Jahre waren ins Land gezogen. Wieder war es Frühling geworden. Ostern wurde gefeiert. Und mit dem Auferstehungsfest grünte und blühte das ganze Land. Auch den Brüdern waren frische Kräfte erwachsen. Die Sonnenstrahlen wärmten die Erde mit zunehmenden Kräften. Schon bald blühten auch die Rosensträucher in leuchtenden Farben und verströmten ihren Duft. War es das, was die drei Söhne berührte, was sie an die alte Heimat denken ließ und weshalb sie schließlich den Heimweg antraten? So näherten sie sich aus unterschiedlichen Richtungen der gleichen Gegend. In den Dörfern wurde Himmelfahrt gefeiert, das Fest, das die Jünger in Zweifel gestürzt hatte, weil Christus nun nicht mehr bei ihnen war. Auch die Brüder, jeder für sich, war sich nicht sicher, ob es ein guter Gedanken gewesen war, einen festen Platz im alten, leeren Elternhaus zu suchen.

Es war am Pfingstsonntag, als sie schließlich am Hofe eintrafen. Sie waren kaum erstaunt, sich wiederzusehen, war doch das brüderliche Band aus Zuneigung und Vertrauen zwischen ihnen in all den Jahren nicht gerissen. Schweigend saßen sie zunächst in der alten Stube, dann öffneten sie die Fenster, ließen Sonne und Wärme hinein und fegten den Staub hinaus. Nun machte sich der eine an den zugewachsenen Garten, dessen Umrisse sich gerade noch erkennen ließen. Mit Kraft und Geschickt befreite er die Erde von Unkraut und wildwachsenden Büschen. So kamen auch die Rosen wieder hervor und mit ihnen auch jene Rosen, die gerade an Pfingsten blühten mit ihren prächtigen, dicken Blütenköpfen in dunklem Rot, zartem Rosa oder in Weiß. Ein anderer holte das Vieh wohlbehalten zurück. Geschickt ersetzte er die morschen Balken durch neue, kräftige. Der dritte holte den Pflug hervor, um die Äcker zu bebauen. Sie sprachen kaum miteinander, aber sie wussten, was ein jeder von ihnen fühlte: es war gut, nach den langen, trostlosen und einsamen Jahren wieder beisammen zu sein. Und, auch das fühlten sie, es war gut, in der Fremde gewesen zu sein und den eigenen Weg, so mühsam er auch oft gewesen war, zu suchen, um sich schließlich wiederzusehen und neu zu beginnen. Alles, was sie erfahren und gelernt hatten, war ein großer Reichtum. Auf dem Hof entstand nun eine große Vielfalt: Einer der Brüder wurde Gärtner. Auf seinen Beeten wuchsen die schönsten Blumen der Gegend und auf einer Wiese daneben herrschte buntes Treiben, wenn fahrendes Volk vorbeikam, dort rastete und seine Kunsttücke darbot. Eine Schreinerei entstand, in deren kunstvollen Werkstücken man die Reise des Schreiners durch die Welt erahnen konnte. Der dritte Bruder führte den Hof und sorgte dafür, dass alles gut zusammenstimmte. 

Und wieder zogen ein paar Jahre durchs Land, da gab es neues Leben auf dem Hof: Frauen und Kinder belebten den guten Ort. Nun waren die Brüder selbst zu Vätern geworden und nach getanem Tagewerk erzählten sie ihre eigenen Geschichten. Die Kinder hingen mit leuchtenden Augen an ihren Lippen. Und wenn die Pfingstrosen blühten und die Kirchglocken das Pfingstfest einläuteten, feierten sie ein großes Fest, den Tag ihres Wiedersehens und Neubeginns."

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