Der Wille zum Gespräch

Ein Beitrag von Reinhard Elsler (Waldorfschule Flensburg)

Kennen Sie „die Wette” von Blaise Pascale? Dieses Gedankenspiel. Dieser sehr ernst gemeinte Versuch, zu beweisen, dass es nur allzu vernünftig ist, an Gott zu glauben, weil man nur im Glauben an Gott und im Befolgen seiner Gebote nach dem Tode auf seinen verdienten Lohn (ewiges Leben) hoffen kann. Denn – so geht die Wette weiter – wenn man darauf wettet, dass es einen Gott nicht gibt und ein entsprechend gottloses Leben führt, dann hat man nur die Wahl zwischen ewiger Verdammnis (durch Gott) oder dem „Nichts”. Ein durchaus schlauer Versuch, Gott wie die beste Aktie am Markt erscheinen zu lassen, mit der man die höchste Rendite erzielt. Aber über der ganzen Wette schwebt eine andere, ungeklärte Frage: Was bedeutet es, ein gottgefälliges Leben zu führen? Reicht es aus, allen „Sünden" aus dem Weg zu gehen oder gilt es, noch andere Anforderungen jenseits einer konsequenten Vermeidungsstrategie zu erfüllen? Ein „Leben im Kloster” wäre eine Entscheidung gegen die Fülle des Lebens aus Angst vor den lauernden Gefahren.

Ich kenne keine Kultur, die sich aus einem „Dagegen” gespeist hat. Große Kulturen wollen das Leben mit all seinen Blüten zur Entfaltung bringen. Gerade jetzt, wo wir von einer Protestwelle nach der anderen geradezu überrollt werden [gemeint waren u.a. die Anti-AFD-Demos im Frühling 2024], kann man spüren, wie wichtig es ist, dass wir weniger das Dagegen artikulieren als vielmehr uns darin üben, dasjenige zu formulieren, wofür wir eintreten wollen. Die großen Demonstrationen der letzten Wochen, die aus einem „gemeinsamen Feind” ihre Kraft und Geschlossenheit gewonnen haben, hatten in der Formulierung dessen, wofür sie einstehen wollen, ihre größte Strahlkraft. Aber je lauter und aggressiver gesprochen oder gar gebrüllt wurde, umso kälter wurde es. Abgrenzung bis zum Hass erzeugt Eiseskälte. Nur in der positiven Beschreibung, wofür ich eintreten möchte, kann Wärme, Verständnis und Nähe entstehen. Es macht einen Unterschied, ob ich den anderen schlicht weghaben will oder ob ich meine Angst vor der fremden Sprache, Religion oder Kultur formuliere, zu der ich keinen Zugang finde. Ängste, die man benennt, kann man bearbeiten. Und wenn der Andere meine Ängste weckt, gibt es nur den Weg, nach und nach die Nähe zu suchen, ins Gespräch einzutreten, um so den Schrecken vor dem Unbekannten zu verlieren. In einem Dorf, das fast in Gänze von Neonazis bewohnt ist, wurde der Versuch unternommen, den Wortführer des Dorfes mit einem sog. „Ausländer“ ins Gespräch zu bringen. Der Sprecher der Anwohner, der allen anderen den Kontakt untersagte, sagte selber zu dem vermittelnden Reporter: „Wenn ich mit ihm (dem 'Ausländer') sprechen würde, kann ich ihn nicht mehr hassen.” Welch weise Erkenntnis. Leider fand das Gespräch tatsächlich nicht statt.

Ich denke, wir müssen alle immer wieder runter von unserem Thron und miteinander sprechen, auf Augenhöhe. Darüber, was uns wichtig ist, und uns dadurch zu erkennen geben. Vielleicht hütet ja diese Angst vor dem Fremden unseren größten Schatz: Die Erkenntnis, wie ähnlich wir uns alle sind, im Kern. Und dass es eigentlich keine Gründe mehr gibt für all die Mauern, Grenzen und militärischen Aufrüstungen. Der kriegerische Zustand unserer Welt könnte auch ein Spiegelbild unserer sträflich vernachlässigten Gesprächskultur sein. Verhandlungen sind keine Gespräche. Verhandlungen suchen eigene Vorteile und fremde Schwächen. Gespräche machen mich als Mensch sichtbar, in guten Gesprächen schaffe ich es, meine Wunden zu zeigen. Jede Kultur kennt das Wort Gastfreundschaft. Der Fremde, der sich mir nähert, der sich nahbar macht, wird willkommen geheißen.

Blaise Pascals Wette hätte heute einen schweren Stand. Gott, Ewigkeit und Hölle erregen nur noch ein müdes Lächeln. Es gibt auch keinen gemeinsamen Sinn des Lebens, auf den wir uns einigen könnten. Vielleicht sollten wir aufhören, über einen fremden Gott und seinen Beweis nachzudenken und uns endlich den Menschen zuwenden. Bedingungslos an IHN glauben, IHM vertrauen, dem Menschen, so wie er vor mir steht und nicht wegzuleugnen ist. Könnte das nicht einen ganz neuen Frieden, einen ganz neuen Geist einziehen lassen, hier auf Erden und nicht später in der „Ewigkeit“. Einen Geist, der auch die Natur in Frieden lässt, der nichts und niemanden mehr ausbeutet. Nicht aus Angst vor ewiger Strafe, sondern aus Freude am Miteinander. Vielleicht kommen wir dann auch dem geheimnisvollen Wort näher, das Christus kurz vor dem Einzug nach Jerusalem, dem Beginn der Karwoche, spricht: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen (Matthäus 18,20).

Es ist Osterzeit. Während Weihnachten das Licht in tiefster Finsternis feiert, so feiert Ostern die Auferstehung des Jahres im immer früher stattfindenden Aufgang der Sonne im Osten. Bis Johanni werden die Tage mehr und mehr in Licht und Wärme getaucht. Ostern ist das Fest des Neubeginns. Die Natur erwacht, die Erde bricht auf und beginnt ihre Gaben auszubreiten. Wozu brechen wir auf? Sind wir bereit mitzumachen? Ostern und die Verheißung der Auferstehung will alte Fesseln sprengen. Fesseln, die wir uns in unserem Denken und in unseren Vorstellungen auferlegt haben. Ostern will uns Mut machen, mit einem neuen Geist die Welt und den Menschen anzuschauen und wahrzunehmen. So wie wir die Welt sehen, so wird sie. Unser Geist kann jeden Augenblick verwandeln. Daran will uns Ostern erinnern: Wir haben die Kraft und die Aufgabe, die Welt neu zu machen. Wir sollten anfangen, Pascals Wette umzuschreiben und wetten, dass es den Menschen gibt und dass uns in jedem Menschen unser eigener Bruder, unsere eigene Schwester begegnet.

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