Hintergründe des Siegfried-Mythos

Rudolf Steiner, aus der GA 54, „Siegfried und die Götterdämmerung"

(Die Hervorhebungen im Text stammen vom WiP)

[...] Es ist natürlich unmöglich, dass ich heute die ganze Frage des Siegfried-Mythos vor Ihnen aufrolle; nur einige Gesichtspunkte werde ich angeben können, um zu zeigen, wie vom Standpunkte einer vertieften Geisteserkenntnis aus dieser Mythos Leben und Wirklichkeit gewinnt.

Die Siegfried-Gestalt ist ja zunächst aus der deutschen Fassung des Nibelungenliedes bekannt. Sie wissen, Siegfried war imstande, sich unsichtbar zu machen. Er war im Besitze des Nibelungenhortes, des Goldes, an das viel gebunden ist: das äußere irdische Glück, aber zu gleicher Zeit auch ein ge­wisser Fluch, ein Verhängnis. Sie wissen auch, dass er sich Brünhilde anverlobt hat. Das ist ein Zug, der im deutschen Mythos nicht steht, ohne den aber der deutsche Mythos kaum verständlich wird. Sie wissen, dass er, indem er seinen Ehebund mit Kriemhilde eingegangen ist, er für Günther gerade dann Brünhilde durch eine Täuschung erwirbt, nämlich dadurch, dass er in Gestalt eines andern erscheint, was dann zu seinem Verhängnis wird und zu seinem Tode führt. Sie wissen, dass Siegfried durch seine Gemahlin am Hunnenhofe bei Etzel oder Attila gerächt wird.

Das sind so die Hauptzüge der Siegfried-Gestalt. Die Züge in der deutschen Sage finden eine wesentliche Vertie­fung in der nordischen, die uns noch etwas ganz anderes sagt. In der deutschen Sage finden wir Siegfried im Besitze der Tarnkappe, durch die es ihm möglich war, sich unsicht­bar zu machen. In der nordischen werden wir von der Ge­stalt des Siegfried oder Sigurd hineingeführt in die Götter­welt. Dieser Göttermythos ist voll von Mysterien und Geheimnissen. Da erfahren wir - und ich kann nur die alleräußersten Umrisse andeuten -, dass die Götter selbst gezwungen waren, das Gold, das sie von den Nibelungen erworben haben, den Riesen zu übergeben als Entgelt für eine Schuld, die sie begangen haben. In Gestalt eines Lind­wurms bewacht nun ein Riese diesen Schatz. Das ist ein bedeutsamer Zug, dass Siegfried, der Sprössling der alten Götter und sozusagen mit Wotan selbst verwandt, in seiner Jugend berufen ist, den Lindwurm, den Hüter des Goldes, zu überwinden. Dadurch wird ihm die Kraft, durch die er seine Macht erlangt. Durch wenige Tropfen vom Blute des Lindwurms, die er an seine Lippen bringt, ist er imstande, die Sprache der Vögel zu verstehen; er vermag also einen tiefen Blick in die Natur zu tun und verborgene Weisheit in sich aufzunehmen. Durch diese Vervollkommnung ist er imstande, sich der von Feuer und Flammen umgebenen Wal­küre Brünhilde zu nähern und sich ihr anzuverloben, er, der sich selbst den Nibelungenschatz im Kampfe gegen den Lindwurm erobert hat.

Dieser Siegfried ist ein Sagentypus, der uns vielfach in den Dichtungen der Weltliteratur entgegentritt. Er ist der Überwinder eines Drachen, der in das Blut des Drachen eingetaucht wird und dadurch besondere Vollkommenhei­ten erringt, der sich die Macht erwirbt, sich unsichtbar zu machen und sich einer Frauengestalt zu nähern, zu der man nur durch Feuer und Flammen dringt. In den einzelnen Abstammungsphasen von den Göttern liegen ganz bedeutsame uralte Anschauungen verborgen, die sich zum Teil sogar einer jeden öffentlichen Erörterung entziehen, weil sie in Gebiete hineinführen, die zu den allertiefsten des Okkultismus gehören.

[...]

Wie eine Erinnerung war es für unsere Vorfahren in Mitteleuropa, dass einstmals die Menschen hineingesehen haben in die geistige Welt, die aber jetzt in Dunkel und Finsternis eingetaucht ist, nach­dem das äußere physische Sehen sich immer mehr in der Menschheit vervollkommnet hat. Was heute noch als Sage und Mythos lebt, ist der Rest einer solchen höheren geistigen Anschauung. Die Götter sind höhere Erfahrungen, sind wirkliche Gestalten derjenigen Welt, in welche der Mensch sich hineinlebt, wenn er höhere Sinne errungen hat. Eine gerade Linie geht vom Traum bis zu den höchsten astral-geistigen Erlebnissen der Seele. Damit uns das nicht zu un­klar ist, wollen wir einen Blick werfen auf den Unterschied zwischen dem so genannten Nacht- und Tagbewusstsein.

Das Tagesbewusstsein des normalen Menschen, durch das die Kultur geschaffen worden ist, ist erworben. Es kommt dadurch zustande, dass die Seele durch die Sinne die Außen­welt wahrnimmt, sie mit dem Verstande und der Einbil­dungskraft verarbeitet. Wenn aber die Seele des Nachts sich von dem Körper freimacht, die Tore der Sinne geschlossen sind, die Seele in sich selbst ist, dann lebt sie zwar in einer andern geistigen Umgebung, aber sie kann nicht wahrneh­men, weil sie keine Sinne dafür hat, ebenso wie ein Mensch, der Augen, Ohren, überhaupt alle Sinne verloren hat, zwar noch leben könnte, aber nichts von der Umgebung wahr­nehmen würde. Einstmals hatte die Seele die Fähigkeit, in die Welt hineinzuschauen, in welche der Mensch hinab­rückt, wenn er sich dem Schlafe überlässt. Er sah in die gei­stige Welt, und die Abbilder der geistigen Welt liegen im Mythos, sind wirkliche Erfahrungen. Deshalb kam es den Menschen in Mitteleuropa so vor, dass sie einstmals ein Licht wahrgenommen hätten, das jetzt in das Dunkel der Nacht hinuntergesunken ist. Es gibt ein Licht, das die Nacht er­hellen kann, ein Licht, das macht, dass man geistige und seelische Wesenheiten zu sehen vermag, jene Dinge also, die man in den mythologischen Sagen verzeichnet findet. Dieses Hinuntersinken des astralen Bewusstseins wird schön und gewaltig in der Gestalt des Baldur dargestellt. Es ist nur eine Phantastik der deutschen Gelehrsamkeit, wenn behauptet wird, dass Baldur die Sonne sei. Baldur ist das alte astrale Licht, das hineinschaut in die geistig-seelische Welt, das aber im Verlaufe der Entwickelung erstarb, als ein Geschlecht heraufkam, für das das Geisteslicht in Dunkel getaucht war. Dieses Geschlecht, von dem wirklich die alten Deutschen hätten sagen können: Die Lichter scheinen zwar in der Finsternis, aber die Finsternisse kennen die Lichter nicht -, ist das Geschlecht der Nibelungen, der Bewohner von Nifelheim. Was ist mit diesem Geschlecht, für das das Geistige finster und nur das Sinnliche hell ist, gemeint? Was hat sich mit ihm verwandelt?

Die alten Kräfte, welche den Raum durchglühten und in allem lebten, die Kräfte der Liebe, aus denen alles hervor­gegangen ist, sie waren - so erinnerte man sich - der tiefere Lebensquell zu dieser Zeit, in der man noch in die geistige Welt hineinschauen konnte, in der man überhaupt ganz anders lebte. An die Stelle der Liebe, die alles regierte, die allen Verkehr zwischen den Wesen erhöhte, die Wesen zu Wesen führte und alle Verhältnisse zwischen ihnen begrün­dete, trat mit dem Heraufkommen der äußeren Sinnen weit der Egoismus. Ein Geschlecht, das noch hineingesehen hat in die geistige Welt, hing jetzt seinen Sinn an rein äußeres Physisches, physischen Besitz, physisches Eigentum: das Umfassenwollen irgendeines Stückes der Sinnenwelt. Das ist das «Gold», der äußere, physische Besitz. Es war im deut­schen Volke selbst in kleinen Verhältnissen immer etwas Erinnerung daran vorhanden, an jene Zeit, in welcher der Grund und Boden noch der ganzen Dorfgemeinde gemein­schaftlich gehörte. Da waren noch die, welche auf einem solchen Besitze saßen, natürlich verbunden, das Blut be­gründete damals noch die Verwandtschaft. Nun kam eine andere Zeit. Der gemeinsame Besitz, der zu gleicher Zeit einen gewissen Gemeinsinn, eine gemeinsame Liebe erzeugte, ging über in Privatbesitz, in den Drang und Trieb zum Be­sitz. Diese Entwickelung, die fast alle Völker durchmachten, haben auch die alten Deutschen durchgemacht. So empfan­den sie die neuen Verhältnisse als Gegensatz zu den alten, wie wenn an Stelle des Inneren das Äußere getreten wäre, wie wenn man früher in seinem Tun dem Triebe, der im Inneren lebte, der Liebe, gefolgt wäre und jetzt dem Egoismus. Jetzt musste auch das, was die Menschen zusammen­führte, durch Verträge und gesetzliche Bestimmungen ge­regelt werden, anstatt wie früher durch natürliche Verwandtschaftsgrade. Da kam eine neue Weltordnung mit den neuen Göttern, die der äußeren sinnlichen Wirklichkeit angemessen sind. Das war unser Göttergeschlecht der alten Zeiten. Diese Götter erschienen aber auch wieder in neuer Gestalt, gleichsam als diejenigen, die den besseren Teil, den Extrakt aus dem alten noch herausgezogen haben, wie übersinnliche Mächte über der sinnlichen Zeit. Die Menschen erschienen verstrickt in die Sinnlichkeit. Der aber, der ein Führer, ein Lenker in der Menschheit sein wollte, der war auch innerhalb der germanischen Vorzeit ebenso wie sonst überall, ein Eingeweihter, der tiefer hinein­sah in die Quellen des Daseins und bis zu den göttlichen, schöpferischen Kräften vorzudringen vermochte. Ein solcher Eingeweihter muss das überwunden haben, was den Men­schen mit der Sinnlichkeit verbindet, er muss imstande sein, sein ganzes Sinnen und Trachten nur an das Bleibende zu hängen, an das, was hinter den sinnlichen Dingen ist. Er muss sich herausheben aus dem Kampfe des Alltags. Nun ist jeder Mensch in diesem Kampfe des Alltags drinnen mit Begierden und Alltagsvorstellungen. Alles das muss er über­winden; vorher ist eine wirkliche tiefere Einsicht in die Dinge nicht möglich. Weil man das heute sowenig einsieht, kann man nicht begreifen, was wirkliche und wahre Weis­heit ist, sonst wüsste man auch, dass es notwendig ist, bevor man zu dem Wissen hinaufdringt, sich zuvor des Wissens würdig zu machen, zu fühlen, dass das, was Verstand und Vernunft erfassen können, was wir denken können, dass das Gottesgedanken sind, nach denen die Welt aufgebaut ist. Nicht darauf kommt es an, was die Eingeweihten wissen, sondern wie sie es wissen, und sie werden wissend, weil sie das Niedere im Menschen überwunden haben. Durch dieses Wissen, das mit der Verwandlung der ganzen Seele ver­knüpft ist, wird das Wissen zur Weisheit.

Die Völker hatten nach ihrem jeweiligen Charakter ver­schiedene Eingeweihte. Das verstehen wir, wenn wir den Sinn der Einweihung begreifen. Was hat der Eingeweihte eigentlich für eine Aufgabe? Vor allem waren es die Einge­weihten, die den Völkern die Gewissheit von der Unsterb­lichkeit der Menschenseele gegeben haben. Zur Weisheit sich aufschwingen heißt, die Erfahrung machen, dass die Seele Wirklichkeit ist. Man lernt sie wirklich kennen, wenn man hineinsieht in die Welt, die von dem astralen Licht erhellt ist. Da erweist sich die Unsterblichkeit der Seele als eine Eigenschaft der Seele. Weil der Eingeweihte diese Welten, in denen es ein ewiges Leben gibt, schon in diesem Dasein be­treten kann, deshalb kann er Kunde geben von dem Schick­sal des Menschen vor der Geburt und nach dem Tode. Wie sich die Seele heraushebt aus dem vergänglichen sinnlichen Dasein, darüber Klarheit zu scharfen, ist die Aufgabe der Eingeweihten zu allen Zeiten gewesen. Überall, wo ein auf tiefer Erkenntnis und Erfahrung beruhender Glaube vor­handen ist, sagt man etwas Ähnliches wie das, was in neue­rer Zeit zum ersten Mal wieder durch die theosophische oder geisteswissenschaftliche Bewegung gesagt wird. Je mehr der Mensch durch Entwickelung der verschiedensten Tugenden und Fähigkeiten das sinnliche Dasein umgestaltet, desto mehr leitet er hinüber in ein anderes Dasein, das unver­gänglich ist. Die Griechen haben die Seele eine Biene ge­nannt, welche hinfliegt, Honig sammelt und dann wieder in den Bienenstock zurückkehrt. Ganz so ist es mit der Seele. Sie fliegt in der physischen Welt, sammelt Erfahrungen und bringt sie zurück in die geistige Welt, wo sie zu ihrem blei­benden Besitz werden. Überall, wo mystische Tatsachen zu­grunde liegen, hat man sich die Seele als etwas Weibliches vorgestellt, so zum Beispiel Goethe als das «Ewig-Weib­liche», die Seele, die immerfort aufnimmt von der Um­gebung und von ihr befruchtet wird. Der Kosmos dagegen ist männlich, wenn man ihn mit Rücksicht auf die Seele be­trachtet. Bei ihrem Umgang mit der Außenwelt ist für die Seele ein jedes Ereignis eine Befruchtung. Daher erscheint dem Menschen, der das anschauen kann, das Sich-Hinauf-schwingen der Seele zur Unsterblichkeit wie eine Vereini­gung, denn sie verbindet sich mit ihrer höheren Natur, die ihr gleichsam entgegenkommt, wenn sie sich zu dieser höhe­ren Stufe hinaufgearbeitet hat. So erschien im germanischen Mythos, weil dem Germanen die Tapferkeit die höchste Tugend war, die Erwerbung der Unsterblichkeit, für den auf dem Schlachtfelde fallenden Krieger, in dem Entgegen­kommen der Walküre; die Walküre ist nichts anderes als die unsterbliche Menschenseele. Wenn der Krieger die Tu­gend geübt hat, die zur Unsterblichkeit führt, dann ver­einigt er sich mit der Walküre; wer nicht auf dem Schlacht­felde fiel, der starb den Strohtod und musste hinunter in das Reich der Hei, wo nicht das geistige Licht schien.

Ein Eingeweihter ist nun ein solcher, der schon im Leben die Begegnung mit der Seele hat. So ist Siegfried der Ein­geweihte der germanischen Vorzeit, der die niedere Natur, den Drachen überwindet, der hinaufsteigt und sich das An­recht erwirbt, wie jeder Eingeweihte hineinzusehen in die Welt, welche die Menschen betreten werden, wenn sie die Pforte des Todes durchschreiten. Solche Eingeweihte waren immer für das physische Auge der Menschen unsichtbar; sie hatten immer eine Tarnkappe auf. Es ist für jeden ohne weiteres ersichtlich, dass wenn heute in irgendeiner modernen Stadt ein Eingeweihter wie zum Beispiel der Christus Jesus aufträte, er als solcher ziemlich verborgen bliebe. Denn würde man ihn auch nicht einsperren, so würde man doch das, was nur mit geistigem Auge wahrzunehmen ist, min­destens als etwas ganz Unerhörtes empfinden. So ist es mit allen Eingeweihten, auch mit Siegfried. Wer zu einer höhe­ren Erkenntnis der Weisheit hinaufdringt, der muss nicht nur den Drachen überwinden, sondern auch zu einem höhe­ren Bewusstsein durch mancherlei Gefahren hindurchschrei­ten. Die Flammen und die Feuer, von denen die Walküre umgeben ist, sind durchaus Wirklichkeiten. Bevor der Mensch in die höhere Welt zu schauen vermag, ist die höhere Natur immer mit der niederen gemischt, sie hält die niedere im Zaum und hütet das, was aus den niederen stürmischen Leidenschaften herauskommen will. Wenn aber die höhere Natur sich heraushebt, dann ist die niedere Natur zunächst allein gelassen. Daher sind die, welche vorher den Charakter nicht gründlich gestärkt haben, aber zu hellseherischem Ver­mögen gelangen und in die geistige Welt aufsteigen wollen, oft einer Verwandlung nach dem Schlechten hin ausgesetzt. Da fängt leicht das Feuer der Leidenschaften an zu brennen. Durch das höhere Bewusstsein entsteht die Flammenbildung, und durch diese Flammenbildung muss der Eingeweihte erst hindurch. Hier haben Sie die Einweihungszeremonien des Siegfried. Solche Eingeweihte gab es dazumal; es waren alte Priesterweise, welche die Tapferkeit und die Weisheit in sich vereinigten, Könige und Priester zugleich waren. Das war das Ideal des Menschen, das im Gedächtnis des alten Deutschen lebte und vor seiner Seele stand in dem Zeit­punkt, als gerade diese Dichtung wie eine Erinnerung ent­stand. Das hatte sich jetzt geändert. Die Tapferkeit ist nicht mehr der Einweihung unterstellt und die Weisheit ist einem weltlichen Stande zuerteilt; anstelle eines Kriegertums, das zu gleicher Zeit ein priesterliches Rittertum war, hat man nun eine Priesterschaft, der nichts mehr von Einweihungen bekannt ist.

Die Erreichung dieses höheren Bewusstseins der einge­weihten Priesterweisen wird dargestellt in der Tatsache, dass Siegfried, der schon verbunden, verlobt war mit der Walküre Brünhilde, den Vergessenheitstrank trinkt, das heißt, selbst hineingestellt wird in die Welt, die nichts mehr weiß von den alten Zeiten, und dass er die Brünhilde für einen erwirbt, der nicht mehr ein Priesterweiser ist, der die eine Seite, die Tapferkeit, abgelegt hat, also das, mit was die höhere Seele erworben wird. Brünhilde sollte für den erworben werden, der nicht mehr ein alter Göttersprosse, das heißt, ein Eingeweihter war.

So ist die Entwickelung der geistigen Kultur in wunder­barer Weise in der Siegfried-Sage zum Ausdruck gekommen. Die Zeiten sind vorüber, in denen Tapferkeit und tiefste Weisheit in den Eingeweihten zusammen war. Die Ver­einigung mit der Walküre ist nicht mehr an eine Einweihung gebunden; es sind in gewisser Weise von der Vorzeit Ab­gefallene, die jetzt durch die Tapferkeit Unsterblichkeit erreichen. So ging der Zusammenhang mit der alten Götter­welt verloren; bloß das sinnliche Leben, das an das Gold gebunden ist, war geblieben. Für eine solche Zeit - soviel ist wiederum für das mystische Denken in dieser Zeit doch klar gewesen - bedeutet das höhere Bewusstsein etwas Ge­fährliches. Bei dem Eingeweihten, der den Drachen besiegt hat, ist die Möglichkeit vorhanden, dass er sich mit dem höheren Bewusstsein vereinigt und sich von ihm erfüllen lassen kann. Die niedere Natur kann ihn nicht missleiten, da er sie abgelegt hat. Bei dem aber, der das noch durchmachen muss und die niedere Natur nicht überwunden hat, kann dasselbe gefährlich werden. Das sollte den alten Deutschen vor die Augen geführt werden. Denn die Vereinigung mit der Walküre wirkt zerstörend, wenn sie nicht mit innerer Würdigkeit verknüpft ist. Sie wird zur verderblichen Macht, wenn sie für sich auftritt. So tritt Brünhilde für sich auf, indem sie dem Manne gehören musste, der nicht durch die Einweihung durchgegangen war, dem sie unrechtmäßiger­weise zugeteilt worden ist. Daher muss das höhere Bewusstsein verderblich wirken. Damit haben wir auch erklärt, was für Brünhilde zuletzt den Untergang herbeiführt. Brün­hilde, das von den alten Göttern stammende höhere Bewusstsein, muss die alten Götter selbst mit sich ins Verderben hineinziehen. Der Götterspross war ihr ein ebenbürtiger. In alter Zeit war es richtig, dass Walküren auf die Krieger herabkamen, weil Eingeweihte darunter waren, die durch ein siegvolles Leben das Recht auf die Vereinigung mit Brünhilde sich erworben hatten. Dieses Bewusstsein, die Gabe der alten Götter, die sie ursprünglich den Einge­weihten gegeben haben, war nachträglich aber auch auf die gekommen, die keine Eingeweihten waren, wo sie zerstö­rend, auflösend wirken konnte, und dann notwendig die alte Götterwelt selbst hinunterziehen musste: die Götter­dämmerung.

Nicht zufällig, sondern aus tiefster Weisheit heraus, taucht auch in der deutschen Gestalt des Nibelungenliedes, da, wo das Volk hinunterzieht an den Hof des Königs Etzel, um dem Untergang entgegenzugehen, das neue Christentum auf. Es scheint das Christentum hinein in die alte Welt. Aus­gegangen ist die Welt von der Liebe. Man erinnerte sich symbolisch an eine alte Liebe, die ersetzt worden ist durch die Satzungen, die im Golde begründet worden sind. Die Zeit des Goldes hat es dahin gebracht, dass das höhere Bewusstsein der Brünhilde zerstörend gewirkt hat. Und der Zeitpunkt, wo die alten Götter hinuntergesunken sind, ist kosmisch mit der Zeit dargestellt, wo das astrale Schauen dem physischen Schauen gewichen ist, das dadurch ein Ab­bild des kosmischen Vorganges wird.

Die Liebe statt der Satzungen soll als neues Element auf­erstehen. Sogar das deutet der Mythos sinnbildlich an, und in dieser Tatsache tritt er noch intimer hervor: Als Siegfried verraten werden sollte, bezeichnete sein Weib die Stelle, wo er verwundet werden konnte, mit einem Kreuz. Seelisch unverwundbar durch das irdische Sinnliche ist jeder Ein­geweihte, wenn auch sein Körper in Stücken von ihm geris­sen wird. Die Seele hat sich in das höhere Leben hinein­gelebt. Eines hat aber der Eingeweihte noch nicht erreichen können. Siegfried ist an der Stelle verwundbar geblieben, wo die ins Göttliche geläuterte moralische Gesetzlichkeit in Liebe aufflammen soll. Dieses Aufflammen der sich vergöttlichenden Moral in Liebe ist das Wesen des Christentums. Das gehörte noch nicht zur Einweihung des Siegfried. Nachdem die Götterdämmerung vorbei ist, tritt unter die alten Kämpfenden ein anderer Held hinein, der höher steht als Siegfried, der unverwundbar ist an der Stelle, wo Sieg­fried noch verwundbar war. Das Kreuz, das Kriemhilde nur hinzeichnen kann, das hat der Große auf seinem Rücken getragen. - Sie sehen, welch tiefer Untergrund, welch gei­stiges Lebensbild in dieser Sage der Vorzeit vorhanden ist. Das Rätsel der Menschheit tönt uns da überall entgegen. [...]

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