Der Gang auf dem Seil

Eine Ansprache aus der Freien Waldorfschule Leipzig

Liebe Schüler der achten Klasse!

Ich will euch ein Gleichnis erzählen. Es heißt: „Der Gang auf dem Seil" und stammt von Martin Buber.

Es waren einst zwei Freunde, die wurden wegen eines gemeinsamen schweren Vergehens vor dem König angeklagt. Da er sie aber liebte, wollte er ihnen eine Gnade erweisen. Lossprechen von Schuld und Strafe konnte er sie nicht, denn auch das königliche Wort besteht nicht gegen die Vereinbarung des Rechts. So sprach er das Urteil: Es solle über einen tiefen Abgrund ein Seil gezogen werden und die zwei Schuldigen sollten es, einer nach dem andern beschreiten. Wer das jenseitige Ufer erreiche, dem sei das Leben geschenkt.

Es geschah so, und der eine der Freunde ungefährdet hinüberkam. Der andere stand noch am selben Fleck und schrie: „Sag mir doch, wie hast du es angestellt, diese fürchterliche Tiefe zu überqueren?" „Ich weiß nichts", rief jener zurück, "als dieses eine: Wenn es mich nach der einen Seite riss, neigte ich mich der andern zu."

In diesem Sinne wünsche ich euch, liebe Achtklässler, für das neue Schuljahr- welches ja in vieler Hinsicht einen Abschluss darstellt, um danach Platz für Neues zu schaffen- dass ihr euer Gleichgewicht findet; im Vertrauen auf eure eigene Kraft losgeht, ohne das Risiko zu scheuen. Im Gegensatz zu den beiden Freunden habt ihr den Vorteil, dass es euch nicht das Leben kostet, wenn ihr einen Fehler begeht. Und doch wird es von großer Bedeutung für euer weiteres Leben sein, in welcher Weise ihr euch den vielfältigen Aufgaben der achten Klasse stellt. Wenn es euch auf die eine Seite zieht, neigt euch auf die andere. Vor allem auch dann, wenn andere euch auf eine Seite ziehen wollen. Gleicht aus, überprüft immer wieder wach eure Position, schaut nicht auf die Abgründe, sondern verfolgt euer Ziel. Dafür wünsche ich euch einen sicheren Tritt beim Gang auf dem Seil.

Steffi Duchow

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