Binsenweisheiten

Eine Ansprache aus der Freien Waldorfschule Leipzig

Meine liebe dritte Klasse,

heute möchte ich Euch etwas über das Gras erzählen. Jetzt wundert Ihr Euch bestimmt, weil Ihr beim Gras an die Wiese auf dem Schulhof denkt und an dieser womöglich nichts findet, was sie für eine Begrüßungsrede zum Schulbeginn interessant machen würde. Aber auf dem Schulhof finden wir nur einen Rasen. Dieser entsteht, wenn das Gras gemäht wird. Ganz anders sieht eine Wiese aus, wenn sie wild wachsen darf, wie am Fluss, wo das Gras so hoch steht, dass man sich darin verstecken kann. Wir haben es oft gesehen, wenn wir donnerstags immer hinaus in die Natur gegangen sind. In diesem Schuljahr werden wir wieder wie im vergangenen jede Woche eine kleine Exkursion unternehmen und uns dabei vor allem den Gräsern (aber auch den Kräutern und anderen Pflanzen) widmen. Um zu erfahren, warum gerade die Gräser so wichtig für uns sind, müsst Ihr an „Hörbe mit dem großen Hut" denken, dessen Geschichten ich Euch in der zweiten Klasse vorgelesen habe. Dieser Hutzelmann buk sich sein Brot aus dem Samen der Wildgräser. Wir backen unser Brot aus dem Samen des Getreides. Und tatsächlich ist das Getreide aus den wilden Gräsern entstanden. In diesem Schuljahr werden wir eine große Landbauepoche haben, Korn säen, Getreide ernten und hoffentlich am Schluss Brot daraus backen können.

Und wir werden natürlich verschiedene Arten von Getreide kennen lernen. Deshalb also lohnt es sich, heute etwas über das Gras zu erzählen. Doch es gibt noch ganz andere Gräser, solche nämlich, die im und am Wasser wachsen. Das Schilfrohr kennt Ihr schon, im letzten Jahr habt Ihr große Rohrbomben von unseren Ausflügen mitgebracht, deren Samen dann, als sie aufplatzten, im ganzen Schulhaus herumgewirbelt sind. Das Schilf gehört, genauso wie der Reis, zu den Grassorten, die zum Wachsen nasse Füße brauchen und deshalb immer am Wasser oder im Moor zu finden sind. Solche Gräser, die im und am Wasser wachsen, nennt man auch „Binsen". Wenn die Jäger früher Enten jagten und diese sich im hohen Schilf versteckten, so dass sie nicht mehr geschossen werden konnten, dann sagten die Jäger: „Sie sind in die Binsen gegangen." So ist das geflügelte Wort entstanden, dass „etwas in die Binsen geht", wenn es verloren ist. Ein weiteres geflügeltes Wort ist die Rede von den „Binsenweisheiten". So nennt man Dinge, die jemand als Besonderheit erzählt, obwohl sie jeder weiß. Auch dazu gibt es eine Geschichte: „Als ein König wegen seiner Habgier von einem Gott mit Eselsohren bestraft wurde, durfte sein Diener es keiner Menschenseele erzählen. Deshalb ging er ans Meer und flüsterte sein Geheimnis in die Binsen. Diese jedoch wehten im Wind hin und her und verbreiteten auf diese Weise die Geschichte in der ganzen Welt. So entstand das Wort von den „Binsenweisheiten".

Mit Binsen kann man einiges anstellen. Man kann zum Beispiel ihre Stiele, die innen hohl sind, als Schreibfeder verwenden. Das passt gut zu diesem Schuljahr, in dem wir die Schreibschrift lernen werden. Doch nicht nur als Schreibgerät werden die Binsen verwendet, sondern auch als Blätter und Rollen zum Beschreiben. Die alten Schriften der Ägypter schrieb man auf Blätter, die aus Papyrus hergestellt wurden, Namensgeber für das Papier, wie wir es heute kennen. Papyros ist der Name für das Ceylongras, das auch zu den „Binsen" gehört. Eine Stadt in Phönizien, in der vor allem mit Papyrus gehandelt wurde, hieß Byblios. Die alten Griechen nannten ihre Papierrollen deshalb „Biblia". So ist der Name der Bibel entstanden, die für uns in diesem Schuljahr eine große Rolle spielen wird. Wir werden uns nämlich mit den Geschichten aus dem Alten Testament beschäftigen.

Eine dieser Geschichten erzählt von Moses. Als dieser geboren wurde, war das jüdische Volk in ägyptischer Gefangenschaft. Der grausame Pharao hatte befohlen, jeden Sohn zu töten, der im Volke Israels geboren werde. Deshalb flocht die Mutter von Moses ein Körbchen und legte Moses hinein. Dann ließ sie das Körbchen den Nil hinab treiben in der Hoffnung, dass das Kind gerettet würde. Die große Schwester von Moses verfolgte das Baby am Flussufer und sah, wie die Tochter des Pharao das Kind fand. Diese hatte ein gutes Herz und ließ fragen, ob jemand eine Amme kenne, die das Kind großziehen könne. Da meldete sich das Mädchen und brachte Moses seiner Mutter zurück, so dass diese ihr Kind doch aufziehen durfte und dafür von der Tochter des Pharaos sogar noch belohnt wurde.

Nun, woraus wohl hat die Mutter von Moses das Körbchen geflochten? Ja, aus Binsen! Aus Binsen kann man alles Mögliche flechten. Wenn es darauf ankommt sogar kleine Häuser. Und wenn wir im Verlauf des Schuljahres selber die alten Handwerke kennen lernen werden und es schaffen, selbst etwas zu bauen, dann werden wir uns auch mit dem Korbflechten beschäftigen.

Liebe Mädchen und Jungen der dritten Klasse, wie Ihr seht, gibt es ganz viel, worüber man sprechen kann, wenn man über die „Binsenweisheiten" des Grases spricht und wie ihr hört, gibt es ganz viel, was wir in diesem Schuljahr zusammen erleben werden. Ich freu mich darauf!

Euer Marcus Erb-Szymanski

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