Zeugnissprüche - Denkling 5

Ein Beitrag von Uta Stolz

„… und dann vertiefen Sie sich in das Wesen des Kindes und schreiben einen Spruch!“, kommentiert die neben mir an einem Frühsommertag wandernde Drittklässlerin. Ich war sehr berührt von der präzisen Überlegung der jungen Schülerin und wieder einmal darin bestärkt, dass Kinder unterschätzt werden. Als selbst Dichtende habe ich das versucht, bis mir für die siebte die Sicherheit fehlte, und ich ließ den Lernenden frei, ob ich einen Spruch schreiben oder wählen sollte. Feierlich sprach jede/r auf einer Klassenfahrt mit Eltern publikumsabgewandt den Spruch der ersten Klasse und nach vorne tretend den der sechsten, ein bewegendes Ereignis. Und ein Abschied ins aufkeimende Jugendalter, in dem die Sprüche nicht mehr gesprochen wurden. Das Innere nach außen zu tragen war nun „peinlich“ geworden und der Spruch zur eigenen, freien Verfügung gegeben. Diese Freiheit war mir wichtig. Ich hatte immer das Bild vor Augen eines lieben, fröhlichen, rundum zupackenden Mädchens und der Mutter, die Anfang der Neunzigerjahre zu mir als Hortleiterin kamen und ihr Herz ausschütteten. Das Mädchen wollte den ihr unpassenden Spruch nicht sprechen. Gespräche mit der Lehrerin waren bislang furchtlos geblieben. Auch meine Bitte bei der Klassenlehrerin um einen neuen Spruch bewirkte nichts. Sie musste ihn weiter wöchentlich aufsagen. So ließ ich selbst später das Aufsagen des Spruches weitgehend in die Freiheit der Lernenden gestellt. Mit dem Ergebnis, dass ich noch einmal in der achten Klasse für fast alle auf Wunsch dichten musste, als ich mich mit einem Gruppenspruch schon davon stehlen wollte. Meine persönliche Erfahrung. Jede:r Klassenlehrer:in pflegt auf ganz eigene Weise dieses Essential der Waldorfpädagogik und doch darf es keinen Zwang geben.

5 Fragen zum Thema

  • Verstehen die Lernenden, was sie sagen?
  • Betont der Spruch die Ressource des Kindes?
  • Fühlen sich die Kinder beim Sprechen wohl?
  • Was genau darf sein, kann sein, muss sein?
  • Was wenn, nach Christof Wiechert, das Ziel im Laufe des Jahres schon erreicht ist?

12 Ideen

  1. Wer heute möchte, sagt seinen Spruch.
  2. Alle, deren Spruch mit dem Thema (Tier, Licht, Bewegung …) zu hat, sprechen heute.
  3. Im Laufe des Jahres: wer möchte, sucht sich den Spruch eines anderen aus.
  4. In der Partnerarbeit das Sprechen üben und sich gegenseitig Feedback geben.
  5. Einfache Sprüche mit der Grundsatzstruktur (Subjekt, Prädikat, Objekt) für Kinder mit Förderschwerpunkt Lernen wählen.
  6. Dazu anregen, sich selbst etwas vorzunehmen: … ich spreche meinen Spruch langsamer.
  7. Das Lieblingswort besonders klar und deutlich zu sprechen.
  8. Selbst einen Mottospruch schreiben, zum Beispiel für die Patenklasse.
  9. Sich selbst einen Ort in der Klasse suchen, von dem aus man sprechen möchte.
  10. Zu zweit sprechen, wenn ein Kind Stütze braucht.
  11. Als Lehrer auch einen Spruch haben und bisweilen sprechen.
  12. Die Möglichkeit offenlassen, dass ein Spruch nicht passt und ein anderer her muss.

Und in den Heilpädagogischen Schulen?

In den Förderklassen muss oft für und mit den Kindern gesprochen werden. Die Lehrer:in steht hinter dem Kind und hält ihm den schön aufgeschriebenen Spruch vor, den beide gemeinsam ganz oder nur teilweise zusammen lesen. Die Sprüche sind oft kurz und können mit Gesten begleitet werden. Der Rhythmus, das immer Wiederkehrende, ist wichtig (am Montag bin ich dran).
 

© Uta Stolz
E-Mail: mail@utastolz.de
Website: www.utastolz.de

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