Kopist:innen oder Autor:innen? - Denkling 6

1988 leitete ich einen Waldorfhort und beobachtete fast täglich die Kinder, wie sie im Fach Deutsch Tafelabschriebe als Hausaufgaben noch einmal inklusive aller Abschreibfehler abschrieben. Dies erschütterte mich so sehr, dass ich alle „grünen Bände“ von Rudolf Steiner als damals noch Heilpädagogin in sechs Ferienwochen las und erleichtert feststellte: Rudolf Steiners Idee war schon für die erste Klasse: „Wenn wir rationell in diesen Dingen vorgehen, dann werden wir es im ersten Schuljahr dahin bringen, dass das Kind immerhin in einfacher Weise das oder jenes aufs Papier zu bringen vermag, was man ihm vorspricht, oder was es sich selbst vornimmt, aufs Papier zu bringen. Man bleibt beim Einfachen, und man wird es dahin bringen, dass das Kind auch Einfaches lesen kann.“ Diese Idee entspricht den heutigen Bildungsplänen. Es gibt immer noch eine Abschreibkultur bei uns, in denen sogar Schüler:innen der Mittelstufe Texte, die Lehrende verfasst haben, abschreiben müssen. Ein Mädchen einer solchen Klasse klagte: und dann tun meine Finger so weh! Oberstufenlehrer:innen beklagen sich im Anschluss über fehlende Lesekompetenz, über mangelnde Rechtschreibkenntnisse und über einen nicht zu den anspruchsvollen Themen passenden alltagssprachlich orientierten Ausdruck. In einer Zeit der schwindenden Schriftsprachkultur lohnt es sich vielleicht darüber nachzudenken, ob wir Kopist:innen als Kopien unser selbst oder Autor:innen als Schöpfer:innen ihrer selbst erziehen wollen, die mit feinen inneren Instrumenten sachbezogen, kreativ und kritisch von der Wortebene, über die Satz- zur Textebene schreiben und ihr selbst Geschriebenes lesen lernen.

5 Hindernisse

  • Die Buchstabeneinführung in Klasse 1 ist das Wichtige. Nein: wenn Kinder „ins Tun kommen“ sollen, geht es immer um einen sinnstiftenden Kontext und mindestens um die Wortebene.
  • In der ersten Klasse braucht es nur die Großbuchstaben. Nein: wir schreiben im Deutschen alles klein, außer … Fehler prägen sich ein und sollten nicht so oft wiederholt werden.
  • Die Fähigkeiten im Fach Deutsch entwickeln sich naturgemäß. Nein: Schreiben ist eine Kulturtechnik und benötigt wie das Erlernen eines Instruments tägliche Übung.
  • Wir lassen das Kind erst einmal in Ruhe. Nein: im ersten Kontakt mit der Schriftsprache können kleine Hindernisse auftreten, die sich ohne schnelle passende Intervention zu großen Hürden auswachsen können.
  • Im Epochenheft muss bei allen etwa das Gleiche drinstehen. Nein, es ist Ausdruck des individuellen Lernprozesses, die einzigartige Spur, ein eigenes Kunstwerk in einer vorgegebenen „Stilrichtung.“

7 Utopien

  • Was wäre, wenn die Autorenfähigkeiten der Waldorfschüler:innen mit denen der öffentlichen mithielten und sie an Tiefe überträfen?
  • Was wäre, wenn die Kinder klare Strukturen für den eigenen Ausdruck von Anfang an nutzten, gemeinsam nach Silben, Worten und Sätzen suchten und sie wie Wolle zu handfesten Texten verstrickten?
  • Was wäre, wenn selbstschreibende Kinder, konzentriert und lächelnd oder sich zuhörende Kinder interessiert und freudig unsere Werbeflächen zierten?
  • Was wäre, wenn der eigene Innenraum des Kindes den Sprachraum der Klasse so gestaltete, dass Einzigartigkeit der Maßstab wäre?
  • Was wäre, wenn Klassenlehrer:innen auf dem Weg zu einem solchen Unterricht nicht die Ideen anderer kopierten, sondern gemeinsam in regelmäßigen Konferenzen nach kreativen und fachlich fundierten Ansätzen im Fach Deutsch suchten?
  • Was wäre, wenn die „oberen Sinne“ gerade bei jungen Kindern eine ähnliche Aufmerksamkeit erführen wie die „unteren Sinne“?
  • Wäre dieses „Neuland“ nicht auch „Waldorf“?

         Und an den Heilpädagogischen Schulen?

  • Was wäre, wenn das Recht auf passende Strukturen und eigenen Ausdruck für alle gälte?


© Uta Stolz
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