Der stumme Impuls - Denkling 4

Ein Beitrag von Uta Stolz

„Man hat Sie ja gar nicht wahrgenommen, Sie haben viel zu wenig gesprochen,“ hörte ich vom Waldorfmentor in meinem ersten Jahr als Klassenlehrerin nach einer aus meiner Sicht gelungenen Stunde zum Thema Hohlmaße. Die Schüler hatten mit unterschiedlichen Gläsern und Flüssigkeiten freudig und sorgsam hantiert, miteinander gesprochen und Lösungen gefunden. „Ich dachte immer, bei Waldorf ginge es primär um aktive Schüler (gleich ins Tun kommen) und nicht um aktive Lehrer im Unterricht,“ wagte ich frech zu kontern.

Jahre später am ersten Tag zum Thema Rationale Zahlen fanden die Schüler*innen der siebten Klasse auf jedem Tisch eine Installation mit einem Zahlenstrahl vor sich, der in der Mitte der 0 unter einen senkrechten Taschenspiegel geklemmt war. „Zeichnet ab oder beschreibt“, stand an der Tafel und eine stumme Lehrerin stand vor der Tafel. Im Anschluss entspann sich ein Gespräch über die neue Zahlenwelt. Die Lehrerin fragte, hörte und notierte. Eineinhalb Jahre später im Rückblick auf die acht Jahre schrieb die Quereinsteigerin, für die jener Tag der erste war: „.. und ich habe verstanden, was Waldorf bedeutet: es gibt kein Richtig und kein Falsch zu Beginn, es kommt auf das ganz genaue Beobachten an und dann das freie Gespräch!“

Nur hörend kann ich mich in die Lernenden hineinversetzen und den Widerhall meines Unterrichts selbstkritisch betrachten. Äußerungen wie in der Physikepoche: „Wenn ich da mal etwas einflechten dürfte, Frau Stolz…“ eines naturwissenschaftlich begabten Schüler oder in der Mathematikepoche: „ Sie wissen doch, dass wir dem Sebastian das besser erklären können, als Sie!“ haben mir geholfen, täglich Hörende zu werden.

5 Fragen zum Thema

  • Wie hoch ist mein eigener Redeanteil im Unterricht?
  • Wie oft habe ich einzelne Schüler*innen heute gehört?
  • Haben die Schüler*innen von mir das Zuhören gelernt?
  • Schauen die Schüler*innen sich gegenseitig beim Zuhören an?
  • Wissen die Schüler*innen genau, wann und warum sie mir zuhören sollen?

13 Fallen

  1. alles in eine Geschichte einbetten und viel erzählen
  2. den Unterricht immer mit eigenem Sprechen beginnen
  3. auf jeden Schülerbeitrag selbst eingehen
  4. Redebeiträge bewerten
  5. davon ausgehen, dass vor allem Erklärungen zum Verständnis beitragen
  6. zu meinen, dass Lehrersprache besser erklärt als Schülersprache
  7. davon ausgehen, dass Schüler*innen länger zuhören können als Lehrer*innen
  8. für absolute Ruhe beim Arbeitsteil sorgen
  9. noch schnell was sagen, wenn kaum einer zuhört
  10. auf Schülerfragen selbst antworten
  11. zu schnell selbst sprechen, wenn von den Schüler*innen nichts kommt
  12. Sprache zu nutzen, wo stumme Zeichen wirksamer wären
  13. „zu den Kindern sprechen anstatt mit den Kindern sprechen“ (R. Steiner)

Und in den Heilpädagogischen Schulen?

Der Sprachgeist wirkt über das klare, deutliche, zugewandte Sprechen auf die Kinder. Sprechübungen machen einen wichtigen Teil der heilpädagogischen Bemühungen aus. Von außen  versuchen wir sprechend zu ersetzen, was aus dem Inneren mancher Lernenden nicht geschöpft werden kann. Gleichzeitig passen wir uns in einfacher Sprache den Verständnismöglichkeiten der Schüler*innen an. Über geeignete Medien wird der Weg vom Sprechenden zum Hörenden überbrückt, da wo moderne Technik dies ermöglicht. Das äußere Hören auf der Alltagsebene wird durch das Streben nach dem inneren Hören auf der Wesensebene ergänzt.

© Uta Stolz
E-Mail: mail@utastolz.de
Website: www.utastolz.de

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