Der Morgenspruch - Denkling 3

Ein Beitrag von Uta Stolz

„Muss ich den Morgenspruch mitsprechen?“, fragte mich ein neuer Schüler in der Unterstufe. „Nein, das musst du nicht. Mir selbst ist er wichtig, aber er ist kein Zwang. Wir schaffen uns zu Beginn einen Raum, der uns alle trägt. Du kannst gern warten.“ Beim zweiten Mal sprach er selbstverständlich mit. Auf der Koliskotagung in Kalifornien war ich Zeugin eines Gesprächs unter Ehemaligen: „ … und als es mir ganz schlecht ging, und ich ganz unten war, fiel mir dieser Spruch wieder ein: Der Sonne liebes Licht …“.

Im Kissenkreis am Boden eng zusammen bis Ostern in der 6. Klasse, bis zum Beginn des Jugendalters, begannen wir den Unterricht, standen dann auf und fassten uns alle an den Händen. Wir warteten auf die Stille und fingen gemeinsam mit „Ich …“, an, so lange die Innigkeit uns trug. Dieses Tragen hörte irgendwann in der siebten Klasse auf, obwohl der Blick nach außen und nach innen von „in die Welt“ und „in die Seele“ je nach Epoche ins Bewusstsein gehoben wurde. Wir sprachen unseren Klassenspruch, weil dieser uns trug und vereinte, bis der Morgenspruch, dann in anderen Sprachen, wieder passte.

Die 5 Fragen zum Thema Morgenspruch

  •  Der Sonne liebes Licht, es hellet mir den Tag: sind der innere und der äußere Raum denkhell, wenn wir den Spruch sprechen? Habe ich etwas ganz Neues für die wache Wahrnehmung der Kinder vorbereitet?
  • Der Seele Geistesmacht, sie gibt den Gliedern Kraft: werden sich die Kinder heute so für meinen Unterricht begeistern können, dass sie mit Freude loslegen?
  • … dass ich kann arbeitsam und lernbegierig sein: gibt es genügend Angebote zum Üben, zum Vertiefen und Herausforderungen für jedes einzelne Kind?
  • Sprechen die Kinder in einer wahrnehmungsoffenen Körperhaltung und mit Vorfreude auf das Kommende?
  • Welchen Platz hat Humor?

12 Variationen nur dann, wenn das Feld aus irgendeinem Grund nicht trägt

  1. Eine Gruppe spricht den ersten Satz oder den ersten Teil, die andere den zweiten.
  2. Jede(r) spricht leise und nur ein Wort laut, das heute für mich als Lernender wichtig ist.
  3. Jede(r) nimmt eine Körperhaltung ein, die passt oder sucht sich einen eigenen Platz im Raum.
  4. Eine Epoche lang wird ein anderer Spruch, vielleicht auch Schülervorschläge, gesprochen.
  5. Eine Gruppe spricht nur einzelne Wörter wiederholt und leise, die andere gleichzeitig den Spruch.
  6. Ab der fünften Klasse der Hinweis der Lehrer*in: Nehmt den Inhalt der Epoche und haltet für euch fest, was ihr in der Welt und in euch gesehen habt. Am Ende der Stunde zum Beispiel wird danach gefragt.
  7. Lehrer*in spricht darüber, was der Spruch ihr oder ihm bedeutet, wo er herkommt, vielleicht auch über weitere tragende Säulen der Waldorfpädagogik.
  8. Mit der Patenklasse gemeinsam wird morgens der Spruch oder auch beide gesprochen, so hören die Schüler*innen, woher sie kommen und wohin sie gehen.
  9. In der ausklingenden Mittelstufe oder in der Oberstufe: die Schüler*innen schreiben den Spruch so um, dass der Inhalt bleibt, aber ihr Sprachgefühl getroffen wird.
  10. Alle Klassen sprechen den Spruch gleichzeitig eine Epoche lang und die Türen stehen offen.
  11. Lehrer*in fragt am Ende der Stunde: was ist euch heute sonnenklar geworden, wo konntet ihr in der Arbeit gut zugreifen? Vor dem Morgenspruch am nächsten Tag können einzelne sich dazu äußern.
  12. Lehrer*in achtet darauf nichts zu fordern, das nicht kongruent zum eigenen Lehrerverhalten ist.

Und in den Heilpädagogischen Schulen?

Hier sprechen häufig die Erwachsenen für die Kinder, Gesten ergänzen die Worte und führen vom Außen ins Innen. Das Gehalten sein in einem Ritual schafft Heilung. Da, wo das Ich nicht selbstverständlich zugreifen kann, weisen beide Sprüche darauf hin, dass alle ein Recht auf Lernen, Arbeit und seelische Erfüllung haben.
 

© Uta Stolz
E-Mail: mail@utastolz.de
Website: www.utastolz.de

Ihr Kommentar