Weihnachten - ein Versprechen

Ein Text von Marcus Kraneburg

Wir befinden uns heute gegenüber der Weihnachtsgeschichte in einer misslichen Situation. Wenn wir ehrlich sind, dann können wir ihre Bilder über den Weg unseres Gemüts eigentlich nicht mehr wirklich verstehen. Da heißt es, dass der Sohn Gottes auf die Erde kommt. Er wird in einem Stall geboren und man nennt ihn den Retter der Welt. - Wie stark können wir uns heute noch mit diesen Worten verbinden? Berühren sie uns noch in inniger Weise? Vielfach nicht mehr. Besonders wenn zu Weihnachten keine „heilige" Stimmung mehr aufkommt, stellt sich bei manchem ein schlechtes Gewissen ein. Muss man etwas so Wichtiges nicht empfinden können? Oft sind weihnachtliche Gefühle sogar eher die Ausnahme. Warum ist das so? Der Mensch hat sich stark verändert - oder anders gesagt: Er hat sich weiterentwickelt. Anthroposophisch ausgedrückt hieße dies: Das Zeitalter der Empfindungsseele ist vorüber und wir sind gegenwärtig dabei, die Bewusstseinsseele auszubilden.

Der Mensch verfügt heute über ein sehr viel wacheres Bewusstsein als in vergangenen Zeiten. Allerdings - und das ist wichtig zu bemerken - sehen wir dadurch die Welt auch anders. Um die Welt zu verstehen, stand dem Menschen früher deutlich stärker das Gefühlsleben als Instrument zur Verfügung. Auch heute noch kennen wir die Erfahrung, dass sich „Bauchentscheidungen" manchmal als treffender erweisen als sorgfältige Überlegungen. Das Fühlen erfasst eine Situation intuitiv, nicht rational. Es bietet einen Zugang ganz anderer Art zur Welt - aber genauso real. Dieser Zugang ist jedoch durch unser immer wacher werdendes Bewusstsein sehr geschwächt worden. Wir vermögen nicht mehr so tief mit unserem Fühlen in das Wesen einer Sache einzudringen. Immer öfters bleiben wir einfach außen vor. Uns sagen dann die Dinge nichts mehr, sie sprechen nicht mehr zu uns. Von der Inbrunst religiöser Empfindungen vergangener Tage machen wir uns heute kaum mehr eine Vorstellung. Eine solche Erregtheit der Seele erreichen wir heute nicht mehr - vorausgesetzt wir erzeugen sie nicht künstlich. Damit bleibt uns aber auch manche Wahrheit verschlossen. Auf diesem Hintergrund wird das eingangs Gesagte nochmals deutlicher: Das Weihnachtsmysterium verrät uns seine Geheimnisse rein auf der Gefühlsebene nicht mehr. Um wieder einen Zugang zu finden, müssen wir die stärkere Wachheit unseres Verstandes nutzen. Leider hat der Verstand die Eigenart, den Bildern zunächst etwas von ihrer Wärme zu nehmen, sie gleichsam abzukühlen. Im Gegensatz zum Gefühl ist dies eine unumgängliche Begleiterscheinung des Denkens. Machen wir uns trotzdem auf diesen Weg, so ist es anschließend aber auch wiederum möglich, zu einer neuen Erlebnistiefe gegenüber dem Weihnachtsmysterium zu kommen.

Wenn wir die Bedeutung von Weihnachten intimer erfassen wollen, müssen wir zunächst unser Blickfeld weiten. Weihnachten hat nämlich gewissermaßen ein Vor- und ein Nachspiel. So ist es notwendig die Paradieseserzählung aber auch die Kreuzigung des Christus' in unsere Betrachtungen mit einzubeziehen. Ohne diese beiden würde uns die Weihnachtsgeschichte ihre Geheimnisse nicht verraten. Diese Dreiheit ist als ein Ganzes aufzufassen. Man kann es noch deutlicher formulieren: Die Geburt Jesu und das Leiden des Christus hätten ohne den Sündenfall einerseits und den Tod am Kreuz andererseits weder Sinn noch Aufgabe. Warum ist dies so? Für eine Antwort müssen wir ein wenig ausholen.

Jeder kennt die Erzählung vom Paradies und trotzdem ist uns ihr Sinn heute oft verschleiert. Zwei Punkte müssen wir in diesem Zusammenhang unvoreingenommener hinterfragen, als dies normalhin geschieht. Erstens: Wer trug die eigentliche Schuld am Übertritt des Verbotes? Und zweitens: Wen oder was symbolisiert die Schlange?

Beginnen wir mit der Schuldfrage. Die scheinbare Eindeutigkeit, mit der die Bibel dabei auf den Menschen und speziell auf Eva bzw. die Frau verweist, gerät bei intensiverer Betrachtung ins Wanken. Der Mensch war nämlich auf dieser frühesten Entwicklungsstufe noch gar nicht „schuld-fähig". Dafür hätte er ein entsprechendes Reflexionsvermögen besitzen müssen. Dies war aber noch nicht der Fall. Ganz im Gegenteil, er war sich ja noch nicht einmal seiner eigenen Existenz bewusst. Der Mensch besaß noch gar nicht die Fähigkeit, den Blick wie von außen auf sich selbst zu richten. Darauf deutet die Bibel hin, indem sie sagt, dass sich Adam und Eva ihrer Nacktheit bis zu dem Moment der Verführung noch nicht schämten. Bei ganz kleinen Kindern haben wir heute noch die Erinnerung an ein solches Bewusstsein. Auch sie schämen sich ihrer Nacktheit nicht. Sie ist ihnen schlichtweg nicht bewusst. Wie sollte also der Mensch schuldig werden, wenn in ihm noch gar kein Eigenbewusstsein vorhanden war, mit dem er sich für oder gegen etwas hätte entscheiden können. Nicht der Mensch wurde also schuldig.

Trägt nun aber die Schlange die Verantwortung? Welchen Namen wir ihr auch immer geben wollen, wir müssen in jedem Fall festhalten, dass sie ein Teil der Schöpfung Gottes war. Sie stand nicht außerhalb der Welt und schuf einen zweiten Kosmos. Nein, die Schlange war selbst Geschöpf, wurde geschaffen und gehörte zur göttlichen Ordnung. Insofern ist es undenkbar, dass sie gegen den Willen Gottes handelte - vielmehr entsprach ihr Handeln eben genau dessen Intentionen. Betrachten wir diesen ungewohnten Gedankengang etwas genauer. In Klammern sei an die Einleitung erinnert, wo es hieß, dass solche Gedankengänge eigentlich erst in der heutigen Zeit möglich sind. Unsere Verstandeskräfte wären früher noch nicht wach genug gewesen, weshalb unser Gefühlsleben gegen sie rebelliert und sie letztendlich auch verhindert hätte. Erst heute können wir scheinbar provokante Gedanken in gewisser Neutralität bewegen, ihre Stimmigkeit abwägen und tiefer auf diesem Weg in die Weltzusammenhänge eindringen.
Was tat also die Schlange? Sie verführte den Menschen. Mehr noch: Sie senkte in sein gänzlich offenes Wesen Triebe, Begierden und Leidenschaften, die dafür sorgten, dass sein innerer Kompass dauerhaft verwirrt wurde. Begierden verleiten den Menschen zu Handlungen, die selten notwendig, für das Ego aber äußerst stimulierend sind. Wie das Wort Leidenschaften schon selbst ausdrückt, verdanken wir ihnen zumeist leidvolle Erfahrungen. Sie gleichen einem Feuer, welches nach kurzer Sättigung wieder nach neuem Futter verlangt.

In der Anthroposophie wird die Schlange als Luzifer bezeichnet. Schon den alten Persern war diese Wesenheit vor über 6000 Jahren bekannt, nur galt Luzifer dort nicht als Verführer, sondern im Gegenteil als „Träger des Lichtes". Dies ist auch die eigentliche Bedeutung seines Namens. Lux heißt „Licht" und ferre „tragen" oder „bringen". Nach Darstellung der Bibel brachte die Schlange dem Menschen aber zunächst kein Licht, sondern nur Verwirrung, Zweifel und Leid. Die menschliche Natur wurde durch die Implementierung von Trieben, Begierden und Leidenschaften ein Stück schlechter gemacht. Als Teil der göttlichen Ordnung handelte die Schlange aber nicht eigenmächtig. Ihre Impulse standen letztendlich mit der geistigen Welt im Einklang. Insofern waren die Schöpfermächte gleichermaßen für den Sündenfall des Menschen verantwortlich. Man könnte es zugespitzt auch folgendermaßen formulieren: Gott ließ den Menschen absichtlich in die Sphäre der Sünde fallen. Dieses bezeichnet die Bibel als die „Sünde der Welt".

Wieso entsprach dies dem Willen Gottes? Obwohl dem Menschen durch den Sündenfall vieles genommen wurde, müssen wir zugleich bemerken, dass er eben auch etwas sehr Wesentliches hinzugewann. Als „Träger des Lichtes" entfachte Luzifer nämlich nicht nur die Glut der Begierde, sondern auch das Feuer der Begeisterung, das leidenschaftliche Streben nach Idealen und er schenkte dem Menschen das Licht klarer Gedanken. Man muss sogar noch einen Schritt weitergehen: Erst diese Leidenschaftlichkeit gab der Menschenseele die entscheidende Auftriebskraft, um zu den höchsten Begriffen des Menschseins überhaupt gelangen zu können: Dies sind „Freiheit" und „Liebe". Selbst wenn wir ihre wahre Bedeutung heute nur erst erahnen, sprechen sie dem Menschen doch von einer großen Zukunft. Gerne werden sie allerdings noch missverstanden. Liebe ist kein Zustand, der uns einfach wie ein Glück überkommt und Freiheit ist keine Art Grenzenlosigkeit, in der man machen könnte, was man wollte. Vielmehr sind Liebe und Freiheit in erster Linie Fähigkeiten - sogar die höchsten Fähigkeiten, zu denen sich ein Menschen-ICH aufschwingen kann. Selbst die Götter vermochten dem Menschen Liebe und Freiheit nicht einfach zu schenken. Stattdessen muss der Mensch sie individuell erringt. Dies ist schlussendlich der Sinn unseres Daseins hier auf der Erde. Die menschliche Geschichte mit all ihrem Leid, den Kriegen, den Auseinandersetzungen, der täglichen Zwietracht, der Missgunst, dem Neid, der Erniedrigung und den Lügen ist keine „Strafe" Gottes als Folge des Sündenfalls, sondern sie ermöglicht dem Menschen Schritt für Schritt geistig autonom zu werden. Ohne Luzifer wäre dem Menschen diese Entwicklung verschlossen geblieben.

So gesehen stellt sich die „Schuld" Gottes ganz anders dar. Man könnte die Seele des Menschen profaner Weise mit einem Ball vergleichen, den die Götter ein Stück unter die Wasseroberfläche drücken mussten, damit er anschließend umso höher hinausschnellen kann. Die geistige Welt versah den Menschen mit Leidenschaften und Begierden, um ihm die Kraft zu geben, sich nach dem Höchsten zu strecken. Von dieser Seite aus betrachtet, eröffnete die geistige Welt uns mithilfe der Tat Luzifers ein riesiges Fenster der Entwicklung. Geistige Autonomie war bislang ein "Privileg" der Schöpfermächte. Ehrfurchtsvoll kann man vor einem solchen Gedanken verweilen.

Aber die „Sünde der Welt" musste von den Göttern auch wiederum getilgt werden. Freiheit bedeutet auch für die Schöpfermächte, nicht nur in den Folgen des eigenen Handelns leben zu müssen, sondern leben zu wollen. Der Ausgleich des Sündenfalls war eine gewollte Notwendigkeit und aus diesem Grund sandte Gott seinen Sohn auf die Erde. Erst jetzt sind wir beim eigentlichen Weihnachtsmysterium angelangt.

Nach christlicher Auffassung offenbart sich Gott in dreierlei Gestalt: im Vater, im Sohn und im Heiligen Geist. Die Dreifaltigkeit Gottes wird auch als Trinität bezeichnet. Wenn es nun heißt, dass Gott seinen Sohn auf die Erde schickte, so ist dies eigentlich eine Aussage, die für die Vergangenheit zwar sinnvoll war, für die heutige Zeit aber gedanklich geschärft werden muss. Der Unterschied besteht nur in einem Detail: Gott hatte nämlich keinen Sohn, den er auf die Erde schicken konnte, sondern er war der Sohn selbst! Gott selbst stieg auf die Erde nieder und offenbarte sich der Menschheit in seinen Sohneskräften. Gott selbst wurde Mensch. Dies war dem Himmel gleichsam eingeschrieben, weshalb die Heiligen Drei Könige es am Verlauf der Sterne lesen konnten.

Diesem besonderen Kind, welches in Betlehem geboren wurde, oblag es, die Welt zu retten. Für den heute aufgeklärten Menschen klingt das ein wenig radikal. Sollte dies wirklich in letzter Konsequenz bedeuten, dass wir ohne dieses Kind verloren gewesen wären? In der Tat. Ohne die Geburt dieses Kindes, das nach 33 Jahren sein Leben am Kreuz beendete, wäre die Menschheit geistig zugrunde gegangen. Warum verhält es sich so? Durch die luziferische Imprägnierung des Menschen mit Leidenschaften und Begierden wurde noch eine weitere Entwicklung in Gang gesetzt, die wir bislang nicht beleuchtet haben. Blicken wir dafür noch einmal gleichsam mit einem Vergrößerungsglas auf den Sündenfall.

Wir könnten das ursprüngliche Menschenwesen vor dem Einfluss Luzifers mit einer zarten Seifenblase vergleichen. Innenraum und Außenwelt waren lediglich durch eine hauchdünne Membran getrennt. Das Innenleben des Menschen war mit seiner Umgebung noch fast identisch - beides bestand aus reinem, göttlichem Sein. In dem Inneren des Menschen befand sich noch nichts Eigenes, noch nichts Individuelles, nichts vom Umkreis Verschiedenes. Jeder Impuls, der von außen kam, ging sozusagen wie eine Welle durch das Menschenwesen hindurch. Ungefiltert setzte sich jeder Eindruck im Menschen fort. So auch später der Einfluss der Schlange bzw. Luzifers. Der Mensch befand sich noch in vollkommenem Einklang mit seiner Umgebung. Dieses Dasein war paradiesisch, ja es war das Paradies selbst. Es herrschte Bedürfnislosigkeit, weil alle Bedürfnisse in rechtem Maß erfüllt wurden; es herrschte Glückseligkeit, weil sich der Mensch in vollkommener Harmonie mit seiner Umgebung befand. Allerdings war sich der Mensch dieses „goldenen Zeitalters" selbst nicht bewusst. Wir lebten in der Vollkommenheit des göttlichen Seins, aber wir wussten es nicht.

Worin bestand in dieser Situation die Tat Luzifers? Sie erscheint zunächst ganz unspektakulär. Luzifer erzeugte im Menschen einen Überschuss an Gefühlen und zwar in Bezug auf seine Wahrnehmungen. Vor dem Sündenfall war dem Menschen Subjektives ganz und gar fremd. In ihm befand sich noch nichts Eigenes. Stattdessen offenbarten die Gefühle des Menschen immer nur das reine Wesen dessen, was wahrgenommen wurde. Jede Wahrnehmung rief stets ein objektives Gefühl hervor. Hätte der Mensch beispielsweise die Farbe Rot in seiner Umgebung wahrgenommen, so wäre in ihm das Gefühl von Bewegung und Lebendigkeit entstanden. Dieses Gefühl lag in der Farbe selbst begründet. Die Farbe Grün wiederum hätte er als beruhigend empfunden. Mit Luzifer änderte sich das. Luzifer schuf ein Zuviel an Gefühlen im Innern des Menschen - einen Überschuss. Plötzlich erlebte der Mensch mehr, als in der Wahrnehmung selbst lag. Jetzt sah der Mensch nicht nur das Rot, welches ihn belebte, sondern er empfand darüber hinaus ganz individuell Freude oder aber Missfallen daran. Vorlieben und Abneigungen entstanden. Seine Gefühle wurden subjektiv. Was geschah mit diesem Zuviel an Gefühlen? Dieses Zuviel begann gewissermaßen ein Eigenleben zu führen. Die überschüssigen Gefühle lösten sich vom Wahrgenommenen und strahlten auf den Wahrnehmenden selbst zurück. Sie blieben beim Menschen, wodurch sich in seinem Inneren immer mehr Subjektives ansammelte. Daraus entwickelte sich schlussendlich unser subjektives Seelenleben. Dies war der Beginn einer zunehmend stärker werdenden Individualisierung, die dann zu unserem heutigen Ego führte.

Das Tierreich vollzog diese Entwicklung nicht mit. Bei den Tieren ist die Gefühlswelt objektiv geblieben. Ihre Empfindungen gegenüber den Wahrnehmungen blieben weiterhin authentisch. Gerade dies ist das Charakteristische von Instinkten. Sie lassen keinen Platz für Subjektivität. Tiere wissen zielsicher, wo sie ihr Futter suchen müssen, was sie fressen dürfen und was nicht. Und sie wissen ebenfalls, wann sie genug gefressen haben. Sie handeln nie grundsätzlich falsch in Bezug auf ihre Umgebung. Ihre Instinkte geben ihnen objektiv Auskunft darüber, was zu tun und zu lassen ist. So war es auch beim Menschen, bevor der Sündenfall eintrat.

Aber dann bewirkte Luzifer den Überschuss an Empfindungen. Von nun an offenbarten Gefühle immer weniger das Wesen dessen, was man wahrnahm, sondern sie strahlten vielmehr auf den Wahrnehmenden selbst zurück. Anhand dieser subjektiven Gefühlswelt entwickelte sich das Eigenbewusstsein des Menschen, sein Ego. Nun wurden, um bei dem Bild der Seifenblase zu bleiben, Innen- und Außenwelt immer verschiedener. Lust und Unlust, Sympathie und Antipathie bewirkten, dass sich das Seelenleben des Menschen fundamental veränderte. Seine Innenwelt wurde individueller - seine seelisch-geistige Haut dafür aber immer undurchlässiger. Für unsere Wahrnehmung trennten sich das Ego und unser höheres Selbst. Unser höheres Selbst ist die ursprünglich göttliche Substanz, aus der wir geschöpft wurden. Während wir mit unserem Ego Selbst-Bewusstsein erlangten, indem wir uns über Fähigkeiten und Unfähigkeiten, über Geschlecht, Aussehen, Alter, Status, Beruf und Vermögenswerte „definieren", blieb unser höheres Selbst als eigentlicher Lenker unseres Schicksals unbewusst im Hintergrund. Immer stärker empfanden wir die Nähe unserer individuellen Seelenwelt, während die geistige Welt immer ferner ins Jenseits rückte. Luzifer trennte, was zuvor eine Einheit war.

Diese Entwicklung ist viel bedeutungsvoller, als es vielleicht zunächst erscheinen mag. Sie barg die Kraft in sich, den geistigen Tod der Menschheit einzuleiten. Was wäre geschehen, wenn sich die von Luzifer angestoßene Entwicklung fortgesetzt und sich der Christus nicht auf Erden inkarniert hätte? Immer größer wäre das menschliche Ego geworden, immer stärker hätten unsere Gefühle nur als Spiegel unseres Selbst gedient, immer subjektiver hätten wir unsere Wahrnehmungen interpretiert. Wir hätten keinen objektiven Weg mehr zur Welt gefunden und wären gänzlich in uns gefangen gewesen. Weder von außen nach innen noch von innen nach außen hätten geistige Impulse dringen können. Unmöglich wäre es geworden, einen Weg zum anderen Menschen zu finden. Wir wären selbst inmitten vieler Menschen innerlich einsam geblieben. Einsamkeit in höchster Potenz hätte sich wie eine eiserne Faust um unsere Seele gelegt. Unsere „geistige Haut" hätte sich verhärtet und wäre undurchdringbar geworden. In einem solchen Gefängnis der Subjektivität, welches sich um uns geschlossen hätte, wäre die Menschheit geistig zugrunde gegangen. Es ist schwer, sich von dieser Art Einsamkeit einen Begriff zu bilden. Ihr bedeutsamstes Merkmal wäre wohl gewesen, dass in ihr kein Funke Hoffnung mehr gelebt hätte.

Zwar hat der Christus die Tat Luzifers nicht ungeschehen gemacht, aber er hat sie gleichsam gewendet. Der Christus eröffnete dem Menschen einen neuen Weg aus der Vereinsamung seines subjektiven Egos. Wodurch konnte der Christus das bewirken? Er erreichte dies durch das wirksamste Mittel gegen Subjektivität - durch eine Liebestat. Wirklich zu lieben bedeutet in höchstem Maße objektiv zu sein. Liebe leistet den Verzicht auf Selbstbespiegelung. Das innerste Sein des anderen will sie wahrnehmen, nicht sich selbst. Zu lieben heißt selbstlos sein.

Aber nun tut sich ein Problem auf. Wir haben oben beschrieben, wie sich unser Selbst nur durch die Hinwendung zur Subjektivität entwickeln konnte. Auf der anderen Seite stellten wir jetzt fest, dass Objektivität wiederum nur durch Selbstlosigkeit denkbar ist. Müssen wir also unser mühsam errungenes Selbst durch Selbstlosigkeit ersetzen? Müssen wir auf unser Selbst wiederum verzichten, wenn wir nicht weiter in Subjektivität versinken wollen? Beides zugleich scheint sich offensichtlich zu widersprechen. Wie könnte man ein Selbst besitzen und zugleich „selbst-los" sein? Aber gerade diesen Widerspruch erhob der Christus zum höchsten Ziel menschlicher Entwicklung: das „Selbstlose Selbst". Lange kann man über diese beiden Worte nachdenken. Welch unglaubliche Spannung liegt in dieser Polarität. Der Christus beschritt diesen Weg. Er erlitt als das höchste Selbst den selbstlosesten aller Tode. Es wäre für den Christus ein Leichtes gewesen, bei seiner Gefangennahme jede erdenkliche Macht einfach hinwegzufegen. Aber er tat nichts dergleichen, sondern er vollbrachte das Schwerste. Er ließ sich widerstandslos von seinen eigenen Geschöpfen, den Menschen gefangen nehmen, blutig geißeln und schließlich vor aller Welt ans Kreuz schlagen. „Was soll das für ein Gott sein?", haben sich damals nicht nur die Juden gefragt. Damit berühren wir das Einzigartige des Christentums. Der höchste Gott verzichtete vollständig auf seine Göttlichkeit. Das machtvollste Wesen enthielt sich jeglicher Macht. Das höchste Selbst durchlitt den selbstlosesten Tod.

Durch dies Tat schweißte der Christus beide Begriffe unwiederbringlich zusammen. Er durchbrach das Gesetz des vermeintlich Stärkeren und veränderte damit die Logik der ganzen Erdenentwicklung. Im Alten Testament lautete diese Logik: „Aug um Aug und Zahn um Zahn." (Ex 21, 23-25) Aber der Christus sagt: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin" (Mt 5,39). Ein praktisches Verständnis dieses Satzes liegt heute noch in weiter Ferne. Aus ihm spricht aber nicht Hilflosigkeit oder Schwäche, sondern vielmehr die überragende Stärke eines Selbst, das sich selbst noch gegen einen Aggressor in Liebe hinzugeben vermag. Mit diesem „Selbstlosen Selbst" schuf der Christus das Gegenmittel zur luziferischen Verführung und nahm hinweg „die Sünde der Welt".

Das Geheimnis des „Selbstlosen Selbst" besteht auf den ersten Blick in einem Widerspruch: Obwohl es sich ganz verschenkt, wird es nicht weniger, sondern im Gegenteil mehr. Insofern war der Tod des Christus' zugleich auch eine Geburtsstunde. Es war der Moment, in welchem der Christus gleichsam einen Ableger seines „Selbstlosen Selbst" in jede einzelne Menschenseele pflanzte. Diesen Keim trägt seither jeder Mensch in sich.

Im Augenblick des Todes am Kreuz, als das Blut Christi die Erde berührte, durchdrang der mächtigste Impuls die Menschheit. In jedes Menschen-ICH senkte sich ein neuer Samen, der uns letztendlich aus der erdrückenden Subjektivität führen kann. Ein neues geistiges Band von ICH zu ICH wurde möglich. Es ist der Keim zum „Selbstlosen Selbst", zur Objektivität unserer Gefühlswelt, die Geburt der zukünftigen Liebes- und Freiheitsfähigkeit des Menschen.

Zu Weihnachten wird diese Hoffnung in Jesus von Nazareth geboren. Das Weihnachtsfest ist ein Versprechen Gottes. Es besagt, dass trotz der unsäglich leidvollen Dunkelheiten dieser irdischen Welt, die Frucht der „Liebe" und „Freiheit" einst all dieses Leiden noch mehr als aufwiegen wird.

 

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