Christliche Einweihung

Jede große geistige Strömung hat ihre exoterische und ihre esoterische Perspektive. Während die exoterische Seite allgemein bekannt ist, da sie in den Gemeinden und Glaubensgemeinschaften offen gelebt wird, ist dies mit der esoterischen Seite keinesfalls so. Sie spielt und spielte sich mehr im Verborgenen ab. Insbesondere in der Vergangenheit ging eine esoterische Schulung meistens mit der Entsagung weltlicher Ambitionen einher. Das ganze Leben wurde der Erweckung bestimmter Empfindungsfähigkeiten unterstellt. So stieg man in der Einweihung Stufe um Stufe höher. Das esoterische Christentum hat die Stufen seiner Einweihung gleichsam in den Bildern des Passionsweges „versteckt“. Rudolf Steiner erläutert in dem folgenden Vortrag, welche Empfindungsfähigkeiten in den 7 Stationen oder Stufen der christlichen Einweihung ausgebildet wurden.


Rudolf Steiner, Gesamtausgabe 94, 8. Vortrag Paris, 1. Juni 1906 

„Seit den Ursprüngen des Christentums und der Zeit der Apostel hat es die christliche Einweihung immer gegeben, und sie ist stets dieselbe geblieben während des Mittelalters und bis auf unsere Tage, bei den zahlreichen religiösen Orden ebenso wie bei den Rosenkreuzern. Diese Einweihung besteht aus geistigen Übungen, die gleiche und unveränderliche Symptome hervorrufen. Die Gesellschaften, die sie in tiefem Geheimnis verwirklichen, sind der wahre Herd allen spirituellen Lebens wie auch allen religiösen Fortschritts der Menschheit.

Die christliche Einweihung ist in gewisser Hinsicht schwieriger als die Einweihung der Antike. Das hängt zusammen mit dem Wesen und der Mission des Christentums, das in die Welt kam zu der Zeit, in welcher der Mensch den tiefsten Abstieg in die Materie vollzog. Dieser Abstieg muss ihm ein neues Bewusstsein verleihen, aber aus dieser Tiefe, aus dieser materiellen Dichte aufzusteigen, fordert von ihm eine größere Anstrengung und macht die Einweihung schwieriger. Deshalb fordert der christliche Meister von seinem Schüler einen höheren Grad von Demut und von Devotion.

Die christliche Einweihung hat immer in sieben Stufen bestanden. Vier davon entsprechen vier Stationen des Kalvarienberges.
Es sind folgende:

Erstens: Die Fußwaschung
Zweitens: Die Geißelung
Drittens: Die Dornenkrönung
Viertens: Die Kreuztragung
Fünftens: Der mystische Tod
Sechstens: Die Grablegung
Siebentens: Die Auferstehung

Die Fußwaschung ist eine vorbereitende Übung rein moralischer Natur. Sie bezieht sich auf die Szene, wo Christus vor dem Osterfest den Jüngern die Füße wäscht (Joh.-Ev. 13). «Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Knecht ist nicht größer denn sein Herr, noch der Apostel größer denn der, der ihn gesandt hat.» Die Theologie gibt diesem Akt eine rein moralische Interpretation und sieht darin lediglich ein Beispiel tiefer Demut und absoluter Unterwerfung des Meisters unter seine Schüler und unter sein Wirken. Das sehen auch die Rosenkreuzer darin, aber in einem viel tieferen Sinn, der die Evolution aller Wesen in der Natur einbezieht. Es ist eine Anspielung auf das Gesetz, dass das Obere das Produkt des Unteren ist. Die Pflanze könnte zum Stein sagen: Ich stehe über dir, denn ich habe das Leben, das du nicht hast, aber ohne dich könnte ich nicht existieren, denn aus dir ziehe ich die Säfte, die mich ernähren. - Und das Tier konnte zur Pflanze sagen: Ich stehe über dir, denn ich habe Empfindung, Leidenschaften, Willensregungen, die du nicht hast, aber ohne die Nahrung, die du mir gibst, ohne deine Blätter, Gräser und Früchte, könnte ich nicht leben. - Und der Mensch müsste zu den Pflanzen sagen: Ich stehe über euch, aber ich verdanke euch den Sauerstoff, den ich atme. Er müsste zu den Tieren sagen: Ich habe eine Seele, die ihr nicht habt, aber wir sind Brüder und Gefährten, und wir ziehen uns empor in der allgemeinen Evolution. - Der esoterische Sinn der Fußwaschung ist also, dass der Christus Jesus, der Messias, der Sohn Gottes, nicht sein könnte ohne die Apostel.

Der Schüler, der über dieses Thema während Monaten und manchmal jahrelang meditiert hat, erlebt die Vision der Fußwaschung auf dem astralen Plan während des Schlafes. Alsdann kann er aufsteigen zum zweiten Grad der christlichen Einweihung:

Die Geißelung: Auf dieser Stufe lernt der Mensch der Geißel des Lebens zu widerstehen. Das Leben bringt uns Leiden aller Art: physische und moralische, intellektuelle und geistige. In dieser Phase empfindet der Schüler das Leben wie eine schreckliche und unaufhörliche Tortur. Er muss sie ertragen mit einem vollkommenen Gleichmut der Seele und stoischem Mut. Er darf keine Furcht mehr kennen, sei sie physischer oder moralischer Art. Ist er furchtlos geworden, dann sieht er im Traum die Szene der Geißelung. Im Verlauf einer anderen Vision sieht er sich selbst anstelle von Christus gegeißelt. Dieses Ereignis ist von bestimmten körperlichen Symptomen begleitet und überträgt sich durch eine Steigerung des ganzen Empfindungsvermögens auf das gesamte Lebens- und Liebegefühl.

Ein Beispiel dieser in das Verstandesleben übertragenen überscharfen Empfindungsfähigkeit findet sich im Leben Goethes. [… ] Wodurch machte Goethe diese wunderbaren Entdeckungen, die ihm allein schon die Unsterblichkeit sichern würden? Gewiss durch seinen hohen Verstand, aber auch durch seine lebendige und tiefe Sympathie mit allen Wesen und mit der ganzen Natur. Diese Empfindsamkeit ist eine Verfeinerung und Erweiterung der Lebens- und Liebeskräfte. Sie entspricht dem zweiten Grad der christlichen Einweihung und ist das Resultat der Prüfung der Geißelung. Der Mensch erwirbt ein Gefühl der Liebe für alle Wesen, das ihn im Inneren der Natur leben lässt.

Die Dornenkrönung: Hier muss der Mensch lernen, der Welt zu trotzen, moralisch und intellektuell, Verachtung zu ertragen, wenn man das, was ihm am teuersten ist, angreift. Er muss aufrecht bleiben können, wenn alles ihn zu Boden drückt; ja sagen können, wenn alle Welt nein sagt. Das gilt es zu lernen, bevor man weitergeht. Ein neues Symptom bietet sich jetzt dar, die Unterscheidungsgabe oder vielmehr die Fähigkeit, augenblicklich drei Kräfte auseinanderzuhalten, die beim Menschen immer miteinander verbunden sind: Wollen, Fühlen, Denken. Man muss lernen, sie nach Belieben zu trennen oder zu vereinigen. Solange zum Beispiel ein äußeres Ereignis uns vor Begeisterung außer uns bringt, sind wir nicht reif, denn dieser Enthusiasmus, ausgelöst durch das Ereignis, kommt nicht von uns und kann sogar einen erschütternden Einfluss auf uns ausüben, dessen wir nicht Herr sind. Die Begeisterung des Schülers soll ihren Ursprung einzig in den Tiefen des mystischen Lebens finden. Es gilt also leidenschaftslos zu bleiben gegenüber jedem Ereignis, welcher Art es auch sei. Einzig auf diese Weise erlangt man die Freiheit. Diese Trennung zwischen Gefühl, Verstand und Willen ruft im Gehirn eine Veränderung hervor, die charakterisiert ist durch die Dornenkrönung. Damit sie sich gefahrlos vollziehen kann, ist es nötig, dass die Persönlichkeitskräfte genügend geschult und vollkommen ausgeglichen sind. Verhält es sich nicht so, oder hat der Schüler einen schlechten Führer, kann diese Veränderung den Wahnsinn entzünden. Der Wahnsinn beruht nämlich auf nichts anderem als dieser Spaltung, die sich außerhalb des Willens vollzieht, ohne dass die Einheit durch innere Willenskraft wieder hergestellt werden kann. Im Gegensatz dazu übt der Schüler, diese Spaltung verschwinden zu lassen, wenn er es will. Ein Blitz von seinem Willen stellt das Band zwischen den Organen und Funktionen seiner Seele wieder her, während der Riss bei dem Verrückten unheilbar werden und eine Schädigung im Zentralnervensystem herbeiführen kann.

Im Verlauf der Etappe, die man in der christlichen Einweihung die Dornenkrönung nennt, tritt ein furchteinflößendes Phänomen auf, das die Bezeichnung «Hüter der Schwelle» trägt und das man auch die Erscheinung des Doppelgängers nennen könnte. Das geistige Wesen des Menschen, gebildet aus seinen Willensströmungen, seinen Wünschen und seinen Verstandesfähigkeiten, erscheint alsdann dem Eingeweihten als Bild im Traumbewusstsein. Und dieses Bild ist manchmal abstoßend und Schrecken einflößend, denn es ist ein Ergebnis seiner guten und schlechten Eigenschaften und seines Karma; von diesem allem ist es die bildhafte Personifikation auf dem Astralplan. Das ist der schlimme Fährmann im Totenbuch der Ägypter. Der Mensch muss ihn besiegen, um sein höheres Ich zu finden. Der Hüter der Schwelle, ein Phänomen des hellsichtigen Schauens bis in die ältesten Zeiten hinein, ist der eigentliche Ursprung all der Mythen über den Kampf des Helden mit dem Ungeheuer, des Perseus und des Herakles mit der Hydra, des heiligen Georg und des Siegfried mit dem Drachen.

Der vorzeitige Eintritt der Hellsichtigkeit und die plötzliche Erscheinung des Doppelgängers oder des Hüters der Schwelle kann denjenigen, der nicht alle Vorbereitungen befolgt und alle dem Schüler auferlegten Vorsichtsmaßnahmen wahrgenommen hat, zum Wahnsinn führen.

Die Kreuztragung bezieht sich wiederum symbolisch auf eine seelische Tugend. Diese Tugend, die darin besteht, die Welt gewissermaßen im Bewusstsein zu tragen, wie Atlas die Welt auf seiner Schulter trug, könnte man nennen: das Gefühl der Einswerdung mit der Erde und mit allem, was sie in sich birgt. Man nennt es in der östlichen Einweihung: das Ende des Gefühls der Trennung.

Die Menschen, insbesondere der moderne Mensch, identifizieren sich im Allgemeinen mit ihrem Körper. Spinoza nennt in seiner «Ethik», die erste fundamentale Idee des Menschen: die Idee des Körpers in Tätigkeit. Der Schüler muss den Gedanken in sich pflegen, dass sein Körper in der Gesamtheit der Dinge nicht wichtiger ist als irgendein anderer Körper, sei es nun der eines Tieres, ein Tisch oder ein Stück Marmor. Das Ich endet nicht an der Haut: es ist eins mit dem ganzen Weltenleben wie unsere Hand mit dem Ganzen unserer Leiblichkeit. Was wäre die Hand für sich allein? Ein Fetzen! Was wäre der menschliche Körper ohne die Erde, auf der er steht, ohne die Luft, die er atmet? Er würde sterben, denn er ist nur ein kleines Teilchen dieser Erde und ihrer Atmosphäre. Aus diesem Grunde muss der Schüler sich in jedes Wesen versenken und mit dem Geist der Erde einswerden.

Wiederum ist es Goethe, der eine grandiose Beschreibung dieser Stufe im ersten Teil seines «Faust» gegeben hat, wo der Erdgeist, den Faust beschwört, ihm erscheint und spricht:

In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben;
So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Sich mit allen Wesen eins fühlen, bedeutet nicht, seinen Körper verachten, sondern ihn wie einen äußeren Gegenstand tragen, so wie der Christus sein Kreuz trug. Der Geist soll den Leib tragen, wie die Hand den Hammer hält. Alsdann kommen dem Schüler die okkulten Kräfte zum Bewusstsein, die in seinem Körper schlummern. So kann er im Verlauf seiner Meditation die Stigmata auf seiner Haut hervorrufen. Das ist dann das Zeichen, dass er reif ist für die fünfte Stufe, wo sich ihm in einer plötzlichen Erleuchtung enthüllt:

Der mystische Tod: Während er den größten Leiden ausgesetzt ist, sagt sich der Schüler: Ich erkenne, dass die ganze Sinneswelt nur eine Illusion ist. Er hat wahrhaftig das Gefühl, zu sterben und in die Finsternis hinunterzusinken. Dann aber sieht er, wie die Finsternisse zerreißen und ein neues Licht erscheint: das Astrallicht erglänzt. Das ist das Zerreißen des Vorhangs im Tempel. Dieses Licht hat nichts gemein mit dem Licht der Sonne. Es sprüht hervor jenseits der Dinge und des Menschen. Die Empfindung, die es verursacht, ähnelt in nichts derjenigen des äußeren Lichtes. Gebrauchen wir, um uns eine Vorstellung davon zu verschaffen, den folgenden Vergleich: Man stelle sich vor, man entferne sich von einer lärmenden Stadt und dringe in einen dichten Wald ein. Nach und nach verstummen die Geräusche, und die Stille wird vollkommen. Schließlich fängt man an zu bemerken, was jenseits der Stille ist, den Nullpunkt zu überschreiten, wo jeder äußere Laut erstorben ist. Der Laut kehrt von der anderen Seite des Lebens für das innere Ohr zurück. So nimmt sich die Erfahrung aus, welche die Seele erlebt, wenn sie in die Astralwelt eindringt. Sie steht in Berührung mit der inneren Eigenschaft der Dinge, die sie kennt - so wie man jenseits der Null in eine wachsende Reihe negativer Zahlen eintritt.

Man muss alles verloren haben, um alles wieder zu gewinnen, auch seine eigene Existenz. Aber in dem Moment, wo man alles verliert, scheint es, dass man sich selbst abstirbt und außerhalb seiner selbst zu leben beginnt. Das ist der mystische Tod. Hat man ihn hinter sich gebracht, so ist der Zeitpunkt gekommen für:

Die Grablegung: Da fühlt der Mensch sich durchdrungen von dem Gefühl, dass ihm sein eigener Körper fremd geworden ist und dass er völlig eins ist mit dem Planeten. Er ist mit der Erde verschmolzen und findet sich wieder im Leben des Planeten.

Die Auferstehung: Es ist ein unaussprechliches Gefühl, das man unmöglich beschreiben kann, es sei denn als «im Innersten des Heiligtums». Denn für diese letzte Stufe fehlen alle Worte, fehlt jeder Vergleich. Auf dieser Stufe angekommen, empfängt man die Gabe der Heilung. Man muss aber hinzufügen, dass derjenige, der sie erhält, gleichzeitig auch die gegenteilige Fähigkeit erhält: krank zu machen, denn das Negative begleitet stets das Positive. Daher die große Verantwortung, die mit dieser Fähigkeit verbunden ist und die man so charakterisieren kann: das schöpferische Wort entströmt der Seele im Feuer.“

Ihr Kommentar