Warum ein Lerntagebuch führen?

Ein Beitrag von Michael Harslem (Entwicklungsbegleiter)

Wie halten Sie normalerweise fest, was Ihnen an guten Ideen einfällt, was Sie in ei­nem Vortrag Neues erfahren, was Sie in einem Seminar, einer Übung, im täglichen Leben ... lernen? Welche Wunder Ihnen begegnen?

Meine Erfahrung ist: Wenn ich es aufschreibe, merke ich es mir besser und ich kann später noch einmal darauf zurückgreifen!

Das tun Sie vielleicht hier und dort auch und haben vielleicht auch viele verschiedene Zettel an verschiedenen Orten aufgehoben, die Sie nicht mehr finden, wenn Sie sie doch einmal brauchen. Das ging mir auch so. Bis ich anfing, Tagebuch zu schreiben. Da wurden mir die Fragen, Erkenntnisse und Ergebnisse des Tages auf einmal sehr deutlich und ich fragte mich zunehmend, ob das Tagebuch der richtige Ort dafür wäre, weil dort alles unsortiert und ohne Bezug aufeinander hineingeschrieben werden musste.

So kam ich auf die Idee, für jedes Lernfeld und später für jedes Projekt und für jedes Forschungsvorhaben ein eigenes gebundenes Tagebuch" anzulegen, in das alle die­ses spezielle Thema betreffenden Dinge, Gedanken, Fragen, Vorkommnisse etc. geschrie­ben werden. Später fand ich dann in der Literatur zur Aktionsforschung den Begriff des Lerntagebuches bzw. des Forschungstagebuches dafür. Inzwischen habe ich solche Bü­cher für über 90 Arbeitsfelder mit zum Teil einem „Band" bis zu über 20 „Bänden", auf die ich laufend zurückgreife und von denen ich täglich in mindestens eines eintrage. Sie sind zum zentralen Arbeitsinstrument für mich geworden.

Ich machte die Erfahrung, dass ich zu den einzelnen Themen und Lernfeldern immer mehr entdeckte, weil meine Aufmerksamkeit nun stärker fokussiert war. Ich nahm immer mehr wahr, was sich festzuhalten lohnte. Gleichzeitig bemerkte ich, wie sich damit meine Wahr­nehmungsfähigkeit ständig erweiterte. Also das Lerntagebuch zum Instrument der Wahrnehmungsschulung wurde! Ich entdeckte immer mehr Dinge, Phänomene, Qualitä­ten, Prozesse..., die ich früher übersehen, nicht gesehen, gehört, beachtet, erkannt hatte.

Mit der Zeit habe ich eine Reihe von Abkürzungen, Symbolen, Zeichen etc. entwickelt, mit denen ich meine Wahrnehmungen und Erkenntnisse sehr schnell festhalten kann. Ei­gentlich ist ein Lerntagebuch eine sehr persönliche Sache, die niemanden anderen etwas angeht. Manchmal lese ich aber auch jemandem etwas aus meinem Lerntagebuch vor, wenn wir an einer gemeinsamen Sache arbeiten.

So führe ich mit großem Nutzen für mich seit etwa 40 Jahren Lerntagebücher und möchte Sie einladen, dies auch einmal zu versuchen. Wenn Sie es ein halbes Jahr konsequent ge­führt haben, bitte ich Sie, Ihre Erfahrungen damit auszuwerten und mir mitzuteilen. Ich wür­de gerne mit denjenigen, die damit positive Erfahrungen machen, so etwas wie ein Netz­werk des Erfahrungsaustausches zur Weiterentwicklung des Lerntagebuches aufbauen.

Ein Tipp: Wenn Sie in einer Lerngruppe oder Lernpartnerschaft mit dem Lerntagebuch ar­beiten, hat es sich als sehr hilfreich erwiesen, sich zu Beginn der Arbeit damit einige Male die Lerntagebücher gegenseitig vorzulesen. Das erweitert das Spektrum der Wahrnehmungsmöglichkeiten und Aufzeichnungsmöglichkeiten ganz beträchtlich. Damit können Sie einen Eindruck bekommen von der Vielfalt der Beobachtungsmöglichkeiten, Blickwinkel, Wahrnehmungsfelder und der verschiedenen Möglichkeiten, ein Lerntagebuch zu führen.

Michael Harslem

E-Mail: michael@harslem.de
Web: https://harslem.de/

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