Kindbesprechungen

Ein Beitrag von Marcus Kraneburg (Freie Waldorfschule Freiburg - St. Georgen)

Kindbesprechungen sind ein Herzstück der Konferenzarbeit in Waldorfschulen. Dabei versucht man sich dem Wesen eines Kindes so intensiv zu nähern, dass möglichst vielfältige Schattierungen dieser Persönlichkeit hervortreten. Dadurch kann man das Kind in seiner Entwicklung unterstützen. Nicht nur für den Schüler sind Kindbesprechungen ein Geschenk, auch ein ganzes Kollegium kann sich in einem solchen Prozess geistig lebendig und gestärkt erleben. Dies ist heute wichtiger denn je! Die Tendenz zur Individualisierung, welche naturgemäß die Zentrifugalkräfte einer Gemeinschaft erhöht, macht auch vor Waldorfkollegien nicht halt. 

Es gibt verschiedene Ansätze von Kindbesprechungen. Im Folgenden soll eine Methode beschrieben werden, die versucht, das gesamte Kollegium mit einzubinden. Möglicherweise erscheint es manch einem von Nachteil, dass nicht alle Kollegen in einer Konferenz das zu besprechende Kind aus dem Unterricht kennen. Daher bevorzugen Schulen heute oft auch kleinere Runden für eine Kinderbesprechung. Bei der Methode, die nun vorgestellt werden soll, sind jedoch gerade diejenigen Kollegen besonders wichtig, die das Kind nicht kennen. An welcher Stelle sie zum Einsatz kommen, soll später beschrieben werden. Des Weiteren nimmt diese Methode dem Klassenlehrer bzw. Klassenbetreuer die Hauptlast. Die Erfahrung zeigt, dass Fachlehrer nicht selten zu Nebendarstellern werden und oft nur schon Gesagtes wiederholen können.

Die Methode gliedert sich in 4 Phasen. Es empfiehlt sich einen Gesprächsleiter zu bestimmen, der aufmerksam wahrnimmt, wann sich eine Phase rundet, um zur nächsten überzuleiten. Der Gesprächsleiter sollte sich inhaltlich nicht an der Kindbesprechung beteiligen.

 

Vorab

Es ist von Bedeutung, kein Foto von dem Kind zu zeigen oder an die Wand zu projizieren. Unser Sehsinn ist oft sehr dominant. Er überdeckt nicht selten gerade das, was wir in uns entstehen lassen wollen. Eine gute Kindbesprechung vollzieht sich ganz im inneren Bild. Dieses Bild von dem Wesen des Kindes soll aufgebaut, bewegt und verlebendigt werden. Auf diesen Prozess kommt es an.

Besonders schön ist es sogar, wenn man sich in den Tagen nach der Kindbesprechung unauffällig in die entsprechende Klasse begibt und das Kind zu entdecken versucht.

Statt eines Bildes sollten die Fachkollegen aus ihren Bereichen geeignete Arbeitsergebnisse von dem Schüler in die Mitte des Raumes legen: Aus dem Werken, dem Schreinern, der Handarbeit, dem Schmieden, dem Malen, ein Epochenheft, eine Projektarbeit ....

 

1. Phase: Äußere Erscheinung - Lebensumkreis

Als erstes sollte kurz die äußere Erscheinung des Kindes geschildert werden - nicht langatmig und bis ins letzte Detail. Vielmehr sollten nur Dinge angeführt werden, die schon ein Licht auf das Wesen des Kindes werfen. Man lasse alles weg, was nicht zum inneren Bild werden kann. Dies gelte auch für das Geburtsdatum, den Beruf der Eltern usw., es sei denn, dies trägt zum Bild bei. Dasselbe wäre für die Schilderung des Lebensumkreises zu beachten. Erwähnt werden sollte nur, was der Wesensbeschreibung des Kindes dient.

Diese 1. Phase sollte vom Klassenlehrer bzw. Klassenbetreuer dargestellt werden. 

 

2. Phase: Facettenreiche Beschreibung des inneren Wesens

An der 2. Phase ist von Anfang an das ganze Klassenkollegium beteiligt. Dieses hat sich mit entsprechender Vorlaufzeit auf die Kindbesprechung vorbereiten können.

In Erlebnissen schildern: Ein Lehrer beginnt, eine bestimmte Wesensart des Kindes beispielhaft an einem Erlebnis zu beschreiben. Man schildere die Wesensart nicht theoretisch-abstrakt, sondern konkret anhand einer erlebten Situation. Erlebtes macht lebendig. Ein Kollegium wird dadurch viel besser eintauchen können.

Überschriften geben: Einleitend gebe man seinem Beitrag eine Überschrift. Um welche Wesensart handelt es sich genau? Diese Überschrift ist wichtig. Sie hilft, präzis zu formulieren und nicht abzuschweifen. Aber auch das Kollegium ist nach jeder Überschrift neugierig, mit welchem Erlebnis sich diese Eigenschaft wohl verbinden wird.

Abwechselnd: Es geht an dieser Stelle nicht darum, dass ein Lehrer am Stück seine kompletten Eindrücke zum Kind schildert, sondern dass er zunächst nur eine eng umrissene Eigenschaft auswählt und situativ beschreibt. Später kann er sich mit einer anderen Facette erneut zu Wort melden.

Nach dem ersten Beitrag folgen andere Lehrer in loser Reihenfolge. Mehrfachmeldungen sind möglich und erwünscht. In diesem Sinne ist kein Kollege fertig, sondern man spielt sich im Klassenkollegium in schöner Weise die Bälle zu.

Des Weiteren sollte darauf geachtet werden, das Wesen des Kindes gleichgewichtig darzustellen. Auch wenn ein Kind besonders eine Seite an sich betont, sollte man bemüht sein, die andere Seite aufzufinden und sie wertschätzend zu schildern. Es gibt sie immer. Der Gesprächsleiter ist angehalten, die Ausgewogenheit der Darstellung im Blick zu haben und ggf. dazu anzuregen.

Nachfragen: Kollegen, welche das Kind nicht kennen, haben während der 2. Phase eigentlich die größte Aktivität zu leisten. Vor ihrem inneren Auge soll ja ein gänzlich unbekannter Mensch in lebendiger Weise entstehen. Daher sind diese Kollegen auch berechtigt, während der 1. und 2. Phase jederzeit Nachfragen stellen zu dürfen. Die Reihenfolge regelt der Gesprächsleiter. Je kreativer und intensiver gefragt wird, desto besser. Am Ende dieser Phase sollte jeder Kollege das Gefühl haben, das Kind innerlich vor sich zu sehen - ansonsten frage man weiter.

 

Intermezzo: Kurze Besinnungszeit

Es folgt eine kurze, stille Besinnungszeit von etwa 2 min., in der man sich innerlich auf die 3. Phase vorbereitet.

 

3. Phase: Verwandlung hin zum Bilde

Nun sind zuerst diejenigen Kollegen gefragt, welche das Kind nicht kennen. Es geht in dieser 3. Phase darum, das wirksamste pädagogische Mittel zu nutzen, welches wir haben: Das Bild. Es wirkt langfristig, weit über den Moment hinaus.

Man versuche das Wesen des Kindes, so wie es in einem entstanden ist, in ein Bild zu fassen. Man bediene sich dazu in besonderem Maße der drei Naturreiche: Tiere, Pflanzen, Steine. Der Mensch spiegelt sich im ausgebreiteten Tierreich wider, aber auch in der Pflanzenwelt, selbst in den Qualitäten des Mineralischen. Vielfältigstes darf hier nebeneinander gestellt werden. Man kann ein Motiv aufgreifen und es erweitern, aber man bewerte andere Motive nicht. Es braucht kein einheitliches Bild entstehen. Auch das Klassenkollegium steigt schließlich in den Prozess ein.

Bildhaftigkeit: Man versuche tatsächlich im Bild zu bleiben und beginne nicht über eine bestimmte Eigenschaft des Kindes im Allgemeinen zu sprechen. Aus der Anthroposophie wissen wir, dass die geistige Welt mit diesen Bildern arbeitet kann. Trifft ein Bild in Ihren Augen nicht die Wirklichkeit, so darf man es getrost stehen lassen. Es erfährt im Geistigen von allein seine Korrektur. Das, was zählt, ist die innere Bemühung des Kollegiums während dieser Kindbesprechung.

Wollte man diesen Prozess mit einem Märchen vergleichen, so müsste man Rumpelstilzchen heranziehen. Rumpelstilzchen erscheint als zauberkundiges Wesen immer nur nachts und es vermag das wertlose Stroh in kostbares Gold zu verwandeln. Ähnlich verhält es sich mit den Bildern, die wir wertschätzend an dem Wesen des Kindes entwickeln. Sie werden für das Kind zu stützenden Kräften. Es gehört heute zum Allgemeinwissen, dass Gedanken in der Welt Wirkungen hervorrufen. Durch die Bilder in dieser 3. Phase verleihen wir unseren Gedanken Dauer. Wir unterstützen hiermit die Entwicklung des Kindes auf mentaler Ebene.

Eine solche Wesensbegegnung kann persönlich, aber auch im Kollegium als beglückend und zutiefst bewegend erlebt werden.

 

Intermezzo: Kurze Besinnungszeit

Es folgt eine kurze, stille Besinnungszeit von etwa 2 min, in der man sich innerlich auf die 4. Phase vorbereitet.

 

4. Phase: Hilfestellung

In Phase 4 lautet die Frage, ob sich auch äußerliche Hilfestellungen für das Kind ergeben mögen. Dies muss nicht immer der Fall sein. Insofern ist diese letzte Phase flexibel und freilassend zu handhaben. Eine Kindbesprechung ist nicht nur dann erfolgreich, wenn in Phase 4 etwas "herauskommt". Und doch lasse man sich Zeit zu überlegen, wie man ganz praktisch dem Kind in seiner Entwicklung helfen kann.

Am Ende hätte der Klassenlehrer bzw. Klassenbetreuer die Möglichkeit - so er möchte - die Kindbesprechung mit einigen Worten abzurunden.

 

Nachklang

Wertvoll ist es, wenn sich Kollegen dazu entschließen, am Abend vor dem Schlafengehen noch einmal kurz in eines der entstandenen Bilder einzutauchen.

 

Nächste Konferenz

Weiterhin ist es sinnvoll, in der nächsten Konferenz die Möglichkeit zu geben (max. 10 min) mit einigen Fragen kurz auf die Kindbesprechung zurückzublicken: Haben mich Bilder aus der Kindbesprechung die Woche über begleitet oder auch nicht? Haben sich Bilder verändert? Wurde in mir auf anderem Felde etwas angeregt? Ist mir Weiteres aufgegangen?

Wichtig: Es geht nicht darum eine 2. Kindbesprechung an die 1. anzuschließen. Daher seien die Beiträge auch nur andeutungsweise formuliert. Der Gesprächsleiter achte konsequent auf max. 10 min.

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