„Fluss der Bewegung“ – eine Kettenreaktionsmaschine
Ein Projekt aus dem Physikunterricht der Rudolf-Steiner-Schule München-Schwabing von Walter Kraus
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VORGESCHICHTE
Im Alter von 8 Jahren zog ich mit meiner Familie aufs Land. Bei meinen ersten Erkundungen entdeckte ich das Wasserrad der Dorfmühle. Die gleichmäßige Bewegung, die Kraft des Wassers, die diese riesigen Mühlsteine bewegen kann, faszinierte mich sogleich. Vielleicht spielte dabei auch die Sehnsucht nach einem Ding, das aus sich selbst läuft, einem Perpetuum Mobile also, eine Rolle. Im nahegelegenen Wald stieß ich dann auf einen Bach. Dieser war in den kommenden Wochen gleichsam meine Heimat. Ich baute Wasserräder, grub Kanäle, verengte den Bachlauf, um den Wasserstrom und somit die Umdrehung des Rades zu erhöhen. An einem Wasserrad befestigte ich Dosen, um das Wasser in die Höhe zu heben und über ausgehöhlte Pflanzenstängel weiterzuleiten. Mit 13 Jahren bauten wir dann im Handwerksunterricht eine Kugelbahn. In meine Konstruktion hatte ich einen Looping und zwei Tunnels eingebaut. Den Ablauf der Natur in Bahnen zu leiten begeisterte mich. Eine weitere Anregung erhielt ich als Erwachsener durch den Film „Der Lauf der Dinge“ der Schweizer Künstler Peter Fischli und David Weiss.
PROJEKTUNTERRICHT – PHYSIK
So kam ich im letzten Schuljahr auf die Idee einen Projektunterricht anzubieten, in dem Schüler eine Kettenreaktion aus den 4 Elementen aufbauen könnten. Die Ursache-Wirkung-Inszenierung brauchte keinen aus dem Alltag bekannten Sinn besitzen. Wir hielten uns an einen Ausspruch des englischen Philosophen David Hume (1711-1776):„Daraus, dass eines auf das andere folgt, folgt gar nichts.“
Es meldeten sich acht Schüler aus der 9. Klasse. Sie bauten in sechs Wochen mit je drei Doppelstunden pro Woche ein „Domino“ aus Alltagsgegenständen mit elf Stationen.
Das Angebot zur Präsentation der Installation auf einer Ausstellungseröffnung veranlasste mich, zudem einen einwöchigen Ferienkurs anzubieten. Hier bauten die Schüler ein Kettenreaktions-Spektakel aus Feuer, Wasser, Dampf und Schwerkraft mit 28 Stationen und einer halbstündigen Ablaufdauer.
Wir präsentierten unsere Installation, die den Namen „FLUSS DER BEWEGUNG“ erhielt, im Artehof CASA DE MAIS, der südlich von München gelegen ist. Es folgten weitere Vorführungen in der Turnhalle unserer Schule für die Teilnehmer der vom Bund der Freien Waldorfschulen organisierten Lehrerherbsttagung „Im Wahrnehmen tätig werden“ und für unsere Schüler.
AUS SCHÜLERAUFSÄTZEN:
In Aufsätzen schildern Schüler unserer 6. Klasse ihre Erlebnisse und Beobachtungen beim „FLUSS DER BEWEGUNG“, wobei erstaunlich ist, wie begeistert und lückenlos - d.h. ohne eine Station auszulassen – sie dies taten:
Am Anfang kamen wir in die Turnhalle und sahen viele kleine und große Geräte, die Fenster waren mit schwarzen Folien verdeckt. (Kathrin). Am Anfang des Experiments wurde unter einem alten Teekessel Feuer gemacht, ein roter Stöpsel ist raus und an eine Dose gesprungen (Nicola). Die Dose ist wie eine Seilbahn losgefahren und an zwei Pantoffeln gestoßen, die zu laufen anfingen (Nicolas).
Bild: „Die Watschlente“
Die Schuhe watschelten gegen eine Dose, diese Dose ist gegen eine weitere Dose gefahren, die ist auch gegen eine Dose gestoßen und gegen noch eine und noch eine, usw. ich weiß nicht mehr, wie viele Dosen es waren (Hector Bruno). Ich weiß nicht, warum die Dosen hochgerollt sind (Amelie). Die letzte etwas größere Dose schob eine Kerze unter Klopapier, das ein Sägeblatt festhielt.
Bild: Stechbeitel
Als dann das Klopapier verbrannt war, knallte das Sägeblatt gegen eine Murmel. Die rollte dann eine Leiste hinunter (Benedikt). Die Kugel brachte eine Axt zum Niederfallen und durchschnitt ein straff gespanntes Seil, an dem ein Auto befestigt war (Aimée). Das Auto durchtrennte eine Schnur und ein Stein zog die brennenden Untertassen unter einen Dampfkochtopf (Jonas).
Bild: "Wasserraketenauto"
Dieser Schnellkochtopf hatte ein Loch, an dem ein Gummihandschuh befestigt war, an dem Handschuh hing eine Schnur, so dass der Dampf den Handschuh aufblies, der mit einer Schnur verbunden war. Wenn die Schnur gespannt ist, zieht es die Kerze unter einen Faden, der fängt zu brennen an und lässt ein Wasserraketenauto starten (Andreas).
Bild: "Das Hausfrauenexperiment"
Das Auto fuhr gegen einen Wasserkanister und schubste diesen um (Jonathan). Aus dem Kanister floss nun Wasser in eine Plastikschale. In der Schale befand sich eine Dose, an der ein schräg stehender Stuhl befestigt war. Als die Schale fast voll war, kippte der Stuhl und hob dabei eine Kerze an, die Papier entzündete (Vincent). Die Kerze hat dann zwei Boote zum Brennen gebracht, die mit Wasserdampf fuhren. Die waren sehr schön. Da hätte ich gerne die Technik gewusst (Ruben). Die Boote brannten dann eine Schnur durch, so dass ein Stein herunter fiel. Der Stein setzte eine Kugel in Bewegung, die ein Teelicht verschob, so dass der Wachsverschluss von einer wassergefüllten Dose schmolz und das Wasser herausfloss. Die an einem Hebel befestigte Dose war dann leichter, so dass die am anderen Hebelarm befestigte Kerze nach unten ging und eine Schnur durchbrannte (Julian).
Bild: Mittel- und Oberstufenschüler
Dadurch kippte eine Gießkanne um, die das Wasser in eine Art Rasensprenger goss (Jonas). Das Wasser floss in eine Schale, die auf einer Wippe stand. Die Schale floss voll, wodurch sich die Wippe neigte und dadurch ein Brett wegrutschte, das einen Hammer hielt (Benedikt). Der Hammer schlug gegen eine große Axt (Teresa). Die Axt hat eine Mülltüte ausgelöst, die sich langsam nach unten gedreht hat und eine schwere Eisenkugel anschupste (Merve).
Bild: Luftballon
Die Kugel ist ein mit Honig verschmiertes Brett runtergerollt und gegen ein Brett gekracht (Amelie) - wodurch, wie beim Domino, eine Reihe von Brettern nacheinander umstürzten (Maximilian).
Am letzten Brett befand sich eine Nadel, die zerstach einen mit Wasser gefüllten Luftballon (Kathrin). Eine Rinne brachte das Wasser in eine Schüssel, in der ein Wolkenkratzer, gebaut aus Würfelzucker und Honig, stand. Auf diesem Zuckerturm war ein Brett mit einer Kerze gelagert. Als das Wasser den Zuckerberg zerfraß, ging das Brett mit der Kerze nach unten und die Kerze entzündete einen papierumwickelten Draht. Die Flamme kletterte daran hoch und zündete das Feuerrad an (Rosa).
Bild: "Wolkenkratzer"
Als das Feuerrad sich nach unten drehte, zündete es dort eine auf zwei Autoreifen montierte Mistgabel an, die in einem großem Schwung das Feuer weiterreichte (Theresa). Ein Stein fing Feuer und fiel nach einigem Hin- und Herschaukeln herunter, brannte ein bisschen Papier an, das sich in einer Schlange zu einer Kugel hoch brannte (Lisa).
Bild: Verdunklung für die Feuerelemente
Der entfachte Feuerball dreht sich um die eigene Achse nach unten und plumpste dort in ein Wasserbecken. Das war der Schluss. (Jonathan) Am besten fand ich den Ball, der auch vom Feuer angezündet wurde und dann wie ein Komet die Stange hinunterschwirrte und im Wasser erlosch.
ABLAUF DES PROJEKTUNTERRICHTES:
In der ersten Doppelstunde sahen die Schüler den Video „Der Lauf der Dinge“, eine halbstündige in einer leeren Fabrikhalle ablaufende spektakuläre Kettenreaktion der Schweizer Künstler Fischli und Weiss. Anschließend erhielten sie die Aufgabe, eigene Ideen von Teilstücken einer Kettenreaktion in Konstruktionszeichnungen festzuhalten.
In der folgenden Doppelstunde fuhren sie zum nächstgelegenen Wertstoffhof, um in Altmetall- und Holzcontainern nach interessanten Gegenständen zu suchen. Auch durchforsteten sie die Physiksammlung und den Dachspeicher der Schule.
So entstanden die ersten Stationen in Einzel- oder Gruppenarbeit. Der nächste Schritt, die einzelnen Stationen zu verbinden, erwies sich als viel schwieriger. Hier war Teamarbeit gefordert, da man die Objekte aufeinander abstimmten musste, ohne dass ein äußeres Eingreifen nachhalf. Die Natur lässt sich eben nicht so leicht in den Griff bekommen! So wurde viel beobachtet und diskutiert, Ideen tauchten auf, wurden verworfen, verändert oder umgesetzt.
Demotivierend wirkte auf die Schüler, dass in jeder Stunde immer mehr Zeit für Auf- und Abbau der Installation benötigte wurde, je mehr Stationen hinzukamen. Auch die Platznot in der Holzwerkstatt setzte Grenzen.
Verbindung von Kunst und Wissenschaft:
Schon bei der Suche von Gegenständen im Wertstoffhof war eine intuitive Herangehensweise gefragt. Ein alter schöner Spaten wurde z.B. entdeckt. Der Schüler überlegte: Wie kann ich den Spaten in Bewegung bringen? Wie kann man ihn aufstellen, dass er in seiner Schönheit zur Geltung kommt?
Kreativität und Problemlösefähigkeit:
Ein Beispiel: Die ursprünglich verwendeten kippenden Kerzen erloschen oft beim Umfallen, oder sie lagen brennend auf dem Papier, ohne dies zu entfachen. Als zuverlässiger erwiesen sich gezogene und geschobene Kerzen.
Physikalisches Experimentieren:
Die Schüler bauten in die Installation auch die aus der Neuntklass-Physikepoche bekannte Wasserrakete ein. Sie wird mit dem Rückstoßprinzip angetrieben. Welche Druck- und Wasserverhältnisse in der Rakete zur größten Beschleunigung führen, wurde in vielen Versuchen erprobt. Die Schüler fanden heraus, dass die Anzahl der Luftpumpenschübe vom Luftvolumen und von der Menge des eingefüllten Wassers abhängt. Ein Optimum an Kraft erreichte das Raketenauto, wenn die Flasche zu einem Viertel mit Wasser gefüllt wurde.
DIE PRESSE SCHRIEB: Holzkircher Merkur, 5./6.10.2002
„Kettenreaktion aus den Formen der Energie
Reizvolle Verbindung: Wissenschaft und Kunst im CASA DE MAIS
Ein ‚verrückter‛ Physiklehrer zeigte, wie Bildung auch vermittelt werden kann. Schüler hatten einen skurrilen Spielplatz der Ideen in der Mitte des Raumes aufgebaut. Den Besuchern zeigten sich Sperrmüllgegenstände wie ein alter Stuhl, Autoreifen, eine Gießkanne, eine rostige Badewanne, ein ausgedienter Schnellkochtopf und einige weitere Gegenstände in faszinierender und verwundernder Anordnung. Die abenteuerliche Kettenreaktion aus Feuer, Wasser, Schwerkraft, Dampf und Luft - ein Fluss der Energie - begann in einem harmlosen Teekessel, nahm ihren Weg unter anderem über Dosen, die sich plötzlich bergauf bewegten, brachte einen Gummihandschuh zum Aufblasen, setzte Autoreifen in Gang und endete in zwei pendelnden Feuerbällen. Die gelungene, etwa halbstündige Vorführung begeisterte Jung und Alt restlos.“