Mäusebussard
Ein Beitrag von Lars Lautenschläger
Ich habe anstatt des Adlers, den man häufig in der Tierkunde der Waldorfschule behandelt, den Mäusebussard gewählt. Er umfasst dieselben Wesensmerkmale, ist aber von den Kindern in der Natur auch selbst beobachtbar. Ein Spaziergang am Wochenende mit den Eltern und einem Fernglas als Hausaufgabe brachte zahlreiche Naturbeobachtungen für den Hauptunterricht. Das war sehr wertvoll.
Der Text ist aus der ICH-Perspektive des Mäusebussards verfasst und enthält viele Eigenschaften und Lebensgewohnheiten dieses Tieres.
Es ist Herbst und eine offene Landschaft liegt vor mir. Felder, Wiesen, Weinreben, hinter mir liegt ein kleines Waldstück, mein Auge reicht weit. Das Land hebt und senkt sich sanft zu kleinen Hügeln und Tälern. Der Nebel steigt vom feuchten Gras auf, doch die morgendliche Sonne gewinnt langsam an Stärke und taucht die Gegend in ihr gleißendes Licht. Es kündigt sich ein goldener Oktobertag an. Ich sitze aufgeblockt auf einem hohen Pfahl, der von Menschen dort in die Erde gerammt wurde. Mein Kropf ist leer und ich verspüre einen Hunger, der mich zum Jagen drängt. Ruhig, aber aufmerksam sitze ich dort und suche mit meinen scharfen Augen den Boden ab. Gerne setzte ich mich auf solch erhöhte Plätze, von denen aus ich einen freien Blick auf die Erde habe. Keine Bewegung entgeht mir und sei sie auch noch so klein. Der Herbst ist eine gute Zeit für mich, denn die Felder wurden von den Menschen abgeerntet und mancherlei Getreidekörner blieben auf dem Boden liegen. Diese fresse ich jedoch nicht. Aber Feldmäuse verlassen ihre Erdbehausung in dieser Zeit besonders häufig, um Körner zu suchen und einen Wintervorrat anzulegen. Diese Feldmäuse fresse ich am liebsten. So haben mir die Menschen den Namen „Mäusebussard“ gegeben. Manche nennen mich sogar „Katzenbussard“, weil Katzen ebenso gerne Mäuse jagen. Ursprünglich stammt mein Name aus dem Mittelhochdeutschen. Hier bedeutet „Buse“ Katze und „Aar“ Adler. Wörtlich übersetzt hieße das „Katzenadler“. Wenn ich bei der Balz rufe oder mein Revier verteidige, klingt das tatsächlich ein wenig wie eine Katze.
Es gibt in meiner Verwandtschaft noch andere Bussardarten, z.B. den Wespenbussard oder den Raufußbussard. Selbst der Habicht sieht mir durchaus ähnlich – er ist ein wenig größer – aber mich sieht man mit Abstand am allerhäufigsten. Mein Federkleid ist braun, aber Mäusebussarde gibt es in allen Abstufungen von fast ganz weiß bis nahezu schwarz, das ist einzigartig in der Vogelwelt. Besonders beeindruckend ist mein Schnabel. Er ist vergleichsweise kurz und von Anfang an gebogen. An ihm erkennt man sogleich, dass ich kein Pflanzenfresser bin, sondern Fleisch zum Überleben brauche. Ich bin durch und durch ein Jäger. Das sieht man auch an den Krallen meiner Läufe. Sie sind scharf, wie kleine Dolche. Packe ich damit eine Maus, so überlebt sie das selten. Fast wie die Menschen habe ich sogar Hosen an. Das sind meine befiederten Unterschenkel. Sie schützen meine Beine vor Kälte im Winter.
Für den Augenblick entdecke ich aber keine Maus von meinem hohen Sitzplatz aus. Mittlerweile ist es warm geworden. Ich neige mich nach vorne, öffnet meine großen braunen Schwingen und hebe ab. Tief atme ich die Luft ein, die mich wohlig durchströmt. Ich brauche keine schnellen Flügelschläge. Meine Schwingen sind mächtig, sodass sie meinen Körper schnell in die Luft erheben. Ich fliege nicht sehr hoch, sondern suche fortwährend den Boden nach den kleinen Bewegungen einer Maus ab. Dies will mir heute jedoch nicht glücken, weshalb ich höher aufsteige, um meinen Blick zu erweitern. Wir Mäusebussarde machen es uns dabei leicht, so die Wetterbedingungen gut sind. Wenn nämlich die Sonne auf die Erde scheint, so steigt die warme Luft nach oben. Das nennt man Thermik. Wir habe einen siebten Sinn dafür entwickelt, diese Thermik zu erspüren und sie zu nutzen. Natürlich Aufwinde sparen mir viel Kraft. Da brauche ich gar nicht mit den Flügeln zu schlagen. Mit ausgebreiteten Schwingen trägt mich die Thermik immer höher. Gleitschirmspringer versuchen die Aufwinde auch zu nutzen, aber wir Bussarde sind darin viel besser. Oft geht es 100 Meter hinauf. Jetzt kreise ich über der offenen Landschaft, sehe auf Wiesen und Felder und suche den Boden ab. Hier bin ich ganz in meinem Element. Ich fliege mühelos, atme tief die Luft durch meine Nasenlöcher, überschaue alles, fühle mich von der Luft getragen. Hier und da ändere ich nur ein klein bisschen die Neigung meiner Flügelstellung, und schon fliege ich eine große Kurve. Ich habe unglaublich gute Augen, viel besser als der Mensch. Der Mensch bräuchte ein Fernglas um zu sehen, was ich sehe. Daher kann ich auch von dieser Höhe aus eine Feldmaus auf dem Boden ausmachen.
Jetzt habe ich eine entdeckt und fange an zu rütteln. Beim Rütteln schlage ich auf eine bestimmte Art recht schnell mit meinem Flügeln und kann wie auf der Stelle fliegen, um meine Beute im Auge zu behalten. Nun erscheint mir der Augenblick günstig. Ich lege meine Flügel an und beginne meinen Sturzflug. Pfeilschnell schieße ich herab, meine Beute immer im Auge. Sie hört mich erst, wenn es schon zu spät für sie ist. Kurz vor dem Boden bremse ich meine hohe Geschwindigkeit, indem ich Flügel stark auffächere, meine scharfen Krallen ergreifen die braune Feldmaus und sogleich erhebe ich mich wieder mit kräftigem Flügelschlag in die Lüfte. Den Boden habe ich dabei kaum berührt. Die Maus ist sofort tot und hängt schlaff herunter. Ich suche mir einen ruhigen Platz, an dem ich nicht gestört werden kann. Mit den Krallen halte ich die Maus fest, mit meinem starken Schnabel reiße ich Stück um Stück aus ihr heraus. Ich kaue nicht, denn ich habe keine Zähne, sondern schlucke alles mit Haut und Haaren herunter in meinen Kropf. Was ich nicht verdauen kann, würge ich nach einigen Stunden als Gewölle, einer dunklen Kugel, die aus Haaren und Federn besteht, wieder aus.
Nach so einer Maus ist mein Hunger natürlich nur kurzzeitig gestillt. So mache ich mich wiederum auf, der Tag ist noch lang. Stundenlang gehe ich täglich auf die Jagd. Allerdings fresse ich nicht nur Feldmäuse, sondern auch Maulwürfe, junge Kaninchen, Regenwürmer, Insekten, kleine Vögel und Aas. Aas, das sind tote Tiere. Nicht wenige Tiere werden durch den Straßenverkehr der Menschen getötet. Entdecke ich ein solches, so gibt es viel zu fressen. Allerdings bin ich dabei oft nicht ganz allein, auch andere Tiere wollen ihren Teil.
Ich beende meine Jagd, wenn mein Hunger für den Tag gestillt ist. Dann ziehe ich mich wieder auf einen Baum am Rande eines Waldgebietes zurück. Das kann bis zur Abenddämmerung dauern. Schlafen kann ich übrigens wie alle Vögel sitzend auf einem Ast. Um mich auf dem Ast zu halten, brauche ich keinen Muskel anzuspannen. Setze ich mich, so verkürzt sich meine Sehne zwischen Unterschenkel und Lauf und meine Krallen umklammern den Ast fest. So sitzend verbringe ich die Nacht. Morgens meist vor Sonnenaufgang geht es wieder auf die Jagd und durch die Lüfte.