Gebiss und Gliedmaßen bei Nagetieren - Raubtieren - Wiederkäuern

Aus: „Das Tier zwischen Mensch und Kosmos", von Frits H. Julius, Verlag Freies Geistesleben 1970

Frits H. Julius vergleicht in dem folgenden Text Gebiss und Gliedmaßen bei Nagetieren, Raubtieren und Wiederkäuern. Dabei weist er auf übergeordnete Qualitäten hin, die sich im Allgemeinen wieder finden lassen. Im Speziellen lassen sich Abweichungen finden.

 

"Wir sind nun so weit, dass wir die Methoden, die wir entwickelt haben, auf die Vielheit der Tierformen anwenden können. Wir richten dazu unsere Auf­merksamkeit zuerst auf die Wiederkäuer, die Raubtiere und die Nagetiere. Wir gehen sogar wieder von den Zähnen aus, achten aber nicht nur auf den Bau und die Einseitigkeiten, sondern nun vor allem auf ihren Gebrauch und damit auf das Verhältnis zur Umwelt.

Die Wiederkäuer reißen oder rupfen beim Fressen die Pflanzenteile ab und schlucken sie sofort hinunter. Sie gebrauchen dazu die Schneidezähne im Unterkiefer, die sie mit einer Fläche gegen die harte Umhüllung des Ober­kiefers andrücken. Beim Wiederkäuen wird die wiederheraufgeholte Nahrung zwischen die längs gerillten Flächen der Backenzähne gebracht und durch Seitwärtsbewegungen gerieben und gemahlen.

Beim Löwen und seinen Verwandten kann der Unterkiefer nur auf- und abwärts bewegt werden. Während bei den Wiederkäuern sowohl durch die Schneidezähne als auch durch die Eck- und die Backenzähne ein flacher Druck ausgeübt wird, ist dies hier nicht möglich, weil die Zähne sich aneinander vorbei bewegen. Beim Beißen werden die Spitzen des Gebisses in das Opfer geschla­gen. Mit Hilfe der scharfrandigen Backenzähne kann das Beutetier dann gleichsam in Stücke geschnitten werden.

Die Nagetiere beknabbern mit ihren Schneidezähnen ihre oft harte Nahrung. Dann bringen sie die abgeknabberten Stückchen zwischen die quergerillten Backenzähne. Der Unterkiefer macht nun eine Bewegung von hinten nach vorn und zurück. Die Nahrungsteilchen werden dabei zu noch kleineren Stück­chen zerraspelt.

Die Schneidezähne dieser Tiere sind nur an der Vorderseite mit einem sehr harten Überzug versehen. Durch den Gebrauch verschleißt die weniger harte Zahnsubstanz an der Rückseite schneller. Die Folge ist, dass diese Zähne wie immer scharfe Meißel gebraucht werden können.

Das wiederkäuende Tier benutzt vor allem den hintersten Teil seines Ge­bisses. Die Nahrung muss zuerst fast unverwandelt aufgenommen und aufbe­wahrt, dann von hinten nach vorn zurückgeführt werden, um zerkaut zu wer­den. Das Gebiss ist also vor allem auf das Innere des Tieres gerichtet und intensiv in die Verarbeitungs- und Verdauungsprozesse der Nahrung einbe­zogen. Die Wiederkäuer, insofern sie gehörnt sind, sind mit ihrem Gebiss so­gar so wenig auf die Umgebung gerichtet, dass sie nur geringe Neigung zum Beißen haben.

Das Nagetier gebraucht vor allem den vordersten Teil des Gebisses. Es richtet sich auf die Dinge, die vor ihm liegen oder stehen, und bearbeitet diese. In vielen Fällen fressen die Nagetiere auch Dinge in ihrer Umgebung an, die nicht als Nahrung dienen. Man erhält gute Eindrücke von diesen Erscheinun­gen, wenn man eine grasende oder wiederkäuende Kuh mit einer knabbernden Maus vergleicht.

Die eindrucksvollsten Leistungen auf dem Gebiet des Nagens finden wir bei dem Biber. Dieses Tier kann einen langen Splitter aus einem Baumstamm stechen, wobei ein glatter Schnitt wie von einem messerscharfen Meißel zu­rückbleibt.

Die Raubtiere besitzen ein Maul und ein Gebiss, das besonders geeignet ist, große Dinge zu packen, festzuhalten und zu zerbeißen. Ihr Gebiss ist weniger nach außen gerichtet als das der Nagetiere und weniger nach innen als das der Wiederkäuer.

Wir kommen wieder einen Schritt weiter, wenn wir den Bau und die Be­wegung der Beine bei diesen Tiergruppen in unsere Betrachtung einbeziehen.

Die Wiederkäuer besitzen ziemlich steife, gestreckte Beine mit Hufen. Sie gebrauchen sie hauptsächlich, um zu stehen, zu laufen und zu springen.

Die katzenartigen Raubtiere haben viel biegsamere und beweglichere Beine, die mit Krallen bewaffnet sind. Sie benutzen sie nicht nur zum Laufen, sondern auch, um eine Beute damit zu packen oder zu verwunden.

Die Nagetiere haben meist sehr bewegliche und stark zusammengeknickte Beine, die mit kleinen Händchen enden. Sie können noch besser als die Raub­tiere allerlei Dinge mit ihnen festhalten.

 

Es tritt nun eine Reihe überraschender Zusammenhänge auf.

Die Wiederkäuer, die ihre Nahrung dadurch verarbeiten, dass sie sie zwi­schen gerillten Flächen zerdrücken und zerreiben, besitzen Beine, die mit fla­chen und festen Enden gegen den Boden gedrückt werden. Die Raubtiere können nicht nur mit scharfen Spitzen beißen, auch beim Kämpfen schlagen sie mit ihren Krallen scharfe Spitzen in den Gegner. Die Nagetiere, die mit ihren Zähnen auf die Umgebung gerichtet sind, be­sitzen Beine, mit denen sie sich besonders stark an die Form der Dinge in ihrer Umgebung anpassen können.

Um letzteres richtig einzuschätzen, muss man bedenken, dass die Wieder­käuer mit ihren Beinen die Umgebung eigentlich nur von sich wegschieben oder -stoßen können. Ich glaube nicht, dass man leicht einen Wiederkäuer sehen wird, der mit seinem Bein etwas zu sich herholt.

Solange ein katzenartiges Raubtier läuft, stößt es auch die Umgebung ab, wenn auch mit weichen Laufkissen. Erst wenn es etwas packen will, streckt es die Krallen aus und zieht es zu sich her.

Ein laufendes Nagetier stößt natürlich auch die Umgebung weg, doch ist dies bei diesem Tier weniger wichtig. Viel wesentlicher ist es, dass es auch beim Laufen seine Händchen immer wieder an die Dinge der Umgebung an­legt oder sich sogar an ihnen festklammert. Beim Niedersetzen des Beines bekommt jeder Finger seine eigene Stellung und Spannung, je nachdem, wie der Untergrund geformt ist. Solch ein Tier betastet eigentlich dauernd alle Erhöhungen und Vertiefungen, es legt seine Finger gegen sie an und hakt sich mit seinen kleinen Krallen an Unebenheiten oder Ritzen fest.

Aus diesen Erscheinungen wird deutlich, dass bei den hier besprochenen Tiergruppen ein Zusammenhang besteht zwischen dem Gebrauch der Zähne und dem der Beine. Man könnte von einem bestimmten Stil im Umgang mit der Umgebung sprechen, der sowohl für das Maul als auch für die Beine gilt. Nicht nur einzelne Tiere, sondern sogar ganze Tiergruppen sind durch solch eine typische Wechselwirkung mit der Umgebung gekennzeichnet.

Immer wieder aufs Neue müssen wir die Erscheinungen bei den Tieren mit dem Bau und dem Funktionieren des menschlichen Leibes vergleichen.

Bei den Tieren, bei denen die hintersten Zähne am stärksten entwickelt sind, treten Gliedmaßen auf, die in ihrem Verhältnis zur Umgebung mehr unseren Beinen gleichen. Bei den Tieren, die die vordersten Zähne am stärk­sten entwickelt haben, finden wir Gliedmaßen, die mehr unseren Armen mit den Händen gleichen. Wie gewöhnlich halten die Raubtiere die Mitte.

Unsere Beine werden ja in erster Linie zum Stehen, Laufen oder Springen gebraucht. Sie werden dabei durch Flächen gegen die Umgebung gedrückt, oder wir setzen uns damit von der Umgebung ab.

Unsere Arme werden selten dazu benutzt, uns selbst zu tragen. Wir können sie natürlich dazu gebrauchen, etwas aus der Umgebung von uns abzustoßen, doch ist dies nicht die bezeichnendste Eigenschaft. Charakteristischer ist die Möglichkeit, andere Dinge zu fassen und aus der Umgebung zu lösen, sie auf­zuheben, zu tragen. Die bezeichnendste Eigenschaft von Armen und Händen ist jedoch, dass sie imstande sind, in die Umgebung einzugreifen und Veränderun­gen zu schaffen.

Die Wiederkäuer gebrauchen nicht nur ihre Hinterbeine, sondern auch ihre Vorderbeine so, wie wir unsere Beine. Sie stützen sich darauf, drücken mit ihnen, setzen sich mit ihnen ab.

Bei den meisten Nagetieren haben nicht nur die Enden der vorderen, son­dern auch die der hinteren Gliedmaßen die Form von Händchen. Sie können vor allem mit ihren vordersten Gliedmaßen allerlei Tätigkeiten verrichten, für die wir unsere Hände gebrauchen. Sie können zum Beispiel Dinge ergrei­fen, aufheben und sogar tragen. Natürlich sind ihre Händchen weniger be­weglich als unsere, aber man kann bei ihnen doch zarte Finger unterscheiden, die mit krallenförmigen Nägeln versehen sind. Es ist selbstverständlich, dass diese Tiere nicht in erster Linie auf dem Gebiet des Laufens oder Springens hervorragen, denn ihre Gliedmaßen sind nun einmal mehr dazu geeignet sich festzuklammern als sich abzustoßen. Oft können sie besonders gut klettern. Man kann zuweilen Mäuse sehen, die sich mit den Hinterbeinen an einem Zweig festhalten und mit dem Körper und den Vorderbeinen den Raum um sich herum abtasten.

Aus diesen Tatsachen kann man etwas sehr Merkwürdiges ableiten: Eine Eigenschaft, und im Zusammenhang damit ein bestimmtes Verhältnis zur Um­gebung, die man beim Menschen nur in einem ganz bestimmten Teil seines Organismus antrifft, kann sich bei den Tieren über den ganzen Körper er­strecken.

Bei den Nagetieren finden wir das Handartige nicht nur bis in die hinter­sten Gliedmaßen hinein, sondern zuweilen sogar bis in den Schwanz. Es gibt Mäusearten, die ihren Schwanz um etwas herumwinden können, um sich so festzuhalten. Die Wiederkäuer dagegen verhalten sich nicht nur mit all ihren Beinen, sondern sogar mit ihrem Kopf so, wie wir uns mit unseren Beinen verhalten, sie stoßen, stampfen, schieben damit.

Man kann die interessante Tatsache, dass die Katzentiere ihre Krallen ge­wöhnlich eingezogen haben, als eine praktische Einrichtung bewundern, um ihre Nägel scharf und brauchbar zu erhalten. Man kann dasselbe aber auch wieder vom Gesichtspunkt des Verhältnisses zur Umgebung betrachten. Sind die Krallen eingezogen, dann gebrauchen sie ihre Beine mehr so, wie wir unsere Beine. Haben sie ihre Krallen ausgestreckt, dann können sie mit ihren Gliedmaßen etwas ergreifen, wie wir mit unseren Händen. Im einen Fall stoßen sie die Umgebung von sich, im zweiten holen sie etwas aus der Umge­bung zu sich her.

 

Wir können nun die Erkenntnisse, die wir gewonnen haben,
in folgendem Schema zusammenfassen:

Schneidezähne

 

Nagetiere

 

Schneidezähne

vierhändig

 

Eckzähne

 

 

Raubtiere

 

Eckzähne

Beine zwischen Händen

und Füßen geartet

Backenzähne

Wiederkäuer

Backenzähne

vierfüßig

 

Drei wichtige Folgerungen ergeben sich aus diesem Abschnitt:

  1. Will man etwas erfahren über das charakteristische Verhältnis eines Tieres oder einer Tiergruppe zur Umgebung, so muss man vor allem auf den Bau und den Ge­brauch des Maules und der Beine achten.
  2. Es besteht ein Gegensatz zwischen den Nagetieren als ganzer Gruppe und den Wiederkäuern als ganzer Gruppe, der von derselben Art ist wie der Gegensatz zwischen zwei gegenüberstehen­den Tierkreiswesen.
  3. Wir können also die Regel aus Goethes «Metamorphose der Tiere» nicht nur auf einzelne Tierformen, sondern ebenso auf Gruppen zusammengehöriger Tiere anwenden. Wir werden von diesen Ergebnissen in den folgenden Kapiteln noch ausführlich Gebrauch machen."
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