Verpflichtendes, klassenübergreifendes Musizier-Erlebnis

Ein Beitrag von Reinhard Steidl

Die Orchesterarbeit an der Freien Waldorfschule Ludwigsburg

Wer weiß schon wirklich, woher die Ideen stammen, die neu und ungewöhnlich sind? Unerprobte Modelle – solche mit absehbaren Hindernissen vor der Umsetzung, die sich aber doch ihren Weg suchen? Jedenfalls fanden wir an unserer Schule einige Antworten, die sich ihren Weg in die Wirklichkeit bahnten.

Wenn wir das Orchesterspiel genauso wichtig und bildend finden wie Englisch, Geschichte oder Eurythmie, weshalb sollte dann nur ein Teil der Schüler daran teilnehmen? Das führte zur zweiten Frage: Wie können wir diejenigen Schüler versorgen, die keinen Instrumentalunterricht haben? Und: Gibt es eine Möglichkeit, die Orchester- und auch die Chorarbeit mit allen Schülern zu machen, ohne sie auseinander zu dividieren?

Chor- und Orchesterarbeit gehört neben dem normalen Klassenunterricht unverzichtbar zum Gesamtbild einer jeden Waldorfschule, egal in welcher Form und in welchem Rhythmus. In der Sphäre der Musik das eigene Instrument mit dem Gesamtklang zu verbinden und dabei vom Ganzen her inspiriert zu werden ist eine herrliche und bildende Erfahrung. In Ludwigsburg durchlebten wir in unserer nun 40-jährigen Arbeit die unterschiedlichsten Ansätze für dieses Gebiet des Musikunterrichts.
 


Ist Freiwilligkeit Voraussetzung eines gelingenden Unterrichts?

Eigentlich nicht, bei Mathematik würde diese Frage keiner stellen! Deshalb begannen wir, ab 2002 ein verpflichtendes, klassenübergreifendes Musizier-Erlebnis »für alle« aufzubauen. Heute haben wir den Eindruck, dass uns dies nicht nur gelungen ist, sondern dass es sogar nachhaltig wirkt – so klingen jedenfalls die Stimmen von ehemaligen Schülern. Unser Neuansatz musste natürlich zunächst einmal von den unteren Klassen nach oben wachsen. Das bedingte eine besondere Aufmerksamkeit für die Pionierklasse. Heute bietet sich nach verschiedenen Übergangsmodellen das folgende Bild unseres Orchesterbereichs:

  • In der 5. Klasse musizieren alle Schüler erstmals gemeinsam im Klassenorchester, dessen Instrumentierung wir so vielfältig wie nur möglich anlegen. Das erfordert viele und frühzeitige Elterngespräche.
  • In den Klassen 6 bis 8 proben je nach Besetzung 5 bis 6 mehrstimmige Ensembles parallel: Streicher, Holzbläser, Blechbläser, Gitarren und Blockflöten.
  • In den Klassen 9 bis 11 wird zu einem anderen Zeitpunkt der Woche parallel in fünf Ensembles geprobt: Sinfonieorchester, Jazz-Band, Gitarren, Blockflötenchor, Gitarren-Anfänger (dort bietet sich durch Tabulatur-Notation für jeden ein Neueinstieg ins dreistimmige Musizieren).

 

Zusammenarbeit auf vielen Ebenen

Natürlich bedeutet dies für uns Lehrer eine umfangreiche Arrangement-Arbeit. Einer hat sogar einen kompletten Sinfoniesatz für alle Stimmen von Hand in eine leichtere Tonart transponiert. Die Lehrer und die Honorarkräfte kooperieren dabei vielfältig miteinander und fassen Stücke ins Auge, bei denen auch verschiedene Gruppen zusammen musizieren können. Diese Zusammenarbeit wird dadurch begünstigt, dass unsere Honorarkräfte auch für viele der Schüler den Instrumental-Unterricht erteilen. Es ist im Laufe der Jahre unser »Musikinitiativ-Kreis« der Instrumentallehrer zu einer Art kleinen, internen Musikschule herangewachsen. Er veranstaltet Vorspiele und Schnupperstunden und wird von den Eltern gerne angefragt, weil dann der Instrumentalunterricht direkt im Anschluss an den Schulunterricht stattfinden kann.
 


Probenzeit auf Burg Wernfels

So werden alle Kräfte möglichst gut gebündelt und die vielen Ströme vereinigen sich schließlich in zwei intensiven Probephasen vor den Konzerten: Die gesamte Mittelstufe fährt für vier Tage auf die Burg Wernfels, wo im Zusammenarbeiten ganz neue, klassenübergreifende Freundschaften entstehen. Welch eine Freude, wenn etwa ab dem dritten Tag die geprobten Melodien gesungen oder gepfiffen über den Burghof schallen!

Die Oberstufe probt in einer fünftägigen Arbeitswoche zu Hause im Schulgebäude. Es erzeugt bei den Neuntklässlern zwar regelmäßig Wehmut, nicht mehr nach Wernfels zu fahren, aber wir bleiben dabei, einerseits aus Kostengründen, andererseits wegen der Aufsichts-Erleichterung.

In den Konzerten spielen dann fünf bis sechs Ensembles nacheinander und alle hören sich gegenseitig zu. Dass jeder dabei ist, erzeugt eine Qualität, die wir sehr schätzen.
 


»Unten« arbeiten wir mit einer 45-minütigen Stunde pro Woche durch das ganze Schuljahr und geben ein Advents- und ein Frühlings-Konzert, »Oben« ist es eine Doppelstunde bis zum Klangwelten-Konzert vor Ostern. Dann ist Pause und es bleibt Zeit für die mehrwöchigen Oberstufenpraktika der Klassen 9 bis 11.

Die Chorarbeit fand ihren Rhythmus in zweijährigen großen Konzerten der ganzen Klassen 11 und 12/13, so dass jeder Schüler mindestens einmal ein großes, repräsentatives Werk mitsingen kann. Im begleitenden Projektorchester aus Eltern und Freunden spielen dann gerne auch einzelne Schüler der Klassen 8 bis 10 mit. Durch einen zweiten, öffentlichen Konzert-Ort für das Sinfonie-Orchester bietet sich die Möglichkeit zur Aufführung von kammermusikalischen Arbeiten einzelner Schüler. Diese würden in unserem Festsaal den Zeitrahmen sprengen.

 

Musizieren wird selbstverständlich

Irgendwann merkten wir, dass die beiden Musikprojekte ihre eigene Dynamik zu entfalten begannen und wie selbstverständlich dazugehörten: Die Fragen nach dem Warum oder der Freiwilligkeit hörten völlig auf. Schon in der Unterstufe drängen die Schüler zum Instrument hin und es wird mit den Eltern thematisiert, welches wohl das richtige wäre.

Quereinsteiger finden entweder ein passendes Anfänger-Ensemble, oder (auch das kommt vor) sie kommen zu uns, weil sie hier als Instrumentalisten keine Einzelgänger sind.

Im Orchester bleiben zu dürfen motiviert viele Schüler, auch in Krisenzeiten den Instrumentalunterricht weiterzuführen. Und wer tatsächlich mit dem Instrumentalunterricht aufhört, der kommt dafür in einem anderen Ensemble unter. In der Regel bleibt man aber gerne bei seinen Freunden in der gewohnten Gruppe. Auch die Eltern haben in unserer Struktur eine nicht zu unterschätzende pädagogische Stütze und lassen sich weniger von Teenager-Abbrech-Wünschen breitschlagen.

Die Instrumente werden zum Teil an Anfänger verliehen. Bleiben die Kinder bei einem Instrument, werden von den Eltern mit Lehrerberatung welche angeschafft. Es gibt tatsächlich Fälle, wo begabte Schüler bis zum Abitur auf halbwertigen Instrumenten üben, die gar nicht dem Niveau des Spielers entsprechen.

Die Chorarbeit wird durch begabte Instrumentalisten bereichert und von den ganzen Klassen mit viel Engagement getragen. Es finden sich auch immer Schüler, die einen Solopart übernehmen wollen.

Es hat sich übrigens sehr bewährt, bis zur Klasse 10 keine Ensembles zur Wahl zu stellen. Schüler würden meistens diejenigen Gruppen wählen, in denen die besten Freunde sitzen. Wir Lehrer kennen schließlich die Fähigkeiten der Spieler und teilen sie in die bestehenden Ensembles ein, deren Besetzung sich Jahr für Jahr durch scheidende und nachwachsende Klassen ändert. Erst in der 11. Klasse dürfen die Schüler dann nach Wunsch in eine bestimmte Gruppe wechseln.

Da in jedem Ensemble jährliche Wechsel stattfinden, wird es uns nie langweilig. Auch neue Lehrer bringen Impulse mit, die uns davor bewahren, in Routine zu verfallen. Zum Allerschönsten aber gehört das Bild nach dem Schlussakkord eines Konzertes, wenn über 100 Schüler mit ihren Musiklehrern nach vorne kommen, um den Applaus entgegenzunehmen:

Ja wirklich, es sind alle!

Dieser Artikel stammt aus der Zeitschrift: Erziehungskunst - Waldorfpädagogik heute
Zum Autor: Reinhard Steidl ist seit 1983 im Orchesterbereich tätig, bis 2016 auch als Klassenlehrer.

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