Wir üben zu wenig, zu unsystematisch und nicht intensiv genug!

Ein Beitrag von Marcus Kraneburg (Freie Waldorfschule Freiburg St. Georgen)

Dies ist ein provokanter Artikel – aber lassen Sie sich nicht provozieren :-) Ich möchte das Thema etwas überspitzt angehen, damit die mir wichtigen Punkte klar hervortreten.

In der Einführung von neuen Unterrichtsinhalten sind wir in der Waldorfschule oft Weltmeister. Wir bewegen vor einer Epoche etliche methodisch-didaktische Gedanken ausgiebig und tiefgründig: Wann ist der richtige Zeitpunkt für ein Thema (Menschenkunde), wie bereitet man es bildhaft-anschaulich auf, welche Systematik verfolgt man …. Gerade der Epochenunterricht mit seiner täglichen Wiederkehr ist eine grandiose Erfindung Rudolf Steiners.

Nach drei bis vier Wochen folgt dann eine andere Epoche mit ganz anderem Inhalt. Das vorige Thema taucht ab und erscheint erst wieder 9 – 12 Wochen später, je nach Epochenlänge und Ferieneinschüben. Da frage ich mich: Wie soll auf diese Art Substanzbildung in den Kerndisziplinen Schreiben, Lesen, Rechnen möglich sein? Meines Erachtens weitaus zu wenig!

Da bringen auch ein bis zwei Übstunden in der Woche nichts Substanzielles. Kennen Sie einen Musiker, der sein Instrument mit ein oder zwei Übeinheiten in der Woche beherrschen gelernt hat? Der muss schon sehr begnadet sein! Auch in unseren Klassen gibt es sehr begnadete Schülerinnen und Schüler, aber die anderen 80 % beherrschen die Kulturtechniken eben nicht in ausreichendem Maße!

Was bedeutet in ausreichendem Maße? Ganz einfach: Das Schreiben, Lesen und Rechnen darf keine große Mühe bereiten. Wenn man ein Drittel oder gar die Hälfte der Aufmerksamkeit für die Rechtschreibung verwenden muss, macht das Schreiben einfach keinen Spaß. Wenn man sich ständig auf zwei Sachen konzentrieren muss, können sich die Gedanken nicht frei entwickeln. Beim Rechnen und Lesen ist es genauso. Der Lustfaktor beim Lesen stellt sich erst ein, wenn die Augen über die Buchstaben hinwegfliegen können. Und Lust ist beim Lernen extrem wichtig!
 

Das Problem der Verschleppung von Übprozessen

In der Waldorfschule leiden wir vielfach unter dem Problem der Verschleppung von Übprozessen. Effektiv kann man nur täglich üben! Die sogenannten Übstunden werden ihrem Namen nicht gerecht – man sollte sie vielmehr „Gedenk- oder Erinnerungsstunden“ taufen.

Üben heißt wiederholen und darüber hinaus die Wiederholung wiederholen. Üben braucht Kontinuität und Verlässlichkeit. Wie bei einem Musikinstrument. 25 Minuten täglichen Übens reichen aber aus, um eine Sache nach kurzer Zeit gründlich zu beherrschen. Mehr braucht man nicht. Und der Spaß stellt sich dann übrigens auch ein: Die Schülerinnen und Schüler können ihren Fähigkeitszuwachs förmlich beobachten.

Stattdessen verschleppen wir in der Waldorfschule aber vielfach Übprozesse. Ich persönlich finde den kokettierenden oder entschuldigenden Satz „…. ich war halt auf der Waldorfschule“ gar nicht witzig. Er ist ein Armutszeugnis unserer Übstrategien. In den ersten beiden Schuljahren sprechen wir beispielsweise die Einmaleins-Reihen vorwärts und rückwärts, springen mit Seilen, werfen Bälle usw. Das ist hervorragend und wichtig! Wenn die Kinder das kleine Einmaleins aber in der Mitte der 3. Klasse immer noch nicht gedächtnismäßig beherrschen, dann haben viele Kinder bei der Einführung der schriftlichen Multiplikation und Division Schwierigkeiten. Das eine ist noch nicht gekonnt und das Nächste wird schon eingeführt. Das ist der Beginn einer steten Verschleppung. Mit den paar „Gedenkstunden“ zwischen den Epochen lässt sich das nicht verhindern. Die Kinder bekommen keine Gelegenheit, die Kerndisziplinen durch systematisch-tägliches Üben auszubilden.

Was kann man also tun? Eine tägliche Übzeit von 25 Minuten passt für die meisten Lehrerinnen und Lehrer nicht in den Hauptunterricht.
 

Eine Ideallösung wäre die folgende:

Stellen wir den Gesamtstundenplan der Schule um. Nach der ersten großen Hofpause könnte man für alle Klassen einen 25-minütigen Übstreifen einfügen – anschließend 5 Minuten Wechselpause und die 1. Fachstunde beginnt. Der Übstreifen sollte epochal wechselnd von Hauptunterrichts- oder auch von Fremdsprachenlehrern genutzt werden. Die Dauer einer Übphase sollte 2 Wochen nicht unterschreiten.

In diesem Übstreifen geht es nicht darum, Themen des Hauptunterrichtes weiterzuführen oder Hausaufgaben zu beginnen, sondern Grundfertigkeiten systematisch zu üben!

Sie werden vielleicht sagen: Das können wir uns nicht leisten – 2,5 Stunden pro Klasse (25 min x 5) kosten Geld, das wir nicht haben. Aber bedenken Sie: Erstens kann man dafür die so genannten Übstunden getrost streichen und zweitens hat das jetzige System vielerlei versteckte Kosten: Wie viele Stunden in der Mittel- und Oberstufe könnte man sich sparen oder besser verwenden, wenn die Beherrschung von Kerndisziplinen nicht verschleppt würden? Zudem kostet es vielen Kindern das Erleben von Sicherheit, Selbstwirksamkeit und Lust am Unterricht. Das ist wohl der größte Kollateralschaden!
 

Das Absinken von Epocheninhalten

Ein wichtiges Prinzip des Epochenunterrichtes ist die intensive und tägliche Auseinandersetzung mit einem Thema und das anschließende Ruhenlassen desselben. Das Behandelte soll absinken und seelisch verdaut werden. Hält man ein Thema hingegen fortwährend auf köchelnder Flamme, dann zerkocht es eben und hat keinen Biss. Das ist richtig, aber läuft dem oben gemeinten Übstreifen keineswegs zuwider. Man kann es sich zur Regel machen, dass ein Epocheninhalt vier Wochen ruhen muss, bevor es im Übstreifen wieder auftaucht und vertieft wird. Das ist eine gute Zeit für den Nachreifungsprozess. 

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