Dionysisch-Apollinisch

Ein Beitrag von Dr. Ursula Kirchdörfer (Freie Waldorfschule Saar-Hunsrück)

Die Kategorien des Dionysischen und Apollinischen im Kunstbetrachtungsunterricht der 11. Klasse - ein interdisziplinärer Ansatz.

 

Hintergrund

„Die Welt ist wahr" - diese Aussage steht als Leitmotiv und Erkenntnisziel über dem Oberstufenunterricht. Dies stellt besondere Forderungen an den Lehrer/die Lehrerin, was Auswahl und Gestaltung von Inhalten betrifft. Der Unterricht soll den Schüler/die Schülerin befähigen, sich begründete Urteile zu bilden; mit Methoden, die sich auch außerhalb der Schule als anwendbar erweisen, mit Ergebnissen, die einer kritischen Überprüfung standhalten und in einer Haltung, die ohne Scheuklappen viele Blickwinkel einbezieht.

Interdisziplinärer Unterricht bietet eine Möglichkeit, diese Fähigkeit auszubilden und zu schulen. Er eröffnet einen Blick auf eine Welt der Zusammenhänge und fordert dazu auf, den Verknüpfungen nachzuspüren und die oft willkürlichen Grenzen und Trennungen nicht unhinterfragt zu akzeptieren.

 

Interdisziplinären Unterrichtsansatz

Im Rahmen der Kunstgeschichteepoche in der 11. Klasse haben wir einen solchen interdisziplinären Unterrichtsansatz mit sehr schönem Erfolg wiederholt ausprobiert. Der Erfolg lag hierbei nicht nur darin, dass sich die Kategorien des Dionysischen und Apollinischen den Schülern/innen als universale Erscheinungsweisen der Kunst erschlossen, sondern auch darin, dass sich den Schülern/innen Malerei und Literatur als enge Verwandte zeigten - repräsentiert durch die beiden Fachlehrerinnen, die sich in der Gestaltung des Unterrichts ergänzten.

„Natürlich" war es zeitlich unmöglich, die ganze Epoche gemeinsam zu unterrichten, doch die drei Tage, in denen Literatur und Philosophie die Kunstbetrachtung „besuchten", reichten aus, um die vielfältigen Verflechtungen sichtbar zu machen. In Schulen, in denen die Fächer Kunstbetrachtung und Deutsch in Personalunion vertreten werden, ist es sicherlich stundenplantechnisch einfacher, einen solchen Ansatz durchzuführen, die reizvollen Nebenwirkungen jedoch, die sich dadurch ergeben, dass die Schüler/innen erleben können, wie zwei Lehrkräfte zusammenarbeiten und sich ergänzen, fallen leider weg.

 

Inhalt und Aufbau

Grob geschildert bestand mein Anteil (der der Literatur und Philosophie) darin, dass ich die vorher dargestellten Geburtsmythen des Dionysos und Apoll durch Nietzsches Deutung ergänzt habe - die des Dionysischen und Apollinischen als Kategorien der Kunsterzeugung und -betrachtung. Nietzsches Biografie wurde erzählt und von den Schülern als berührend und verstörend erlebt. Das Drama des Denkens entfaltete sich.

Sodann haben wir uns mit Elementen der attischen Tragödie beschäftigt. Die Antigone des Sophokles diente als Beispiel, das Dionysische als göttliche Stimme (der Weisheit, der Welt) in den Dithyramben des Chores zu erleben und zu erkennen, und das Apollinische in der Handlung, den Dialogen und Monologen. Das Drama erschloss sich als apollinisches Bild der tiefen dionysischen Wahrheit: der Ungeheuerlichkeit des Menschen. Rezitation („Ungeheuer ist viel..." - auf Altgriechisch und Deutsch) und Betrachtung von Stildifferenzen und Inhalt ergänzten sich zu einem Verständnis der Tragödie als der von Nietzsche erkannten Vereinigung des Dionysischen und Apollinischen.

In einem dritten Schritt nun wandten wir uns der Aktualisierung zu. Die Schüler/innen ergänzten das Erfahrene durch Beispiele hauptsächlich aus der ihnen vertrauten aktuellen Musik und Musikerbiografien; im Unterrichtsgespräch kam es zu einer lebhaften Diskussion über die psychologischen Untiefen einer solchen Betrachtungsweise, über den Produktionsprozess von Kunst, die Funktion von Drogen dabei, über die Möglichkeit von Erkenntnis und Wahrheit. Den Schülern/innen gelang es, das Dionysische und Apollinische als Triebkräfte jeder Art von Kunst zu identifizieren und in sich selbst als Gestaltungskräfte des eigenen Schicksals zu finden.

Anhand von immer noch provokanten Gedichten von Gottfried Benn (vier Gedichte aus dem Zyklus Der Psychiater von 1917) erarbeiteten die Schüler/innen im Anschluss daran, welchen Zugang zu moderner Lyrik die beiden Kunstbetrachtungskategorien eröffnen. Mit Leichtigkeit erkannten sie in Form und Inhalt dionysische und apollinische Elemente und den Versuch der Versöhnung beider in der Kunst.

Der Übergang in die Betrachtung der Malerei, die mit der Gegenüberstellung von Delacroix und Ingres begann, bereitete ihnen dann keinerlei Schwierigkeiten.

 

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Insgesamt gesehen erwies sich diese interdisziplinäre Zusammenarbeit als außerordentlich fruchtbar, sowohl für die Schüler/innen als auch für uns Pädagoginnen. Besonders erfreulich war es, dass einzelne Schüler/innen sich im Rahmen von Zwölftklassarbeiten unter Verwendung der Kategorien des Dionysischen und Apollinischen mit dem eigenen Kunstschaffen auseinander setzten. Auch konnte ich sowohl in der zwölften als auch in der dreizehnten Klasse im Rahmen des Literaturunterrichts immer wieder an das Erarbeitete anschließen - es hatte sich tief in das Bewusstsein eingeprägt.

Für mich als Deutschlehrerin hatte die interdisziplinäre Unterrichtsgestaltung außerdem den netten Nebeneffekt, dass ich die attische Tragödie, die im Saarland zum Pflichtprogramm des Zentralabiturs gehört (dort als Stoff in der 12. Klasse) auf eine Art behandeln konnte, die in Deutung und Bedeutung viel tiefer greift, als dies der staatliche Lehrplan vorsieht und erlaubt. Ich konnte sie im Rahmen einer universalen Kunstbetrachtungsweise einführen, die Form und Inhalt in einen Kontext stellt, der Verständnis ermöglicht (und zwar für alle, nicht nur die zukünftigen Abiturienten/innen) und nicht nur das Abrufen gattungsspezifischer Kennzeichen.

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