Ohnmacht gegenüber dem Bodenlosen

Rudolf Steiner, aus der GA 304, 1. Vortrag

Rudolf Steiner beschreibt hier die grundsätzliche Andersartigkeit menschlicher Gemüter schon im frühen klassischen Griechentum. Geschichte wird eigentlich nur dann verständlich, wenn die äußere Geschichtsschreibung um die Dimension der menschlichen Bewusstseinsentwicklung erweitert wird. Nachfolgend können Sie den Vortrag in Auszügen lesen. Es empfiehlt sich jedoch auch, ihn als Ganzes wahrzunehmen.

 

[…] Zwischen diesen zwei Welten, der Welt, die der Mensch mit seinen Sinnen wahrnimmt, deren Tatsachen er mit seinem Verstande zu Naturgesetzten kombinieren kann, und derjenigen Welt, der der Mensch mit seinen eigentlichen Wesenheit angehört, sah man in jenen alten Zeiten einen Abgrund. Über diesen Abgrund musste man erst hinüberkommen. Und nur diejenigen durften innerhalb der alten Zivilisationen diesen Abgrund überschreiten, welcher von den Leitern der damaligen Erziehungsanstalten, die wir heute Mysterien nennen, in einer intensiven Weise dazu vorbereitet waren. Heute haben wir andere Ansichten über das Vorbereiten zur Wissenschaft und zu einem Leben in der Wissenschaftlichkeit. In jenen alten Zeiten sagte man sich: Ein unvorbereiteter Mensch darf die höheren Erkenntnisse über das Wesen des Menschen überhaupt nicht empfangen. Warum war das so?

Warum dies so war, sieht nur derjenige ein, der über die gewöhnliche Geschichtserkenntnis hinaus sich eine Anschauung verschafft über das, was die Menschenseele im Laufe der Menschheitsentwickelung durchgemacht hat. Man hat ja im Grunde genommen heute nur eine Geschichtserkenntnis über die Äußerlichkeiten der Menschheitsentwickelung. Man sieht nicht hin auf die Seelenverfassung. Man sieht zum Beispiel nicht auf die Seelenverfassung der Menschen, die gestanden haben in jener uralten orientalischen Weisheit, von der heute nur noch dekadente Formen drüben im Oriente leben. Man hat im Grunde genommen gar keine Vorstellung davon, wie anders die Seelen dazumal in der Welt gestanden haben. Die Menschen sahen dazumal geradeso wie wir mit ihren Sinnen die sie umgebende Natur; sie kombinierten in einer gewissen Weise auch dasjenige mit ihrem Verstande, was sie von der Natur sahen. Allein sie fühlten sich nicht so getrennt von der sie umgebenden Natur, wie sich die Menschen heute fühlen. Sie fühlten in sich ein Geistig-Seelisches. Sie fühlten diese menschliche Leibesorganisation erfüllt von einem Geistig-Seelischen. Aber sie fühlten ein Geistig-Seelisches auch in Blitz und Donner, in den dahinziehenden Wolken, im Mineral, in der Pflanze, im Tier. Sie fühlten dasjenige, was sie innerhalb ihrer selbst vermuteten, auch draußen in der Natur, im ganzen Weltenall. Geistig-seelisch durchdrungen war ihnen das ganze Weltenall. - Dafür aber hatten sie etwas anderes nicht, was wir Menschen der heutigen Zeit innerhalb unserer Seelenverfassung haben: sie hatten nicht ein so ausgesprochenes, intensives Selbstbewusstsein, wie wir es haben. Ihr Selbstbewusstsein war dumpfer, träumerischer als unser heutiges. Selbst noch innerhalb der griechischen Zeit war das der Fall. Man versteht eigentlich nur höchstens die spätere griechische Kultur, wenn man die Seelen der Menschen innerhalb der Griechenzeit sich in derselben Verfassung denkt, wie unsere Seelen sie haben. In der früheren griechischen Kultur kann gar nicht die Rede sein von einer solchen Seelenverfassung, wie es die unsrige ist. […]

Und jene alten Weisen, die die Leiter jener Schulen waren, von denen ich gesprochen habe, die sagten sich: Das ist das Moralische im menschlichen Selbstbewusstsein. Dieses Selbstbewusstsein aber, das darf nicht die Welt ansehen so, dass sie ihm geistentleert, seelenlos erscheint. Wenn diese Seelenverfassung sich gegenüber wüsste einer geistleeren Welt - einer Welt, wenn ich jetzt das hinzufüge, wie wir sie in unserer Wissenschaft, in unserem alltäglichen Leben erfassen -, es würden die Seelen der Menschen von einer seelischen Ohnmacht befallen werden.

Diese seelische Ohnmacht, die sahen herankommen die alten Weisheitslehrer bei denjenigen Menschen, welche hinkommen sollten zu einer solchen Weltauffassung, wie wir sie haben.

Ja, kann man denn überhaupt davon sprechen, dass diese alten Weisheitslehrer sich sagten, die Seelen dürften nicht zu einer solchen Weltanschauung kommen, von der wir sagen, dass wir sie selbst heute haben? Ja, das kann man sagen. Und dafür möchte ich Ihnen ein Beispiel geben. Man könnte viele Beispiele anführen, aber ich will eines herausheben.

Wir sind heute mit Recht befriedigt davon, dass wir nicht mehr in mittelalterlicher Weise das äußerlich-räumliche Weltengebäude nur nach dem äußeren Augenschein auffassen. Wir stehen auf dem Standpunkte der Kopernikanischen Weltanschauung, die eine heliozentrische ist. Der Mensch des Mittelalters glaubte, die Erde ruhe im Mittelpunkt des Planetensystems, überhaupt des ganzen Sternensystems, die Sonne mit den anderen Sternen bewege sich um die Erde herum. Geradezu eine Umkehrung aller Verhältnisse wurde durch das heliozentrische Sonnensystem bewirkt, und an dieser Umkehrung halten wir heute fest als an etwas, was wir schon aufnehmen in unserer gewöhnlichen Schulbildung, in dem wir drinnenstehen mit unserer ganzen Bildung. Wir sehen zurück auf die Menschen des Mittelalters, auf die Menschen des Altertums, welche in ihrem ptolemäischen Weltensystem dasjenige gesehen haben, was ich eben charakterisiert habe, das geozentrische. Aber keineswegs haben alle Menschen in jenen alten Zeiten bloß das geozentrische Weltensystem angenommen. Man braucht ja - schon die äußere Geschichte zeigt uns das, Geisteswissenschaft macht es völlig klar -, man braucht nur bei Plutarch nachzulesen dasjenige, was er über das Weltensystem eines alten griechischen Weisen der vorchristlichen Zeit, des Aristarch von Samos sagt. Dieser Aristarch von Samos versetzt schon die Sonne in den Mittelpunkt unseres Planetensystems; er lässt die Erde um die Sonne kreisen. Und wenn wir, allerdings nicht in den Einzelheiten, über die ja die neuere Naturwissenschaft so Großes gebracht hat, aber in den Hauptzügen, das heliozentrische System des Aristarch von Samos nehmen, so stimmt es im Grunde genommen vollständig mit demjenigen überein, das heute das unsrige ist.

Was liegt da eigentlich vor? Nun, dasjenige Weltensystem, das Aristarch von Samos nur ausgeplaudert hat, das war dasjenige, was in alten Weisheitsschulen gelehrt worden ist. Außerhalb wurde den Menschen das Weltensystem des Augenscheins gelassen. Warum war das so? Warum ließ man ihnen dieses Weltenbild des Augenscheins?

[...] Er ist behütet davor, dass ihm plötzlich die Augen so aufgehen, wie wenn er die Welt entseelt, entgeistigt sehen würde. Denn entseelt und entgeistigt sehen wir heute die Welt. Wir sehen sie an, bilden uns unsere Naturanschauung über das Mineral-, Pflanzen- und Tierreich, wir sehen sie entseelt und entgeistigt. Wenn wir auf der Sternwarte mit Hilfe des Teleskops, mit Hilfe der Berechnungen uns Vorstellungen bilden über den Weg, über die Bewegungen der Himmelskörper, wir sehen die Welt entseelt und entgeistigt. Dass man die Welt auch so sehen kann, das wussten die alten Weisheitslehrer der Mysterien. Sie übermittelten nach der Vorbereitung, nachdem sie ihre Schüler am Hüter der Schwelle vorbeigeführt hatten, diese Erkenntnisse, aber sie bereiteten die Schüler vor durch eine strenge Willenszucht. Wodurch wurde diese Willenszucht den Schülern gegeben? Indem die Schüler durch Entbehrungen geführt worden sind, aber auch indem die Schüler durch lange Jahre hindurch angehalten wurden, in strengem Gehorsam zu folgen einer reinen Moral, die ihnen von den Weisheitslehrern vorgeschrieben wurde. Der Wille sollte streng in Zucht genommen werden, und diese Willenszucht sollte erstarken das Selbstbewusstsein. Und wenn die Schüler hinausgekommen waren über das träumerisch-dumpfe Selbstbewusstsein zu einem intensiveren Selbstbewusstsein, dann wurde ihnen erst gezeigt, was für sie jenseits der Schwelle lag: Diejenige Welt, die im heliozentrischen Weltensystem für den äußeren Raum vorliegt; aber auch manches andere, was wir heute als den Inhalt unserer ganz gewöhnlichen Weltanschauung anerkennen, wurde ihnen gezeigt.

Also das lag vor, dass man die Schüler jener alten Zeiten erst vorbereitete, sorgsam vorbereitete, bevor man ihnen übermittelte dasjenige, was bei uns heute sozusagen jeder Schulknabe und jedes Schulmädchen aufnimmt. So ändern sich die Zeiten, so ändern sich die Zivilisationen. Man bekommt einfach eine falsche Vorstellung von der Entwickelung der Menschheit, wenn man nur die äußere Geschichte, nicht diese Geschichte der menschlichen Seele kennt.

[…] Aber wir sehen daraus zu gleicher Zeit, dass wir der Welt mit einem anderen Selbstbewusstsein gegenüberstehen. Das fürchteten gerade jene alten Weisheitslehrer, dass ihre Schüler, wenn sie nicht erst das Selbstbewusstsein durch Willenszucht erstarkt erhalten hätten, seelisch ohnmächtig geworden wären, wenn sie zum Beispiel aufgenommen hätten die Vorstellung: die Erde steht nicht still, sondern sie kreist mit großer Geschwindigkeit um die Sonne herum; man kreist mit der Erde um die Sonne herum. Dieses Verlieren des Bodens unter den Füßen, das hätten die alten Menschen nicht ertragen, das hätte ihnen das Selbstbewusstsein bis zur Ohnmacht herabgedämpft. Wir lernen das von Kindheit auf ertragen. Wir leben gewissermaßen in der Welt als unserer Bildungswelt drinnen, in welche die Alten erst nach sorgsamer Vorbereitung einzudringen hatten. Dennoch, zurücksehnen dürfen wir uns nicht nach den Zuständen der alten Zivilisationen. Sie passen nicht mehr zu demjenigen, was heute unsere Seele fordert. Dasjenige, was ich Ihnen heute vortrage als anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, es ist weder eine Erneuerung alter gnostischer Lehren noch eine Erneuerung alter orientalischer Weisheit, was alles heute nur als etwas Dekadentes an die Menschenseelen herangebracht werden könnte. 

[…] Wodurch haben wir denn überhaupt dieses intensive Selbstbewusstsein erhalten? Wir haben es ja dadurch erhalten, dass jene Denkweise und jene Anschauungsart in die Menschheit gekommen ist, die mit Kopernikus, Galilei, Kepler, Giordano Bruno und so weiter, ihren Anfang genommen hat. Dadurch haben wir nicht nur eine Summe von Erkenntnissen gewonnen, sondern dadurch hat die moderne Menschheit auch eine gewisse Erziehung ihres Seelenlebens durchgemacht. Alles dasjenige, was wir unter dem Einfluss der Denkweise dieser Geister in der neueren Zeit ausgebildet haben, tendiert darauf hin, vorzugsweise den Intellekt, die Verstandeskräfte zu kultivieren. Gewiss, wir experimentieren heute in der Wissenschaft, wir beobachten sorgfältig und gewissenhaft. Wir verfolgen mit unseren Instrumenten, mit Teleskop, Mikroskop, mit den Röntgenstrahlen, mit dem Spektroskop die Erscheinungen um uns herum, und wir gebrauchen sozusagen unseren Verstand nur, um aus der Erscheinung heraus die Naturgesetze zu gewinnen. Allein, was tun wir trotz alledem, auch wenn wir beobachten, wenn wir experimentieren? Wir tun es so, dass wir innerhalb dieser Erkenntnisarbeit nur den Verstand zur Formulierung der Naturgesetzmäßigkeiten sprechen lassen. Und es ist einmal so, dass vorzugsweise der Intellekt, der Verstand in der menschlichen Entwickelung herangezogen worden ist im Laufe der letzten drei, vier, fünf Jahrhunderte. Der Verstand aber hat die Eigentümlichkeit, dass er das menschliche Selbstbewusstsein erstarkt, erhärtet, intensiv macht. Daher können wir heute dasjenige ertragen, was noch ein alter Grieche nicht ertragen hätte: das Bewusstsein, uns mit der Erde im Bodenlosen gewissermaßen um die Sonne herum zu bewegen. Aber wir werden auf der anderen Seite gerade wegen dieses erstarkten Selbstbewusstseins, das uns die Welt seelen- und geistlos zeigt, dazu geführt, eine Erkenntnis nicht zu haben, nach der sich die Seelen dennoch sehnen müssen: Wir sehen die Welt in ihren materiellen Erscheinungen, ihren materiellen Tatsachen, wie sie die alten Menschen niemals gesehen haben ohne eine Vorbereitung der Mysterien. Aber wir sehen nicht - und deshalb sprechen gerade gewissenhafte Naturforscher von Ignorabimus und von den Erkenntnisgrenzen -, wir sehen nicht die Welt eines Geistigen um uns herum.

[…] Man darf sagen: Großes, Gewaltiges hat die moderne Wissenschaft gebracht, aber für den Unbefangenen hat sie eigentlich nicht Lösungen gebracht, sondern man möchte sagen, das Gegenteil von Lösungen. Und auch darüber muss man zufrieden und froh sein.

Was können wir durch die moderne Wissenschaft? Können wir die Fragen der Seele lösen? Nein, aber wir können sie vertieft stellen! […]

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