Experiment zur Industriellen Revolution
Ein Beitrag von Sven Kanter
Coalbrookdale by Night. Ölgemälde von Philipp Jakob Loutherbourg d. J. aus dem Jahr 1801. Coalbrookdale gilt als eine der Geburtsstätten der industriellen Revolution, da hier der erste mit Koks gefeuerte Hochofen betrieben wurde.
Als ich in der Geschichtsepoche mit meinem ersten Klassenzug an den Punkt der Industriellen Revolution angelangt war, überlegte ich mir, auf welche Weise ich die seelische Situation der arbeitenden Bevölkerung dieser Zeit meinen Schülern näher bringen könnte.
Grundlage:
Früher gab es Zünfte, deren Ziel es war, den Bedarf bestimmter Güter in einer Stadt oder auf einem Land zu decken. Der Preis der Waren wurde so festgelegt, dass Meister, Gesellen und Lehrlinge davon leben konnten.
Mit der Industrielle Revolution änderten sich die Produktionsverhältnisse. In den Städten gab es ein Überangebot an Arbeitskräften. So konnten die Unternehmer die Löhne bis zum Existenzminimum senken. Arbeiter, die sich wegen der schlechten Löhne beschwerten oder die arbeitsunfähig waren, wurden durch andere ersetzt, die vor den Fabrikstoren um Arbeit bettelten. Die durchschnittliche Arbeitsfähigkeit betrug 15 Jahre in den englischen Industriestädten.
Es herrschte strengste Disziplin. Wer zehn Minuten zu spät kam, erhielt einen halben Tageslohn abgezogen. Für Produktfehler musste der verantwortliche Arbeiter Strafe zahlen. Es gab keine Unfallversicherung, keine Altersversorgung und auch keinerlei Schutzrechte für die Arbeiter. Die tägliche Arbeitszeit betrug bis zu 16 Stunden. Es gab keine Sonntags- und Feiertagsruhe und auch keinen Urlaub- oder Krankenstand. Die Sicherheitsvorkehrungen und die hygienischen Zustände waren katastrophal.
Da die Löhne der Männer oft nicht ausreichten, um die Familien zu ernähren, mussten auch Frauen und Kindern Arbeiten in den Fabriken annehmen. Die Frauen mit kleinen Kindern konnten meist nur schlecht bezahlte Heimarbeiten annehmen. Auch die Frauen, die in Fabriken arbeiteten (meist Textilfabriken) bekamen Löhne, die weit unter den Löhnen der Männer lagen.
Wenn man bedenkt, dass unser heutiges Kaufverhalten in armen Ländern Industrien schafft, wo Kinder immer noch auf vergleichbare Art arbeiten müssen, um überleben zu können, dann hat dieses Thema einen sehr aktuellen Bezug.
Ausgangsfrage:
Wie wirkt ein dauerhaft seelenverödendes Arbeiten auf den Menschen? Welche Folgen hat es für die Seele des Menschen, wenn sie keine Möglichkeit bekommt, innerlich an ihr Tun anzuschließen? Was geschieht mit dem Menschen, wenn ihm fortwährend gezeigt wird, dass er nur als funktionierendes Arbeitstier einen Wert hat?
Experiment:
Um die Seelensituation solcher Arbeitsverhältnisse erlebbar zu machen, schlug ich folgendes Experiment vor:
Nehmen wir uns einen Hauptunterricht: Alle sitzen in streng geordneten Reihen, es darf nicht ein Wort geredet werden. Es gibt eine Schülerpersönlichkeit, die kleinste „Arbeitsverstöße“ notiert und mit 50 Cent Strafe (Lohneinbuße) ahndet. Die Schüler sollen einen kurzen, simplen Arbeitsschritt ausführen, der so einfach ist, dass er gar nicht erlernt werden braucht. Auf der anderen Seite kann man seelisch an seine Arbeit nicht anschließen, weil man weder Sinn noch Entwicklung sieht. Das Arbeitsmaterial wird von Zulieferschülern gebracht und abgeholt, sodass die Arbeitsschüler den Platz nicht verlassen dürfen. Ihren Materialbedarf machen die Arbeiter nur durch stilles Aufzeigen, nicht aber durch Reden deutlich.
Ich sagte zuvor nicht, um welche Arbeit es sich handeln wird und fragte die Schüler, ob wir dieses Experiment auf dem Hintergrund unserer Ausgangsfragen machen wollen. Um die Situation möglichst authentisch nachzustellen, musste auch die Geldstrafe akzeptiert werden. Alles hörte sich sehr aufregend an und die Klasse war selbstverständlich bereit.
Vorbereitung:
Also machte ich mich an die Vorbereitung. Es war zufällig Basarvorbereitungszeit und für Schachbretter, die eine andere Klasse gefertigt hatte, mussten eine Unmenge 5 x 5 cm große Holzplättchen einseitig angestrichen werden. Von dem Zweck dieser Holzplättchen wusste meine Klasse allerdings nichts. Jeden Tisch legte ich mit Zeitungspapier aus; zwei Pinsel und ein Farbglas kamen hinzu. Ablagemöglichkeit für die „fertige Ware“ wurde geschaffen.
Durchführung:
Die Schüler setzten sich auf ihre zugewiesenen Plätze. Die Rollen (Arbeiter, Zulieferer, Aufsichtsperson) wurden festgelegt und der einfache Arbeitsprozess wurde erklärt. Alle Regeln waren klar. Alle denkbaren Variationsmöglichkeiten schlossen wir aus. Und dann ging`s los.
Ergebnis:
Auf der einen Seite war es ein Riesenerfolg, auf der anderen Seite eine Bauchlandung: Das Verhalten der Schüler war hervorragend. Kaum Regelverstöße und alles lief in einem unglaublichen Tempo ab, weil nirgendwo Hemmnisse im Arbeitsablauf auftauchten. Aber dies wurde gleichzeitig zu meinem Problem: Die Schüler war viel zu schnell fertig und hatten sämtliches Material in 40 Minuten verbraucht. Das war natürlich eine Zeit, in der man die ganze Stupidität dieser Arbeit noch nicht erleben konnte. Man hätte mindestens noch die erste Fachstunde hinzunehmen müssen. Trotzdem war dieses Experiment sehr erfolgreich, weil sich viel daran problematisieren, aber auch lernen ließ. Die Schüler sollten das ganze Experiment am Ende schriftlich dokumentieren.