Das Leiden der Bevölkerung

aus "Bilder aus der deutschen Vergangeheit" von Gustav Freiytag (1816-1895)

[...] So lebte der Bauer in Mitteldeutschland noch nach dem Jahre 1618. Er hörte des Sonntags in der Schenke von wildem Kriegsgetümmel hinten in Böhmen, wo die Länder des Kaisers lagen, um den er sich wenig kümmerte. Er kaufte wohl von einem verschmitzten Händler ein fliegendes Blatt oder ein Spottlied auf den verlo­renen König von Böhmen; er gab einem zerschlagenen Flüchtling von Prag oder Budweis, der bettelnd an seine Tür kam, von seinem Brot und Käse und hörte die Schauergeschichten desselben mit Kopfschütteln. Der Amtsbote brachte ein Schreiben des Landesherrn in das Dorf, aus dem er sah, dass auch ihm zugemutet wurde, für neugeworbene Soldaten Geld und Getreide nach der Stadt zu liefern, er ärgerte sich und eilte, seinen Schatz noch tiefer zu vergraben. Doch bald wurde ihm deutlich, dass eine schlechte Zeit auch gegen ihn heranziehe, denn das Geld, welches er in der Stadt empfing, wurde sehr rot, und alle Waren wurden teurer; auch er wurde in die heillose Verwirrung hineingezogen, welche seit 1620 durch das massenhafte Ausprägen wertlosen Geldes über das Land kam. Er behielt Getreide und Fleisch zu Hause und zog gar nicht mehr nach der Stadt. Aber er bekam doch Händel mit Städtern und seinen Nachbarn, weil auch er das neue Geld bei seinen Zahlungen loswerden wollte und nur gutes altes als Bezahlung anneh­men. Sein Herz war voll böser Ahnungen. So ging es bis zum Jahre 1623. Da sah er das Unheil noch von anderer Seite heranziehen. Die Diebstähle und Einbrüche mehrten sich, fremdes Gesindel wurde oft auf den Landstraßen gesehen, Trompe­ter sprengten mit schlimmen Nachrichten nach den Städten, angeworbenes Kriegsvolk zog prahlerisch und frech vor seinen Hof, forderte Unterhalt, stahl Würste und nahm Hühner im Schnappsack mit. Defensioner, die neu errichtete Landmiliz, trabten in das Dorf, forderten wieder Zehrung, drängten sich zu ihm in Quartier und belästigten ihn mehr als die Spitzbuben, welche sie von seinen Viehställen abhalten sollten.

Endlich begannen - für Thüringen seit 1623 - die Durchmärsche fremder Trup­pen, und die großen Leiden des Krieges senkten sich auf ihn. Fremdes Kriegsvolk von abenteuerlichem Aussehen, durch Blut und Schlachten verwildert, marschierte in sein Dorf, legte sich ihm in Haus und Bett, misshandelte ihn und die Seinen, forderte Zehrung, Kontribution, außerdem Geschenke und zerschlug, verwüstete und plünderte doch noch, was ihm vor Augen kam. So ging es fort, seit 1626 mit jedem Jahre schlimmer, Banden folgten auf Banden, mehr als ein Heer setzte sich um ihn herum in Winterquartieren fest, die Lieferungen und Quälereien schienen endlos. Mit Entsetzen sah der Bauer, dass die fremden Soldaten mit einer Spür­kraft, die er der Zauberei zuschrieb, aufzufinden wussten, was er tief in der Erde versteckt hatte. Wenn er ihnen aber zu schlau gewesen war, so wurde sein Los noch schlechter, dann wurde er selbst ergriffen und durch Qualen, welche niederzu­schreiben peinlich ist, gezwungen, den Versteck seiner Schätze anzugeben. Von dem Schicksal seiner Frau und seiner Töchter schweigen wir, das Gräuliche wurde so gewöhnlich, dass eine Ausnahme befremdlich war. Und noch andere Leiden folgten. Seine Töchter, seine Magd, sein kleiner Knabe wurden nicht nur viehisch misshandelt, sie waren auch in dringender Gefahr, durch Überredung oder Gewalt fortgeführt zu werden. Denn jedem Heerhaufen folgte der rohe unselige Tross von Dirnen und Knaben. Aber die Wirtschaft des Landmanns ward noch in anderer Weise verwüstet. Sein Knecht hatte vielleicht einige Jahre die Schläge der fremden Soldaten ertragen, zuletzt lief er selbst unter die, welche schlugen; die Gespanne wurden vom Pflug gerissen, die Herden von der Weide geholt, und dadurch die Bestellung der Felder oft unmöglich gemacht.

Und doch, wie jammervoll und hilflos seine Lage war, in der ersten Hälfte des Krieges, bis zum Tode Gustav Adolfs, war doch das Schrecklichste noch verhält­nismäßig erträglich. Denn noch war selbst in Plünderung und Zerstörung ein ge­wisses System, einige Mannszucht hielt wenigstens die regelmäßigen Heerhaufen zusammen, und ein und das andere Jahr verlief ohne große Truppenzüge. [...]

Die Wirkungen, welche ein solches Leben voll Unsicherheit und Qual auf die Seelen der Landleute ausübte, waren sehr traurig. Die Furcht, eine bebende, kläg­liche Furcht umzog entnervend die Herzen. Immer war ihr Gemüt voll von Aber­glauben gewesen, jetzt wurde mit rührender Leichtgläubigkeit alles aufgesucht, was als Eingreifen überirdischer Gewalten gedeutet werden konnte. Man sah am Himmel die schrecklichsten Gesichter, man fand die Anzeigen furchtbaren Unheils in zahlreichen Missgeburten, Gespenster erschienen, unheimliche Laute klangen vom Himmel und auf der Erde. [...]

Neben dem Schrecken zogen Trotz und wilde Verzweiflung in die Seelen. Die sittliche Verwahrlosung nahm im Landvolk furchtbar überhand. Weiber entliefen den Männern, Kinder den Eltern; die Gewohnheiten, Laster und Krankheiten der durchziehenden Heere blieben zurück, selbst wenn die Räuber aus dem verwüste­ten und halb zerstörten Dorf abzogen. Das Branntweintrinken, das seitdem Bau­ernkrieg in das Volk gekommen war, wurde ein gewöhnliches Laster. Die Achtung vor fremdem Eigentum verschwand. Im Anfang des Krieges waren die Nachbar­dörfer einander noch hilfreich gesinnt. Wenn die Soldaten in dem einen Dorf Vieh forttrieben und dasselbe bei der nächsten Nachtrast wieder verkauften, so gaben die Käufer den neuen Erwerb oft den früheren Eigentümern um den Einkaufspreis zurück. Das taten in Franken selbst katholische und protestantische Ortschaften einander zuliebe. Allmählich aber begann der Landmann zu stehlen und zu rauben wie der Soldat. Bewaffnete Haufen rotteten sich zusammen, zogen über die Lan­desgrenze in andere Dörfer und entführten, was sie bedurften. Sie lauerten den Nachzüglern der Regimenter in dichtem Wald öder in Gebirgspässen auf und nah­men oft nach hartem Kampf an dem Leben der Bezwungenen eine rohe Rache, ja sie überboten die Virtuosität der Soldaten in Erfindung von Todesqualen, und es wird wenige Waldhügel geben, in deren Schatten nicht gräuliche Untat von sol­chen verübt ist, welche dort früher als friedliche Holzfäller und Steinbrecher ihr kunstloses Lied gesungen hatten. Es entstand allmählich ein grimmiger Korpshass zwischen Soldaten und Bauern, der bis an das Ende des Krieges dauerte und mehr als etwas anderes die Dörfer Deutschlands verdorben hat. - Auch zwischen den Landschaften und einzelnen Orten entbrannten Fehden. [...]

Nach Kräften suchten sich die Dörfer vor der Raubgier der Soldaten zu wahren. Solange noch Geld aufzubringen war, machten sie Versuche, durch Zahlung einer Geldsumme an die vorausgesandten Offiziere die Einquartierung abzukaufen, und mancher Schurke benutzte solche Furcht und erhob in der Maske eines anmel­denden Furiers hohe Steuern von den getäuschten Dorfsassen. Auf die Kirchtürme und hohen Punkte der Flur wurden Wachen gestellt, die ein Zeichen gaben, wenn Truppen in der Ferne sichtbar wurden. Dann brachte der Landmann, was er retten konnte, die Frauen und Kinder und leichtbewegliche Habe, eilig in ein entferntes Versteck. Solche Verstecke wurden mit großem Scharfsinn ausgesucht, durch Nachhilfe noch unzugänglicher gemacht, und wochen-, ja monatelang fristeten dort die Flüchtlinge ihr angstvolles Dasein. Im schwarzen Moor zwischen Gräben,

Binsen und Erlengebüsch, in dunkler Waldesschlucht, in alten Lehmgruben und in verfallenem Mauerwerk suchten sie die letzte Rettung. Noch jetzt zeigt an man­chen Orten der Landmann mit Teilnahme auf solche Stellen. Zu Aspach in einem alten Turm ist 16 Fuß über dem Boden ein großes Gewölbe mit eiserner Tür, dort­hin flüchteten die Aspacher, sooft kleine Banden auf das Dorf marschierten; für längere Flucht aber hatten sie ein Feld von mehreren Ackern, das mit Hainbuchen dicht umwachsen war, darum pflanzten sie Dorngebüsch, welches auf dem frucht­baren Boden hoch wie Bäume wurde und dicht wie eine Mauer stand. In diesem Verhack, zu dem man nur auf dem Bauch kriechend gelangen konnte, hat sich die Gemeinde oft verborgen. Nach dem Kriege wurden die Dornen ausgereutet und der Boden in Hopfen-, dann in Krautländer verwandelt. Noch heißt ein Teil dieses Grundes „der Schutzdorn". - Waren die Soldaten abgezogen, dann kehrten die Flüchtlinge in ihre Häuser zurück und besserten notdürftig aus, was verwüstet war. Nicht selten freilich fanden sie nur eine rauchende Brandstätte.

Auch nicht alle, welche geflohen waren, kamen zurück. Die Wohlhabenderen suchten sich und ihre Habe in den Städten zu bergen, wo doch die Kriegszucht ein wenig straffer und die Gefahr geringer war. Viele auch flüchteten in ein anderes Land, und wenn dort Feinde drohten, wieder in ein anderes. Die meisten hat sicher das Elend dort nicht weniger hart geschlagen. - Aber auch die im Land blieben, kehrten nicht alle zur heimischen Flur. Das wilde Leben im Versteck und Wald, die rohe Freude an Gewalttat und Beute machte die Trotzigsten zu Raube. Mit rostigen Waffen versehen, die sie vielleicht getöteten Marodeuren abgenommen hatten, führten sie unter den Fichten der Berge ein gesetzloses Leben als Gefährten des Wolfes und der Krähe, als Wilddiebe und Wegelagerer.

So verminderte sich die Bevölkerung des flachen Landes mit reißender Schnel­ligkeit. Schon zur Zeit des Schwedenkönigs waren mehrere Dörfer ganz verlassen, und um die geschwärzten Balken und das Stroh der zerrissenen Dächer schlichen die Tiere des Waldes und etwa die zerlumpte Leidensgestalt eines alten Mütter­leins oder eines Krüppels. Von da nahm das Unheil in solcher Steigerung zu, dass sich nichts in der neueren Geschichte damit vergleichen lässt. Zu den zerstörenden Dämonen des Schwertes kamen andere nicht weniger furchtbare und noch gefrä­ßigere. Das Land war wenig bebaut worden und hatte eine schlechte Ernte gege­ben. Eine unerhörte Teuerung entstand, Hungersnot folgte, und in den Jahren 1635 und 1636 ergriff eine Seuche, so schrecklich, wie sie seit hundert Jahren in Deutschland nicht gewütet hatte, die kraftlosen Leiber. Sie breitete ihr Leichen­tuch langsam über das ganze deutsche Land, über den Soldaten wie über den Bau­ern; die Heere fielen auseinander unter ihrem sengenden Hauch, viele Orte ver­loren die Hälfte ihrer Bewohner, in manchen Dörfern Frankens und Thüringens blieben nur einzelne übrig. Was noch von Kraft in einer Ecke des Landes gedauert hatte, jetzt wurde es zerbrochen. - Der Krieg aber wütete von dieser Schreckens­zeit ab noch zwölf lange Jahre. Auch er war schwächer geworden, die Heerhaufen kleiner, die Operationen aus Mangel an Lebensmitteln und Tieren unsteter und planloser; aber wo die Kriegsfurie aufflackerte, fraß sie erbarmungslos weg, was sich noch von Leben zeigte. Das Volk erreichte die letzte Tiefe des Unglücks, ein dumpfes apathisches Brüten wurde allgemein. Von den Landleuten ist aus dieser letzten Zeit wenig zu berichten. Sie vegetieren verwildert und hoffnungslos, aber nur geringe Nachrichten sind in Dorfurkunden, Pfarrbüchern und kleinen Chro­niken zu finden. Man hatte in den Dörfern das Schreiben, ja fast die laute Klage verlernt. [...]

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