Bündnisse und Mobilmachungen

Franz Joseph schließt die Fenster und geht hinunter in die Schlosskapelle, wo das Ewige Licht brennt. Extrablätter schreien die Ereignisse in alle Welt: das österrei­chisch-ungarische Thronfolgerpaar in Sarajewo ermordet! Hoch­spannung zwischen Österreich und Serbien!

Ja, es ist nun erwiesen, dass die Mörder aus Belgrad kamen, dass sie Waffen der serbischen Armee benützten und von hohen serbischen Offizieren im Schießen ausgebildet worden sind. Bel­grad hat die Schüsse gegen das Kaiserreich abgefeuert.

Krieg gegen Serbien? Der österreichisch-ungarische Außenmi­nister Graf Berchtold ist entschlossen, ein für allemal den pan- slawistischen, großserbischen Umtrieben ein Ende zu machen. Aber - wird ein derart schroffes Vorgehen nicht verderbliche Kreise ziehen? Die Welt ist ein Pulverfass!

Der deutsche Kaiser befindet sich auf einer Nordlandreise; der französische Staatspräsident Raymond Poincare weilt im Augen­blick zu Besuch beim Zaren in Petersburg. Die Herren des deut­schen Außenamts versichern die Österreicher bei einer Bespre­chung in Potsdam ihrer unbedingten Bündnistreue - ein etwas leichtfertig abgegebenes Blankoversprechen, das dem Grafen Berchtold Mut zu scharfem Vorgehen macht.

Aber für Österreich scheint es keine andere Wahl mehr zu ge­ben, wenn es weiterleben will. »Das Land glaubt, dass es nur noch die Wahl hat, die Serben zu bändigen oder früher oder später Verstümmelung durch sie zu erleiden. Die Sache Österreichs gilt in Wien für so gerecht, dass es dem Volke undenkbar erscheint, dass sich ihm irgendein Land in den Weg stellen könnte.«

 

Vier Wochen nach dem Attentat

So wird vier Wochen nach dem Attentat, am 23. Juli 1914, ein Ultimatum in Belgrad übergeben: Die serbische Regierung wird aufgefordert, im Staatsorgan eine von Österreich vorgeschrie­bene Erklärung gegen die panslawistische Bewegung abzugeben, die »Narodna Odbrana« und alle großserbischen Vereine müssen aufgelöst und die Propaganda gegen Österreich unterbunden wer­den. Bei den Untersuchungen gegen hohe serbische Beamte sollen auch kaiserliche Beamte aus Wien mitwirken.

 

Bedingungslose Annahme der Forderungen

Die bedingungslose Annahme der Forderungen ist auf achtund­vierzig Stunden befristet. Tatsächlich erscheint nach Ablauf dieser kurz bemessenen Zeit der hochbetagte serbische Ministerpräsi­dent Paschitsch in der österreichischen Gesandtschaft und über­reicht eine in der Form sehr verbindliche Antwortnote, die freilich der Annahme der Forderungen gewisse Einschränkungen und Vorbehalte beifügt; die Mitwirkung österreichischer Organe bei der Untersuchung der Vorgänge, die zu der Bluttat geführt haben, wird als Eingriff in die staatliche Unabhängigkeit Serbiens zu­rückgewiesen. Der österreichische Gesandte, Freiherr von Giesl, liest die Note und erklärt ihren Inhalt für ungenügend.

Eine halbe Stunde später verlässt er mit dem Gesandtschafts­personal Belgrad. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich und Serbien sind abgebrochen.

Stand bisher ein großer Teil der europäischen Meinung auf seitens Österreichs und seines ehrwürdigen alten Kaisers, so schlägt die Stimmung jetzt um. Man glaubt, dass Österreich nur einen Vorwand suche, in das verhasste Serbien einzumarschieren. Das Prestige Russlands als Beschützer der »slawischen Brüder« werde ein ruhiges Beiseitestehen St. Petersburgs nicht zulassen. Das Kriegsgespenst erhebt sich drohend.

Kaiser Wilhelm, der aus Norwegen zurückgekehrt ist, erklärt beim Bekanntwerden der serbischen Antwortnote: »Eine brillante Leistung für eine Frist von bloß achtundvierzig Stunden! Das ist mehr, als man erwarten konnte. Ein großer moralischer Erfolg für Wien. Damit fällt jeder Kriegsgrund fort, und Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen. Daraufhin hätte ich niemals Mobilmachung befohlen!«

 

Teilmobilmachung Österreich-Ungarns

Österreich-Ungarn hat tatsächlich die Teilmobilmachung gegen den kleinen Nachbarn befohlen, vor ihm aber hat schon Serbien mobilisiert.

Noch besteht die Chance, den Streitfall auf den Balkan zu lokalisieren. Aber die panslawistische Kriegspartei in Petersburg glaubt, ihre Stunde sei gekommen: ein siegreicher Krieg, der end­liche Durchbruch zum warmen Meer und die Ablenkung der gä­renden Sozialrevolution in einen allgemeinen nationalen Aufbruch sind zu verführerische Aussichten, als dass man eine solche Ge­legenheit vorübergehen ließe. Russland stärkt den Serben den Rücken. Kaum wird die österreichische Kriegserklärung an Bel­grad bekannt, als Außenminister Sassonow zum Zaren eilt und ihn bestürmt, nun auch die russische Mobilmachung nicht länger zu verzögern. Noch widerstrebt Zar Nikolaus II., den Königs­mördern militärisch zu Hilfe zu kommen, aber endlich erliegt er - ein schwankender, unsicherer Mann - dem vereinten Ansturm der Minister, Generale und Großfürsten.

 

Generalmobilmachung Russlands

Er unterschreibt die Generalmobilmachung in der Nacht vom 28. auf den 29. Juli. Der Aufmarsch im Osten beginnt. Die Welt ist von einem verhängnisvollen Netz von Kriegs­bündnissen unentrinnbar umspannt. Wird Russland in den Krieg verwickelt, so muss Frankreich ihm beispringen. In dem franzö­sisch-russischen Bündnisvertrag heißt es:

»Mobilmachung bedeutet die Erklärung des Krieges. Die mobili­sierten Streitkräfte müssen schleunigst zum entscheidenden Kampfe eingesetzt werden.«

Wird Österreich angegriffen, so muss Deutschland marschieren. England aber ist außer durch die öffentlich geschlossene »Entente cordiale« noch durch geheime Abmachungen an Frankreichs Ent­scheidung nach vielen Richtungen hin gebunden. Allerdings be­darf es zum kriegerischen Eingreifen Londons auf seiten Frank­reichs eines Anlasses, der das Unterhaus und das englische Volk, die beide von diesen Geheimabmachungen nichts wissen, von der Notwendigkeit eines solchen Schrittes im Interesse Englands überzeugt.

So bewegt jeder Griff in das komplizierte Netz der europä­ischen »Sicherheitsverträge« tausend Fäden, zieht hundert töd­liche Schlingen zu.

Noch immer schwankt Nikolaus II., scheut vor dem letzten, unwiderruflichen Schritt zurück. Aber die beiden Onkel des Za­ren, die Großfürsten und Generale Nikolaus und Peter Nikolaje- witsch, deren Gattinnen Töchter des Königs Nikolaus von Monte­negro sind, drängen ihn zur Entscheidung. Auch Außenminister Sassonow beschwört den Zaren, die Gelegenheit, an der Seite mächtiger Verbündeter die Schmach des Japankrieges wettzuma­chen, mutig zu ergreifen.

So gibt Zar Nikolaus nach, und am Spätnachmittag des 30. Juli, um sechs Uhr, wird der Befehl an die Truppen ausgegeben. Am nächsten Frühmorgen lesen es in allen Städten und Dörfern des weiten russischen Reiches auf Maueranschlägen die friedlichen Bauern und Bürger: Mobilmachungsbefehl!

Am gleichen Tag läuft bei der deutschen Botschaft in St. Petersburg eine Depesche des Berliner Auswärtigen Amts ein. Das chiffrierte Telegramm ist vom deutschen Reichskanzler Bethmann Hollweg persönlich gezeichnet:

»Dringend! Trotz noch schwebender Vermittlungsverhandlungen und obwohl wir selbst bis zur Stunde keinerlei Mobilmachungs­maßnahmen getroffen hatten, hat Russland ganze Armee und Flotte, also auch gegen uns mobilisiert. Durch diese russischen Maßnahmen sind wir gezwungen worden, zur Sicherung des Reiches die drohende Kriegsgefahr auszusprechen, die noch nicht Mobilmachung bedeutet.

Die Mobilmachung muss aber erfolgen, falls nicht Russland bin­nen zwölf Stunden jede Kriegsmaßnahme gegen uns und Österreich-Ungarn einstellt und uns hierüber bestimmte Erklärungen abgibt. Bitte das sofort Herrn Sassonow mitteilen und Stunde der Mit­teilung drahten. B. H.«

Als nach zwölf Stunden keinerlei Antwort von russischer Seite erfolgt, telegrafiert am 1. August 1914 noch einmal Kaiser Wil­helm beschwörend an den Zaren, den Mobilmachungsbefehl zu­rückzuziehen.

Am Nachmittag dieses Tages erhält der deutsche Botschafter, Graf Pourtales, offiziell das »Nein« Sassonows. Um diese Stunde rollen seit eineinhalb Tagen Truppenzüge an die Westgrenzen Russlands. Auch in Sibirien stationierte Regimenter sind darun­ter. Generalissimus Nikolaus Nikolajewitsch war seiner Sache sehr sicher gewesen!

 

Um 17 Uhr mobilisieren auch Deutschland und Frankreich.

Auf eine ultimative Anfrage der deutschen Botschaft in Paris, was die Französische Republik im Falle eines deutsch-russischen Krieges zu tun gedenke, antwortet Minister Viviani ausweichend: »Frankreich wird tun, was seine Interessen gebieten.«

 

Die Militärs übernehmen die Führung

Doch schon haben auf allen Fronten die Militärs die Führung übernommen. Der weitere Ablauf der Dinge wird nur noch von den »militärischen Notwendigkeiten« bestimmt. Die Generäle dik­tieren den Verlauf der Geschehnisse, noch bevor in Europa ein Schuss gefallen ist. Sie werden auch den Einmarsch der deutschen Heere in Luxemburg und Belgien befehlen und damit London den Anlass geben, zur Abwendung der Gefahr einer »deutschen Scheldemündung« in den Krieg einzugreifen.

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