Karl der Große (2)
Der Gottesstaat im Abendland
Die Franken hatten die in Europa einbrechenden Araber hinter die Pyrenäen zurückgeworfen. Sie waren der stärkste aller Germanenstämme. In vier Jahrhunderten hatten sie nicht nur das römisch-keltische Gallien erobert, sondern auch fast alle benachbarten Brudervölker unter ihre Herrschaft gebracht. Zuletzt hatte Karl der Große sogar das Königreich der Langobarden jenseits der Alpen unterworfen. Sein Reich umfasste jetzt, am Ende des 8.Jahrhunderts, die heutigen Länder Frankreich, Belgien, Holland, Westdeutschland, Österreich, die Schweiz und Italien bis nach Rom hinunter.
Der König überlegte: Mein Großvater, Karl Martell, hat die Araber geschlagen. Die Christen haben die Mohammedaner besiegt. Alle Völker meines großen Reiches mit Ausnahme der widerspenstigen Sachsen bekennen sich zum Christentum. Und ich, König Karl, bin der Vater dieser Christen. Ihr Vater auf Erden! Denn ihren wahren Vater haben die Christen im Himmel. Darum ist auch der Himmel ihr wahres Vaterland. Auf Erden sind sie in der Fremde. Durch die Fremde pilgern sie nach dem ewigen Gottesreich im Jenseits. Aber sie sind doch schon jetzt Bürger jenes Gottesreiches, wenn Fürst und Volk dem Willen Gottes nachleben. Also ist auch ihr irdisches Vaterland ein Teil des himmlischen.
Es war dem König wohl bewusst, wer ihn auf diese Gedanken gebracht hatte. Sie stammten aus dem Buch «Vom Gottesstaat», das der heilige Augustin um 400, mitten in den Stürmen der Völkerwanderung, geschrieben hatte. Das war ihm lieb wie kein zweites in seiner großen Hofbibliothek, abgesehen vom Evangelium, das er mit Silber und Gold auf Pergament hatte abschreiben lassen. Immer wieder, während der Mahlzeit, oft auch in der Nacht, wenn der Tageslärm verstummt war, musste ihm einer der Hofgelehrten vom Gottesstaat vorlesen. Denn er fühlte seine große Verantwortung. «Auf dir allein beruht das ganze Heil der Kirche Christi», hieß es in einer Mahnung seines obersten Ratgebers, des englischen Gelehrten Alkuin. Selbst die Bischöfe südlich der Alpen nannten ihn «Herrn und Vater, König und Priester, aller Christen Leiter und Führer». Er war der Vater des Gottesstaates im Abendland.
Jedes Jahr im Frühling
Aus allen Teilen des riesigen Frankenreiches kamen sie! herbeigeritten, um sich mit ihrem König zu treffen. Viele von ihnen waren schon aufgebrochen, als noch Schnee auf den Feldern lag und nur Krähenschwärme in der Luft hingen. Die Hufe ihrer Pferde brachen durch das splitternde Eis überfrorener Wasserpfützen, die Räder der ungefügen Proviantwagen versanken im auf geweichten Boden. An ihrem Weg lagen Römerstädte wie Köln, Mainz, Trier, Vienne, Lyon oder Paris, aber keine davon zog sie sonderlich an. Diese Reiter waren daran gewöhnt, zusammen mit ihren Tieren auf nasser Erde zu schlafen. Sie hatten von Jugend an fast nur im Freien gelebt und kannten nur zwei verschiedene Jahreszeiten: die Monate von Spätherbst bis Frühjahrsbeginn, die sie, widerwillig genug, unter dem Dach dumpfer, raucherfüllter Holzhäuser verbrachten, und die anderen Tage, in denen sie mit ihrem König zusammen Krieg führten.
Außer dem Waffenhandwerk hatten die Reiter fast nichts erlernt. Und niemand übertraf sie in der Kunst, einen Gegner zu töten. Beim Angriff kamen die Franken in einem Schauer von Wurfbeilen daher, deren nach hinten gebogener Griff den Flug regulierte und deren Schneide scharf genug war, um jeden getroffenen Helm zu durchschlagen. Sie galten zwar bereits als die Herren der westlichen Welt, brachen aber dennoch in jedem Frühjahr von neuem auf, um sich weitere Gegner zu suchen und sie niederzuwerfen.
Märzfeld
Das erste Ziel, dem die Reiter nach ihrem Aufbruch zustrebten, trug den Namen „Märzfeld". Er bezeichnete weniger einen bestimmten Ort als vielmehr einen genau festgelegten Termin im Kalender. Sobald sich der erste grüne Schimmer über die Landschaft legte, begegneten sie irgendwo zwischen Alpen und Atlantikküste, zwischen Donau und Rhone ihrem König, damit der ihnen sage, wer in diesem Jahr angegriffen werden solle.
Karls Aussehen
Karl, der Herr aller Franken, glich seinen Reitern wie ein Soldat dem anderen. Er trug das breite, lange Offiziersschwert mit der damaszierten Klinge, war wie sie mit ledernen Wickelgamaschen, festen Stiefeln, leinenen Hosen und leinenem Wams bekleidet und hatte sich gleich den meisten von ihnen einen Schnurrbart wachsen lassen, dessen Spitzen über die Mundwinkel herabhingen. Die Augen, aus denen Karl das zusammenströmende Heer musterte, waren groß und rund, die Lippen darunter üppig, die Nase ziemlich lang. Seine ganze Erscheinung war den Reitern zutiefst vertraut: ein fast zwei Meter großer, gewappneter Krieger auf einem hohen, derben Pferd.
Ein Herrscher im Sattel
Sein Staat ruhte auf den Schultern von Männern, die seit den Tagen der großen Völkerwanderung noch kaum zur Ruhe gekommen waren. Nur im Sattel fühlten sie sich wirklich zu Hause, deshalb musste auch ihr König vom Sattel aus regieren. Karls Aufgabe würde darin bestehen, der Streitmacht voranzureiten, sobald sie marschbereit war.
Der fränkische Herrscher besaß keinen ständigen Amtssitz, keine Hauptstadt, keinen Palast. Auf dem Weg von einem Rastplatz zum anderen - auch seine verschiedenen Hofgüter waren kaum mehr als weit über das Reich verstreute Rastplätze - hatte er Entscheidungen zu treffen, von denen sich viele auf die Geschicke ganz Europas auswirkten. Er mochte im Geist die römischen Verhältnisse ordnen, sich mit den Zuständen in Pavia befassen oder sich mit dem Kaiser von Byzanz auseinandersetzen, in der Realität musste er diesen rastlosen Reiterhaufen anführen, von dem es letztlich abhing, ob er seine weitgespannten Vorhaben überhaupt verwirklichen konnte. Karl war einer der mächtigsten Männer der Welt, aber er führte das Leben eines gewöhnlichen Nomadenhäuptlings.