Eine Flucht aus dieser Welt (ERZÄHLUNG)

Welch ein Friede, welch eine Ordnung!

Cassiodorus Senator steht hoch oben auf dem Monte Cassino, an die hölzerne Balustrade der gemauerten Terrasse gelehnt. Er lässt den Blick weit übers Tal bis hinüber zu dem blauen Gebirgs­rücken schweifen.

Aus solchem Abstand betrachtet, macht die Welt einen stillen, friedlichen Eindruck. Man sieht die winzigen Gehöfte, das weiße Band der Straßen, die kleinen, regelmäßigen Flecke der Felder und Weingärten. Aber man kann nicht mehr sehen, dass die mei­sten dieser römischen Gehöfte, die weißen Villen und die stillen Hütten Ruinen sind - zerstört von dem nicht endenden Krieg. Ganz Italien ist seit Generationen Schlachtfeld für Römer, Ger­manen und Byzantiner. Räuberbanden hausen in den Wäldern und Gebirgsschluchten, verwilderte Soldatenhorden plündern Städte und Landgüter. Alle Ordnung scheint sich aufzulösen, alles Recht ist gebrochen. Die Menschen sind wie wilde Tiere gewor­den, die sich gegenseitig morden. Der Lebenskampf von Ostgoten und Römern strebt seinem Höhepunkt zu. Kaiser Justinian hat ge­waltige Heere von Griechen, hunnischen Hilfsvölkern und barba­rischen Verbündeten landen lassen. Die Goten ringen um ihr zu­sammengeraubtes, auf den Trümmern Roms errichtetes König­reich.

Lange Zeit war Cassiodorus Senator, ein hochgebildeter römi­scher Patrizier, Kanzler des Gotenkönigs Theoderich. Aber seine Politik der Versöhnung zwischen Germanen und Römern, sein Streben nach friedlichem Nebeneinander der römisch-katholi­schen Kirche und der arianischen der Goten scheiterte. Alles en­dete in einem Sumpf aus Blut und Tränen. Der Krieg musste ent­scheiden.

Cassiodorus Senator ist müde, enttäuscht von dieser schreckli­chen Welt. Hier aber, in Monte Cassino, herrscht Friede: eine Insel inmit­ten der aufgestörten Menschenwelt, ein Eiland der Besinnung. Cassiodorus Senator zählt fünfzig Jahre. Aber er fühlt sich ur­alt. Nur noch die Sehnsucht nach Stille, nach Abgeschiedenheit, nach dem Glück in Gott erfüllt ihn.

 

Die Gemeinschaft der Mönche

Wie eine friedliche, kleine Welt ist diese Gemeinschaft der Mönche! Der Gipfel des weithin beherrschenden Berges hallt wi­der vom Schlag der Äxte und Hämmer. Noch immer wird gerodet und gegraben, ausgeschachtet und Mörtel gerührt. Auf den etwas tiefer gelegenen Äckern sieht Cassiodorus Mönche in der schwar­zen »Cappa« barfuß hinter den Ochsenjochen gehen und die dampfende Erde pflügen. Andere schneiden die Reben im Wein­garten oder pfropfen Edelreiser auf die Obstbäume. In den Werk­stätten des Klosters wird fleißig gewerkt, gehobelt, gemalt, geschmiedet, genagelt, Mehl gemahlen, Brot gebacken, Leder ge­gerbt.

Der Senator wendet sich um und blickt zur Kirche hinauf. Man hat ihm gesagt, dass die erste Kirche des Monte Cassino über einem verfallenen Sonnenheiligtum errichtet worden sei. Der uralte, den Heidengöttern geweihte Platanenhain unterhalb des Gipfels ist längst den Äxten der Mönche zum Opfer gefallen. Dar­aus haben sie die Balken für die Wohngebäude, für den Dachstuhl der Kapelle, für die Stallungen und Remisen angefertigt.

 

Benedikt von Nursia

Dieser Benedikt von Nursia, Patriziersohn wie Cassiodorus Se­nator, ist den klügeren und besseren Weg gegangen. Während Cas­siodorus in der Welt Ehren und Ämter errang und meinte, er könne durch eine kluge Politik, durch diplomatischen Kampf die grausame Welt ändern, hatte Benedikt drei Jahre nach dem Tod des großen Theoderich, als schon die kriegerischen Auseinandersetzungen anfingen, seinen Orden gegründet.

Orden kommt von dem lateinischen »ordo«, Ordnung. Und wo ringsum die alte Staats- und Rechtsordnung zerfiel, wo sogar die christliche Ordnung sich in Gewalt, Krieg und Elend aufzulösen schien, war Benedikt zurückgekehrt zum uralten römischen Geist: eben zur Ordnung!

Aber es war eine neue, eine christliche Ordnung, die er und seine Brüder schufen. Ihr Kernsatz lautete: »Ora et labora - bete und arbeite!«

So kamen die frommen Brüder auf den abgelegenen Berggipfel des Monte Cassino, bauten Kirche und Kloster, pflügten die Äcker, legten die Weinberge an und übten die alten, schon fast vergessenen Handwerkskünste Roms. Eine Zelle der neuen, kom­menden Christenwelt entstand, eine Insel des Friedens.

»Was grübelst du, Magister Gloriosus?« sagt eine milde Altmän­nerstimme neben Cassiodorus. Der Senator wendet sich um und sieht, dass Benedikt ihm ge­folgt ist und nun neben ihm steht. Benedikt ist ein kleiner, schon vom Alter und schwerer Arbeit gebeugter Mann, der, wie jeder seiner Brüder die schwarze Cappa trägt. Sie besteht aus einem gro­ben, mantelartigen Gewand, der »Cuculla«, und der im Nacken hängenden Kapuze. Den Leib gürtet ein einfacher Strick, dessen herabbaumelnde Enden drei Knoten zum Zeichen der drei Mönchsgelübde tragen: der freiwilligen Besitzlosigkeit, der Ehelo­sigkeit und des freiwilligen Gehorsams unter einem geistlichen Oberen.

Cassiodorus spricht Benedikt mit dem griechischen Wort für Vater an, wie es bei den Mönchen üblich ist. Denn das Mönchtum ist griechischer Herkunft. Benedikt hat es nur auf den lateinischen Westen übertragen und mit neuem Geist erfüllt.

»Abbas«, sagt Cassiodorus, »ich genieße den Frieden und träume davon, aus dieser bösen, von Kampf erfüllten Welt in den Frieden Gottes zu flüchten. Wenn man es recht bedenkt, hast du, Abbas Benedikt, mehr für die Menschheit getan, als ich es jemals in meinen Kanzlerjahren vermochte.«

 

Eintritt in das Kloster

»Wenn du den Frieden suchst, Magister Gloriosus«, erwidert Benedikt, »so komme doch ganz zu uns und werde unser Bruder. Hilf mit, der Welt nicht nur die verlorene Ordnung wiederzuge­ben, sondern eine neue, bessere im Geist Christi aufzurichten. Männer wie dich suchen wir.«

Cassiodorus blickt nachdenklich in den blauen Dunst der Spiel­zeuglandschaft dort unten. »Ich denke ständig darüber nach, Abbas. Es ist großartig und verdienstvoll, wie du und deine Gefährten inmitten einer aufgelösten Zeit in stiller Arbeit versuchen, für die Zukunft zu erhalten, was die Kultur Roms und Griechenlands einst hervorgebracht ha­ben: Ihr pflegt die halbverlorenen Künste, die Herstellung von Glas, das Schmieden von Gold und Kupfer, den Erzguss, die Erzeugung guter Werkzeuge und Geräte, ihr lehrt die herabgekom­menen Bauern im Tal fortschrittlichen Landbau, das Veredeln von Obst, das Züchten von Vieh; ihr unterrichtet die verwahrlosten Kinder im Lesen und Schreiben. Wie notwendig ist das alles ge­worden. Weißt du, Abbas, als ich noch erster Minister des Königs war, suchte ich für den Aufbau der Staatskanzlei Schreiber, Über­setzer und gebildete Räte. In ganz Italien fand ich nur dreihundert geeignete Leute! Und das geschah fünfhundert Jahre nach Kaiser Augustus, unter dem jeder Römer lesen und schreiben konnte und das Land voll hochgebildeter Leute war. Ja, ihr Mönche tut wirk­lich viel für die Zukunft der Menschheit. Aber ihr tut nicht ge­nug.«

Überrascht blickt Benedikt seinen hohen Gast an. »Wir sind einfache Diener Gottes.«

 

Schreiben und studieren

»Ihr solltet auch Schreiber und Gelehrte ausbilden. Denn dort unten brennen die Söldner ihre Lagerfeuer mit kostbaren Hand­schriften des Vergil, des Homer und Horaz, sie trampeln auf den Bibliotheken der Kirchenväter herum und schüren ihre Herde mit einzigartigen Büchern. Sollen denn aller Geist und alle Weisheit der Vorzeit verloren gehen? Deshalb müsstet ihr Schreibstuben einrichten, Bücher vervielfältigen, retten, was noch zu retten ist.«

»Unsere Aufgabe ist es, Menschenseelen zu retten, Magister.« Cassiodorus wirft die Arme hoch, als wolle er Benedikt be­schwören. »Jeder feingemalte Buchstabe ist eine gerettet Seele!« ruft er. »Jedes abgeschriebene Buch eine gewonnene Schlacht der Zu­kunft!« Und dann setzt er sinnend hinzu: »Gern würde ich diese Welt verlassen und mich euch anschließen, Abbas. Ich besitze in Südita­lien bei Vivarium ein großes Landgut, das ich in ein Kloster um­wandeln möchte. Aber meine Mönche sollten Bücherschreiber sein.«

»Es widerspricht nicht unserer Regel«, stellt Benedikt  fest. »Wenn deine Mönche die Regula einhalten, sollen sie ruhig Bü­cher malen.« Cassiodorus hat den Wunsch geäußert, am Tageslauf der Mön­che teilzunehmen. So wird er um die zweite Stunde nach Mitter­nacht geweckt. Die Mönche pilgern zur Tempel-Kirche auf dem Berggipfel, den neuen Tag mit den »Vigilien« zu beginnen.

Cassiodorus geht im Zug der Mönche mit. Durch das geöffnete Portal fällt das Licht der Altarkerzen nach draußen. Langsam füllt sich das Gotteshaus. Dann hebt der Chor der Mönche mit dem ge­tragenen Gesang der Psalmen an. Später beginnen Lesungen der Evangelien. Der Vorbeter spricht, und der Mönchschor antwortet -genau wie im alten griechischen Theater.

Nach diesem nächtlichen Gottesdienst begeben sich die Klo­sterbewohner wieder zur Ruhe, bis um die fünfte Morgenstunde die Dekane erneut zum Gebet rufen. Abermals treten die dunklen Gestalten vor die Türen ihrer Schlafzellen und wandern paarweise zum Oratorium St. Johannis auf dem Scheitel des Bergs. Als der Sonnenball über den Horizont steigt und Lichtblitze ins Dämmer­licht der weichenden Nacht zucken, singt der Chor der Brüder:

»Nacht, Finsternis und Wolkenspiel
Macht irr die Welt und unruhvoll -
Aus göttlichen Räumen erscheint das Licht,
Christus: Er kommt! Hebt euch hinweg ...«

Nach dieser Morgenfeier gehen die Mönche an ihre Arbeit, fei­ern um sieben Uhr die »Prim« und folgen ihrer Tageseinteilung nach dem Ablauf der Sonne. Die Hämmer dröhnen auf den Baugerüsten, die Hirten, Landwirte und Gärtner arbeiten auf den Wei­den und Feldern des Klosters.

Wenn die Sonne am höchsten steht, versenken sich die Mönche in das Leiden und Sterben des Herrn, beten die »Sext« und wan­dern dann zum Refektorium, wo sie gemeinsam die Mahlzeit einnehmen, während der Lektor aus der Schrift liest. Um die »Non« -gegen halb vier Uhr nachmittags - begehen die Brüder das Nahen des Abends:

»Dich wollen wir des Morgens preisen Und anbeten, wenn der Abend kommt; Dich rühmt unser armes Lied Und tönet fort in Ewigkeit...«

Jetzt versammelt Benedikt die Klostergemeinde im Oratorium und liest Texte aus heiligen Büchern. Gemeinsam sprechen die Mönche das Vaterunser. Während die Sonne endlich hinter den Höhen und Wäldern verschwindet, singen die Mönche die »Kom­plet«

 

Tochterklöster

Nach einiger Vorbereitungszeit wird Cassiodorus Senator in den Orden aufgenommen. Er tritt ins Kloster ein. »Kloster« kommt von dem lateinischen Wort »claustrum«, »das Abgeschlos­sene«, und abgeschlossen von der lauten Welt verläuft künftig das Leben des Mönchs. Aber Cassiodorus Senator ist kein gewöhnlicher Mönch, wenn­gleich er keine höheren Rechte beansprucht als jeder andere Bru­der.

Bald nimmt er Abschied von der Mönchsgemeinschaft auf dem Monte Cassino, um in seine Heimat zu gehen. Immer wieder ge­schieht es, dass reiche Leute ihre Güter dem frommen Orden Benedikts schenken und dass »Benediktiner« ausziehen, um in fernen Provinzen »Tochterklöster« zu gründen. Das hat auch Cassiodorus vor.

Auf dem Gut Vivarium gründet er ein Benediktinerkloster. Die Mönchsgemeinschaft erwählt ihn zu ihrem »Abbas« oder Abt. Auch hier gilt die »heilige Regula« Benedikts. Wie überall im Or­den wird anklingend an den alten römischen Legionärseid diese Regel bei der Neuaufnahme von Gottessoldaten verlesen und der »Fahneneid« gesprochen:

»Siehe, das ist das Gesetz, unter dem du diesen Kriegsdienst des Friedens leisten willst. Kannst du es halten, so tritt ein, kannst du es aber nicht, so gehe frei von hinnen!«

Auch in Vivarium wird das Kloster Mittelpunkt der Landschaft, Lehrstätte und Mustergut. Die Mönche leben nach Benedikts For­mel: »Bete und arbeite.« Unter dem Einfluss des Cassiodorus sind sie freilich davon überzeugt, dass die schönste und für die Zukunft segensreichste Arbeit das Schreiben von Chroniken und gelehrten Büchern und die kunstvolle Vervielfältigung alter Schriften ist.

So bewahren - während Krieg und Zerstörung die Länder ver­wüsten und die Mächtigen der Erde durch Blut und Tränen waten - die Benediktiner das Wissen und die Weisheit der alten Welt für eine kommende, neue Zeit. Sie flüchten aus dieser Welt, um eine bessere für morgen zu bauen.

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