Ein Paradies wird erschaffen

Vor fünftausend Jahren floss der Euphrat weiter im Osten als heute. Auch der Tigris verlegte im Laufe der Zeit sein Flussbett. Von Anfang an waren diese beiden Flüsse unberechenbar. Ihr alter Weg wird durch die Hügel bezeichnet, in denen die Ausgrä­ber die Städte der Sumerer und Babylonier fanden. Als diese Städte noch bewohnt waren, reichte das Meer einige hundert Kilometer tiefer ins Land, und Euphrat und Tigris mündeten getrennt.

Vor siebentausend Jahren gab es im Zweistromland noch keine Städte. Die Flüsse verwandelten die Niederung in jedem Früh­jahr in Seen. Hatte sich das Wasser verlaufen, blieben unabseh­bare Sümpfe zurück. Das Land war wüst und leer. In den Som­mern trockneten die Sümpfe aus. Unwetter brauten sich über der Ebene zusammen, Blitze tauchten sie in giftiges Grün. Dieses Land bot keine sichere Wohnstatt.

Lange wagten sich die Menschen nicht in das Schwemmland. Sie durchstreiften die höher gelegenen Täler und die Steppen. Dort fanden sie als Jäger, was sie zum Leben brauchten. Der Pfeil, mit dem sie das Beutetier erlegten, sicherte ihnen die not­wendige Nahrung. Noch Jahrtausende später schrieben die Sumerer »Leben« und »Pfeil« mit dem gleichen Zeichen. Sie verwendeten für beides das gleiche Wort, es hieß ti.

 

Zucht und Ackerbau

Aber die Steppe trocknete aus. Das Wild wanderte ab. Die Jäger fingen an Tiere zu züchten und wurden zu Hirten. Sie sammelten Früchte und legten Felder an. Begehrlich betrach­teten sie das Schwemmland, auf dem das Schilf mannshoch stand. Und sie versuchten, ihre Äcker am Rande des Überschwemmungs­gebietes anzulegen. Dort trug der Boden vielfache Frucht. Doch die Ströme waren tückisch. Im einen Jahr brachten sie zu wenig, im andern zu viel Wasser; einmal waren die Felder zu trocken, ein­mal zu nass. Die Bauern begannen Gräben zu ziehen und Wälle aufzuschütten. Nun hing es von ihnen ab, wie viel Wasser auf die Felder kam.

Als sich zeigte, dass den Flüssen mit Gräben und Dämmen beizukommen war, drangen die Menschen tiefer in die Schilfrohrdickichte ein und legten immer mehr Sümpfe trocken. Durch Rinnsale und Bäche und Flüsse, die sie selber schufen, taten sie der Gewalt der Ströme Abbruch und lenkten den Lauf ihres Wassers. In den Kanälen wurde Wasser und fruchtbarer Schlamm auch dorthin gebracht, wo eine erbar­mungslose Sonne den Boden verbrannt hatte. Die Menschen zähmten die Flüsse, und nun gehörte ihnen das Land. Die Ebene wurde ein großer Acker, der Jahr für Jahr reiche Ernten gab.

Die Bevölkerung nahm zu, die Dörfer wurden rasch größer. Erst hatten sich die Menschen mit Hütten aus Schilf begnügt. Nun nahmen sie Lehm, machten Klumpen aus ihm und bauten sich daraus Wohnungen. Später lernten sie Ziegel formen und in der Sonne trocknen. Immer widerstandsfähiger wurden ihre Häuser, auch Unwetter konnten ihnen nichts mehr anhaben. Auch ihre Geräte, Waffen und Gefäße machten sie immer besser.

 

Euphrat - der Kupferfluss

Sie handel­ten Kupfer ein gegen Korn - der alte Name des Euphrat verrät es. Die frühen Siedler nannten ihn Urutu: Kupferfluss. Das Me­tall kam aus den Bergen im Norden. Mit Waffen und Geräten aus Metall war es leichter, Gefahren abzuwehren und die täglichen Aufgaben zu meistern. Die Siedler lernten überdauern. Dabei wussten sie, dass der Tod nicht das Ende des Lebens bedeutete. War einer aus der Familie gestorben, so behielt er seinen Platz im Haus. Er wurde im Boden, auf dem das Haus erbaut war, bestattet. Und da der Tote alles zur Hand hatte, was ein Lebender braucht, wurden ihm weder Waffen noch Geräte mitgegeben. Die Mahlzeiten wurden zwischen Lebenden und Toten geteilt.

 

Sinn für Ordnung

Statt einfacher roter, grauer und schwarzer Gefäße entstanden allmählich immer schönere Schalen und Töpfe mit Malereien. Vögel mit Fischen in den Schnäbeln, Menschen mit wehenden Haaren, Steinböcke mit gewaltigen Hörnern wurden zu Mustern vereinigt, die große Kraft und ausgeprägten Sinn für Ordnung verraten.

Diese Menschen mussten auf Ordnung bedacht sein, sonst waren sie verloren. Die Ströme blieben bedrohlich. In manchem Frühjahr schwollen sie so unheimlich an, dass die Fluten über die Kanäle traten und Dämme einrissen. Dann wurden die Felder verheert. Da taten sich die Bewohner mehrerer Dörfer zusammen, um gemeinsam größere Kanäle zu bauen. Einen aus ihrer Mitte wählten sie zum Fürsten und nannten ihn Lugal: Großer Mann. Er war auch oberster Priester im Tempel, der für den Schutz­gott gebaut wurde. Um die Tempel entstanden die ersten Städte.

 

Tempel und Städte

Ausgrabungen im Teil Halaf und an anderen Orten brachten den Beweis, dass es bereits um 4000 v. Chr. Tempel mit Nischen und ein System von Kanälen im Zweistromland gab. Zu den ältesten Siedlungen gehören El Obed, Hassuna, Samarra und Jarmo. Als älteste Stadt gilt Eridu. Irakische Archäologen, die Eridu ausgruben, fanden vierzehn übereinander erbaute Tempel aus »vorsintflutlicher« Zeit. In Warka entdeckten deutsche Aus­gräber eine zwölf Meter mächtige Siedlungsschicht aus dem drit­ten Jahrtausend. Im Zweistromland gibt es zahlreiche »Hügel der sieben Städte«; und in manchem Teil stecken die Ruinen von mehr als nur sieben Städten. Wer im Flugzeug den Irak über­quert, sieht deutlich die Plätze, an denen alte Städte standen.

Die Mitte der Städte waren die Tempel: großartige Anlagen mit mehreren Höfen. Die Tempel erhoben sich auf Terrassen aus groben Lehmklumpen. Die Mauern wurden aus Lehmziegeln er­baut, die Wände mit einer Lehmschicht verputzt. Der Lehm wurde von den Flüssen geliefert, und auf den Flüssen wurden auch die kostbaren Steinplatten herbeigeschafft, mit denen zuweilen Fun­damente oder Mauern verkleidet wurden. Häufig waren in den Lehmverputz fingerlange Tonstifte mit verschiedenfarbigen Köp­fen gedrückt. Die schwarzen, roten und weißen Tonnägel ergaben kunstvolle Muster, die an geflochtene Matten erinnern. Auch Lehmsäulen erhielten durch Mosaiken aus solchen Tonstiften ein prächtiges Gewand, wie es sich für das Haus eines Gottes gehörte.

 

Jede Stadt hatte ihren Gott

Er sorgte für das Wohlergehen der Bewohner. In seinem Dienst standen der Bauer, der das Feld bestellte, der Kanalarbeiter, der den Schlamm wegtrug, der Hirt, der Handwerker, alle bis hinauf zum Lugal.

Er war zugleich oberster Diener und Stellvertreter des Gottes. Die Fürstin war oberste Priesterin der Gottesgemahlin. Die Fürstenkinder waren die besonderen Diener der Kinder des Gottes. Daneben gab es viele heilige Ämter. Ein Torhüter hatte den Zugang zum Allerheiligsten zu bewachen. Einer sorgte für die rechte Zubereitung der Speisen, einer beaufsichtigte die Tempelbrauereien. Es gab Waffenkämmerer, Boten, Leibdiener, Wa­genlenker, Stallmeister und Speicheraufseher des Gottes, sogar einen besonderen Ziegenhirten, der die Familie des Gottes mit Milch und Käse versorgte. Tempelmusikanten erfreuten das Ohr des Gottes, und ein Trommler schlug die Trommel, wenn der Gott aufgebracht war; durch die Trommelschläge wurde das erregte Gottesherz beruhigt.

 

Das ganze Land war Gottesland

Flurverwalter, Wildhüter und Fischereiaufseher, die Wächter über die Stadtmauern er­statteten wie alle Angestellten regelmäßig im Tempel Bericht. Der Lugal nahm hier Meldungen entgegen und gab Befehle, da­mit Felder und Fischteiche, Kanäle und Mauern und Werkstätten in Ordnung gehalten wurden. Er teilte den Lohn für jede Dienst­leistung zu und überwachte die Buchführung. Er hielt Gericht und schützte die Schwachen - alles in göttlichem Auftrag. So sehr war alles vom Willen des Gottes durchdrungen, dass nicht nur die Menschen, sondern auch Felder und Flüsse, Winde und Sterne als Bürger der Gottesstadt galten. Auch in ihnen war Le­ben: der Hauch des weisen Gottes Enki.

Alle Dinge konnten an­gesprochen werden: »Feuerstein, der du hart und dunkel bist, sei willig, Funken zu versprühen und Feuer zu geben! Salz, am rei­nen Ort erschaffen, gib der Speise Würze! Lehm, werde zum Ziegel!« Und die Dinge gehorchten.

Um den Tempel breiteten sich die Wohnungen des Stadt­königs und der Priester, die Werkstätten und Speicher und Schu­len aus, Wohnhäuser und Straßen und Plätze.

Der Rang einer Stadt hing vom Rang ab, den der Stadtgott in der Versammlung der Götter einnahm. Eridu war die heiligste Stadt, denn sie war der Sitz des Gottes Enki, der die Menschen erschaffen und sie mit seinen Erfindungen beschenkt hatte, mit Spitzhacke und Pflug, Messstab und Meißel, mit Künsten und Wissenschaften. Hohes Ansehen genoss auch Uruk. In Uruk hatte Anu, der Himmelsgott, sein Heiligtum. Und Inanna, seine Toch­ter, hatte nach Uruk die Gottesgesetze gebracht und sich hier mit Dumuzi, dem göttlichen Hirten, vermählt und ihn zum König erhoben. Das Königtum über ganz Sumer war mit der Stadt Nippur verbunden. Hier herrschte Enlil, »König aller Lande«, der den Tag anbrechen ließ, der die Stadtpläne entwarf und für Wachstum, Wohlstand und Überfluss in Sumer sorgte.

 

Unter den Schrifttafeln, die von amerikanischen Ausgräbern in Nippur gefunden wurden, waren viele mit Hymnen an den Herrschergott Enlil bedeckt. In einem dieser Gedichte heißt es:

»Enlil, dessen Macht weithin reicht, ist der Herr, der in alle Ewigkeit die Geschicke bestimmt. Seine Augen überschauen die Lande und erforschen das Herz Sumers. Seine Worte sind un­abänderlich. Er duldet keine Hochmütigen und keine Unter­drücker in seiner Stadt Nippur. Er hält das große Netz, und kein Gottloser und Missetäter entrinnt den Maschen. Er hat sich auf dem Thron seines Heiligtums niedergelassen. Seine Gesetze sind wie die Gesetze des Abgrunds: Keiner kann sie erschauen. Ohne Enlil werden keine Städte erbaut, keine Dörfer gegründet, keine Schafhürden errichtet. Ohne Enlil wird kein König auf einen Thron gesetzt, kein Priester geboren. Die Arbeiter würden keine Aufseher haben, die sie anleiten. Die Flüsse würden ihre Flut­zeit nicht wissen. Die Fische des Meeres würden nicht laichen, die Vögel des Himmels keine Nester bauen. Ohne Enlil würden die Wolken keinen Regen spenden, und Pflanzen und Kräuter, der Schmuck der Ebene, würden nicht wachsen. Die Felder würden keine Ernten bringen, die Wiesen kein Gras und die Fruchtbäume keine Früchte. Enlil, der hohe Hirt, ist immer unterwegs. Er ist aller Atmenden König. Von ihm geht die Herrscherwürde aus. Er ist es, der dem König die Krone auf das Haupt setzt.«

Ihr Kommentar