Züchtung von Getreide

Wenn wir die Entwicklung zunächst von außen betrachten, so ist sie eigentlich sehr erstaunlich. Die Sesshaftigkeit ist nämlich gegenüber dem Nomadenleben besonders am Anfang viel anstrengender. Erst jetzt beginnt für den Menschen das Zeitalter der eigentlichen Arbeit. Das Leben als sesshafter Bauer war sehr hart. Nur mit größter Mühe konnte er der Erde ihre Früchte abtrotzen. Ein Bauer hatte erheblich mehr Zeit in seine Lebensgrundlagen zu investieren als ein Jäger. Zunächst einmal galt es, ein Haus zu bauen und es fortwährend instandzuhalten. Dies war aufwendig und zeitintensiv. Gleichzeitig musste der Wald für Siedlungs- und Ackerflächen gerodet werden. Auch hatte man von nun an die Äcker und Gärten gegen wilde Tiere bzw. andere Menschen zu schützen. Ebenfalls muss man berücksichtigen, dass die angebauten Früchte am Anfang der Sesshaftigkeit über Generationen kaum Ertrag abwarfen. Man hat anhand von Skelettfunden festgestellt, dass die ersten Bauern schlechter genährt waren als Jäger und Sammler. Ihre Nahrung war einseitiger und an Nährstoffen ärmer, weshalb zunächst sogar ihre Körpergröße abnahm.

Warum wurde der Mensch also sesshaft? Die bekannteste Theorie stellt sich wie folgt dar: Vor 15.000 Jahren befanden wir uns am Ende der letzten Eiszeit. In unseren Breitengraden war es wesentlich kälter als heute. Als Hauptnahrungsquelle diente das Großwild, wie z.B. das Mamut. Diese Tiere konnten sich aber den steigenden Temperaturen nicht anpassen und starben aus. Nur kleinere Wildtiere wie Garzellen, Steinböcke und Wildschafe überlebten. Sie waren jedoch viel schneller als die ehemaligen Fleischlieferanten, weshalb sie auch nicht so leicht zu jagen waren. Das Nahrungsangebot - so heißt es - ging zurück.

Diese Nahrungsverknappung sei der ausschlaggebende Grund für die Sesshaftwerdung. Weiter in der Theorie: Schon früher hatten die Menschen herausgefunden, dass die Körner bestimmter Gräser gut schmeckten und den Hunger stillten. Zunächst wurden sie nur gesammelt. Dann aber betrachtete der Mensch ihren Wachstumsprozess. Die Samen keimten, wuchsen zu Pflanzen heran, blühten und bildeten erneut Samen. Man überlegte, wie man diesen Prozess künstlich befördern könnte. Die Menschen bohrten mit einem Stock kleine Löcher in die Erde und gaben Samen hinein. Die Samen waren dadurch geschützt und hatten bessere Wuchsbedingungen. Nach der Ernte nahmen die Menschen die Ähren mit den größten Körnern und legte sie für die Aussaat im nächsten Jahr zurück. Durch das Prinzip der künstlichen Zuchtwahl wurden die nützlichen Merkmale der Wildpflanzen gefördert. So sollen sich nach und nach unsere heutigen Kulturpflanzen entwickelt haben. Entsprechend wurde im Nahen Osten Getreide angebaut, in China Reis, Kürbis in Ecuador und Mais in Amerika.

Solche Theorien verbreiten ihren überzeugenden Charme so erfolgreich, weil sie von einer naiven Logik begleitet sind. Und natürlich muss man sich fragen, was es denn Einfacheres gibt: Die größten Körner der Ernte aussortieren, aufbewahren und im nächsten Jahr wieder aussäen.

Warum diese Theorie nicht haltbar ist:

  • Erstens: Charles Darwin, der Entdecker von Mutation und Selektion und der Schöpfer des Begriffs der natürlichen Zuchtwahl, wurde im Jahre 1809 geboren. Das war im 19. Jahrhundert! Zwar lagen seine Ideen zur Evolution in der Luft, aber trotzdem waren sie relativ neu. Noch die alten Ägypter hatten allerdings ganz andere Ansichten über die „Evolution“. Für sie stammte das Leben aus dem Nilschlamm. So erklärte man sich z.B. die starke Zunahme von Fröschen, die nach jeder Überschwemmung auftrat. Soll also nach der eben ausgeführten Theorie, der Steinzeitmensch das Prinzip der natürlichen Selektion schon vor Darwin gekannt und daraus zudem noch die Praktiken einer künstlichen Zuchtwahl abgeleitet haben? Das wäre der damaligen Menschheit kaum möglich gewesen. Wie hätte außerdem der Steinzeitmensch als Jäger und Sammler die Vererbung positiver Merkmale studieren sollen? Sein Leben war für solche „wissenschaftlichen Studien“ viel zu unstet.
  • Der zweite Einwand besteht darin, dass der Mensch wohl kaum Gräser gezüchtet hat, um sie erst Jahrhunderte später zum Backen verwenden zu können. Der Mensch hätte also einer reinen Idee folgen müssen, deren Verwirklichung erst viele Generationen später sichtbar geworden wäre. Die Dauer eines Menschenlebens hätte nicht ausgereicht, um eine signifikante Vergrößerung der Grassamen wahrnehmen zu können.
  • Der dritte Einwand besteht darin, dass ganz einfach der „Anfangsvorteil“ bei der Zucht des Wildgetreides fehlte. Der Anbau von Wildgetreide war unendlich mühsam und entbehrungsreich. In manchen Freilichtmuseen sieht man Getreidearten, die man zurückgezüchtet hat. Ihre Ähren sind so dünn wie die der Gräser am Feldrand. Man kann sie im Vorbeigehen mit der Hand abstreifen. Um sich hiervon ernähren zu können, hat man Unmengen Wildgetreide anbauen müssen. 
  • Und viertens soll ja das Nahrungsangebot nach dem Ende der Eiszeit knapper geworden sein. Aber dann muss man sich doch fragen, warum die Entwicklung zur Sesshaftigkeit gerade im so genannten „fruchtbaren Halbmond“ begann. Diese halbmondförmige Region im östlichen Mittelmeerraum erstreckt sich vom heutigen Jordanien über Syrien, die Türkei und den Irak bis zum Iran. Diese Gegend war nach dem Ende der Eiszeiten klimatisch sehr angenehm. Ein trockenwarmes, mit den heutigen Verhältnissen vergleichbares Klima führte zur Ausbildung parkartiger Eichen-Pistazien-Wälder, zwischen denen Gazellen, Steinbock und Wildschaf grasten. Auch nach der Eiszeit hätten hier Jäger und Sammler einen reich gedeckten Tisch vorgefunden. Wie konnten jedoch andererseits Menschen in viel kargeren Gebieten der Erde weiterhin als Jäger und Sammler leben?

So einfach, wie man sich die Sesshaftwerdung in dieser Theorie vorstellt, war sie nicht. Wird ein Mensch sesshaft, so ändert sich im Grunde für ihn alles und das sofort. Als Jäger und Sammler konnte er aber noch nicht erproben, was er als Bauer bereits wissen musste.

Trotzdem ist der Mensch sesshaft geworden und hat Tiere domestiziert und Kornarten gezüchtet. Wie lässt sich das also erklären? Es wird vielleicht verständlich, wenn man davon ausgeht, dass dieser Schritt weitläufig vorbereitet worden ist. Über Jahrhunderte hinweg muss es kleine Menschengemeinschaften gegeben haben, die sich ausschließlich der Zucht von Tieren und Pflanzen widmeten. Diese Menschen werden über ein Bewusstsein verfügt haben, das weit über ihre Zeit hinausragte. Es waren Eingeweihte, die von einem generationsübergreifenden Weitblick inspiriert und beseelt waren. Sie gaben ihr Wissen und ihre Arbeit über den Zeitraum von vielen Menschenleben in priestergleichen Gemeinschaften weiter, um das Ziel der Züchtung von Tier und Pflanze zu verwirklichen. Für diese heilige Aufgabe werden sie wohl von Jägern und Sammlern fremdversorgt worden sein. Ernähren hätten sie sich von den ersten Zuchtergebnissen noch nicht können.

Als man dem Ziel der Züchtungen näherkam, traten diese Eingeweihten als Lehrer der Jäger und Sammler auf. Sie gaben ihre Zuchtergebnisse und ihr Wissen weiter. Dadurch konnte schließlich die Sesshaftigkeit der Menschheit möglich werden.

Insbesondere bei der Zucht des Getreides aus Süßgräsern wird deutlich, dass die menschliche Kultur nicht ausschließlich nach dem Prinzip „learning by doing“ voranschritten sein kann: Man macht zufällig eine Entdeckung und setze sie um, weil sie unmittelbar ihren praktischen Nutzen zeigt. Für ein solches Mega-Projekt wie die Züchtung von Getreide bedurfte es eines Wissens und einer jahrhunderteweiten Vorausschau, die dem normalen Steinzeitmenschen nicht möglich waren.

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