Geschichte ganz praktisch

Ein Beitrag von Susanna Rauhut (Freie Waldorfschule Heilbronn)

An unserer Schule beginnt der Geschichtsunterricht in der fünften Klasse mit den alten Kulturen als Einstieg. Für uns ergab sich die Möglichkeit, das durch Erzählungen Nacher­lebte, im eigenen Schaffen mit Ton und anderen Materialien lebendig werden zu lassen. Im Plastizierraum schufen die Kinder die indische Landschaft nach. Mit Kraft und Energie wurde aus weichem Ton der Himalaya aufgetürmt. Ganges und Indus suchten sich ihren Weg aus den Bergen ins Tal. Die prägnante Landmasse Indiens wurde von Meer umge­ben ausgestaltet. Dieses großräumige Arbeiten kam einigen Kindern besonders entgegen. Andere nutzen den Gestal­tungsraum um sich in den Bau einfacher Behausungen oder die Erschaffung der indischen Tierwelt zu vertieften. Die indischen Bauern nutzten einfache Werkzeuge wie die Ha­cke. Auch dies wurde in Ton ausgeformt.
 


Im Gegensatz zu Indien, wo die Menschen ein reiches Angebot an Nahrung hatten, die sie nur zu ernten brauchten, war es im herberen Klima des Zweistromlandes schon schwerer, das Überleben zu sichern. Die Menschen bauten festere Häuser, erfanden, dem Rat ihrer Götter folgend, den Pflug, trieben Handel und lagerten ihre Ernte und ihren Besitz in stufenförmig angelegten Zikuraten. Nachdem der Lauf von Euphrat und Tigris Gestalt angenommen hatte, legte jedes Kind ein Feld im fruchtbaren Schlamm der Flüsse an und belebte es mit Menschen, Tieren und mit einem nach eigener Vorstellung nachempfundenen Zikurat. Diese Arbeit mit Ton war nicht für die Ewigkeit gedacht, sondern ständiger Veränderung unterworfen und die Schü­ler wussten aus vorherigen Erfahrungen, dass Ton immer wieder verwendbar ist.
 


Die Reise nach Ägypten führte uns aus dem Plastizierraum in den Klassenraum. Dort war es nicht möglich, mit sol­chen Tonmassen weiterzuarbeiten. Dadurch entstand eine neue Arbeitsweise. Zwei massive halbhohe Aufbewahrungsschränke wurden zusammengeschoben. So ergab sich eine lange Arbeitsfläche, auf der der Nil sein Bett finden konnte. Die Fläche wurde mit Aquarellpapier bespannt, der Verlauf des Flusses skizziert und jedes Kind bekam ein Grundstück am Ufer. Die Grundstücke wurden ausgelost. Dadurch war es einerseits möglich, dafür zu sorgen, dass nicht zu viel Ge­dränge entstand (wir arbeiteten jeweils als halbe Klasse dar­an), zum anderen lernten sich so unterschiedliche Nachbarn kennen. Jedes Kind bemalte sein Feld mit passenden Pflan­zen. Die Bauern am Nildelta waren z.B. für den Anbau des Papyrus zuständig. Auch für die Farbgebung des Nils war jedes Kind auf seinem Platz mitverantwortlich und es wur­de großer Wert darauf gelegt, schöne Übergänge zwischen verschiedenen Blautönen zu erzielen. Am Ufer des Nils wa­ren einige Plätze frei geblieben, die geographisch in etwa den Standorten der Pyramiden entsprachen. Dort wurden dann diese rätselhaften Wunderwerke in Kleinformat aufgebaut. Auch ein kleines Wohnhaus aus Ton durfte auf dem eigenen Grundstück nicht fehlen. Besonders das Ägypten-Projekt war von intensiver Zusammenarbeit geprägt. In lebendiger Atmosphäre trug jeder sein Bestes bei. Schon daran, dass kein einziges Glas mit Farbe umfiel, war zu merken, wie kon­zentriert alle bei der Sache waren.
 


Das antike Griechenland mit einer ganz neuen Art des Denkens, dem mit Kraft erwachenden Ich-Bewusstsein der Men­schen, großen Neuerungen in der Kunst, der Architektur und der Geometrie, einer Götterwelt, die sich in großen Tei­len nur durch ihr Wissen um die Zukunft von den Menschen unterschied, fand in einer ganz anderen Arbeitsweise ihren Ausdruck. Die Erdverbundenheit wich einer stark auf der Geometrie basierenden Denkweise. Wir errichteten einen Tempel nach den Prinzipien des Modellbaus. Jetzt war die Frage: Wie kann aus einer ebenen Pappe etwas Dreidimensi­onales entstehen? Während für den Sockel des Tempels noch jedes Kind eine Zeichnung bekam, wurden Säulen und Dach selbst abgemessen. Die Kinder lebten sich dabei schnell in diese Denkweise hinein. Wo brauche ich Klebeflächen? Wo falte ich, um die Säulen aufzustellen? Diese Fragen wurden zunehmend selbständig geklärt.

Aus allen Geschichtsepochen heraus fanden sich Anknüp­fungspunkte für die übrigen Themen der fünften Klasse. Sei es Aristoteles, auf den das Erkennen von Nomen und Verb in der Sprache zurückgeht, oder der Satz des Thales in der Geometrie, der, noch unbenannt, in der fünften Klasse ge­zeichnet wird.

So gab es im fünften Schuljahr für die Klasse auch oft Aha-Erlebnisse, wenn derartige Zusammenhänge erlebbar wur­den.
 

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