Die Erfindung des Rades

Marcus Kraneburg

Nicht viele Ereignisse hatten einen so nachhaltigen Einfluss auf die weitere Geschichte der Menschheit wie die Erfindung des Rades. Das Rad ist etwas Einzigartiges. Bemerkenswert ist, dass es in verschiedenen Kulturen ungefähr gleichzeitig erschien, um 3500 vor Christus herum. Auf Bildtafeln aus der mesopotamischen Stadt Uruk waren schon rollende Fahrzeuge abgebildet. Anders in Amerika: Dort war das Rad zwar bekannt, allerdings nicht zum Transportieren von Lasten. Der Grund dafür ist einfach: Auf dem amerikanischen Kontinent waren keine Zugtiere beheimatet. Wagen sind nur sinnvoll, wenn sie auch ein Tier ziehen kann.

Das Außergewöhnliche bei der Erfindung des Rades ist, dass sich der Mensch seine Funktionsweise von der Natur nirgendwo abschauen konnte. In der Natur findet man nichts Rundes, was sich an einer Achse dreht. So einfach, wie uns heute das Rad erscheint, so genial es ist. Aber auch dieses Wissen musste erst vom Himmel fallen.

Wenn die Menschen in den Himmel schauten, so sahen sie dort die Sonne als ein großes Rund. Jeden Tag konnten sie beobachten, wie sie morgens aufging und abends unterging. In allen frühen Kulturen betrachtet man die Sonne als eine Gottheit, der man ganz unterschiedliche Namen gab: Die Ägypter nannten sie Re, die Perser Mithra, die Babylonier Šamaš (gesprochen: Schamasch), die Germanen Sunna, die Griechen Helios usw. Die Völker empfanden das Licht der Sonne nicht einfach als ein Licht, sondern sie fühlten sich von der Gottheit berührt, wenn ihr Strahlen auf sie fiel. Wie die Sonne, so galt auch der Kreis als heilig. Der Kreis ist eine vollkommene Form.

Dem religiösen Bereich entnommen, wurde diese Form nun einer praktischen Verwendung zugeführt. Und sie war revolutionär: Man montierte runde Scheiben mittels Achsen unter eine Ladefläche und ließ all das von Tieren ziehen.

Zuvor schon bekannt war die Methode, Steinblöcke kleine Strecken über Rundhölzer zu schieben, indem man die überrollten Hölzer vorne wieder anlegte. Auch das war eine geniale Idee, die auf keine Erfahrung in der Natur zurückzuführen war. Zwar sah man vielleicht, wie ein Baumstamm einen Hang herunterrollte, also eine rotierende Bewegung vollzog, aber der Gedanke durch das rotierende Prinzip den Schubwiderstand bei schweren Lasten zu verringern, ist zutiefst beeindruckend. Darüber hinaus aber nun einen Wagen mit zwei Achsen und vier beweglichen Rädern zu konstruieren, ist ein noch viel größerer Schritt. Man schuf praktisch mit der Ladefläche des Wagens einen künstlichen und etwas höher gelegenen Boden, der einerseits stabil war, aber sich zugleich bewegen konnte. Man vermochte damit, die Gegensätze von Bewegung und Stabilität in einem Gegenstand zu vereinen. Das war grandios! Das Rad legte den Grundstein für allen weiteren Kulturfortschritt.

Vor der Erfindung des Rades mussten die Menschen alle Dinge in Händen oder auf dem Rücken tragen oder Tiere damit beladen. Schwere Dinge konnte man auf diese Weise nicht über längere Strecken transportieren. Man kannte allerdings schon das Stangenschleifen. Dafür baute man eine Grundkonstruktion aus zwei langen Holzstangen und einem kürzeren Querholz und verband diese zu einem gleichschenkligen Dreieck. Das spitze vordere Ende der Vorrichtung wurde von Menschen oder Ochsen getragen. Die beiden breiten hinteren Enden schliffen über den Boden. Alle, was man transportieren wollte, band man auf diesen Rahmen. Der Nachteil bestand darin, dass Mensch oder Tier einen Teil vom Eigengewicht dieser Konstruktion zusätzlich zum Transportgut tragen musste.

Anders bei einem Wagen. Ein Wagen trägt die ganze Last, er muss nur noch gezogen werden. Bei einem vierrädrigen Wagen liegt der Schwerpunkt der Last zwischen den beiden Achsen. Als Räder verwendete man zuerst Baumstämme, die man in Scheiben sägte. Später wurden die Räder aus mehreren Holzteilen zusammengesetzt. Der große Nachteil: Wagen mit Rädern aus massivem Holz sind extrem schwer. Entsprechend schwierig waren sie zu ziehen und zu lenken. Schon bald versuchte man das Gewicht der schweren Holzräder durch Aushöhlungen zu vermindern. Die Sumerer erfanden um 2000 vor Christus das erste Speichenrad, das sie später sogar mit Metall beschlugen. Viel Gewicht konnte man sparen, wenn man die Anzahl der Räder reduzierte. So baute man zweirädrige Karren, deren Radachse sich mitten unter dem Lastenschwerpunkt befand. Diese Erfindung erleichterte nicht nur den Transport von Waren, sondern war auch für die Kriegsführung wichtig. Im Krieg war oft derjenige siegreich, der schneller und beweglicher war als der Feind. Der Streitwagen war erfunden und die Römer perfektionierten ihn.

Bei den Achsen entwickelten sich zwei Modelle: Zum Beispiel drehte sich im westlichen Mitteleuropa das Rad zusammen mit der Achse, während sich in Osteuropa das Rad um die Achse drehte.

Das Rad ist seit seiner Erfindung aus unserer Welt nicht mehr fortzudenken. Nachdem sein Prinzip einmal erkannt wurde, hat es viele Veränderungen, Ergänzungen und Weiterentwicklungen erfahren. Das waren jedoch alles nur kleine Schritte im Vergleich zur Geburt der Idee des ersten Rades.

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