Jean-François Champollion und die Entzifferung der Hieroglyphen
Der französische Sprachwissenschaftler Jean-François Champollion galt schon in der Kindheit als Sprachgenie. Doch berühmt wurde er durch die Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphenschrift. Hier wird seine Lebensgeschichte spannend nacherzählt.
Die Herausforderung der Hieroglyphen
Am Ende des 18. Jahrhunderts waren die Hieroglyphen, die mysteriösen Schriftzeichen des alten Ägyptens, ein Rätsel, das die klügsten Köpfe der Welt verwirrte. Über Jahrhunderte hinweg war das Wissen um diese Schrift verloren gegangen, und niemand konnte ihre Bedeutung entschlüsseln. Die Hieroglyphen waren mehr als nur dekorative Symbole – sie waren der Schlüssel zu einer der ältesten und faszinierendsten Zivilisationen der Menschheitsgeschichte. Doch um diesen Schlüssel zu finden, bedurfte es eines außergewöhnlichen Geistes.
Der Fund des Steins von Rosette
Napoleon brach 1798 zu seinem Ägypten-Feldzug auf. 167 Wissenschaftler aller Forschungsgebiete begleiteten ihn. Im Jahr 1799 stießen französische Soldaten bei Bauarbeiten auf einen großen, schwarzen Granitstein in der Nähe der Stadt Rosette. Dieser Stein, später bekannt als der Stein von Rosette, trug eine dreisprachige Inschrift.
In Frankreich erfuhr man davon, weil Napoleon in Kairo eine Druckerei einrichten ließ, die eine Zeitschrift herausbrachte, den „Courrier de l'Égypte“. In einer Ausgabe des „Courrier de l'Égypte“ las der neunjährige Jean-François Champollion von der Entdeckung des Steins. Eine Seite war poliert und wies drei verschiedene Inschriften auf. Die erste war in griechischer Schrift zur Regierungszeit eines gewissen Ptolemaios eingemeißelt, etwa 200 Jahre vor Christus. Der zweite Text war in Demotisch gehalten, und der dritte bestand aus Hieroglyphen. Dieser Stein war von großem Interesse für das Studium der Hieroglyphen und könnte vielleicht sogar den Schlüssel zu ihrer Entzifferung bieten.
Die Kindheit eines Genies
Jean-François Champollion wurde am 23. Dezember 1790 in der kleinen Stadt Figeac im Südwesten Frankreichs geboren. Er wurde als siebtes von acht Kindern geboren. Sein Vater, Jacques Champollion, war Buchhändler, was Jean-François Zugang zu einer Vielzahl von Büchern und Schriften verschaffte. Seine Mutter, Jeanne-Françoise Gualieu, starb, als er noch ein kleines Kind war. Jean-François Champollion wuchs in einfachen Verhältnissen auf.
Es war eine turbulente Zeit während der Französischen Revolution. Die politischen Umwälzungen und die sozialen Veränderungen prägten seine frühen Jahre. Trotz der Unruhe der Zeit war seine Familie darauf bedacht, ihm eine gute Bildung zu ermöglichen. Sein 13 Jahre älterer Bruder, Jacques-Joseph Champollion-Figeac, spielte eine entscheidende Rolle in seiner Erziehung und Ausbildung. Jacques-Joseph erkannte früh die außergewöhnliche Begabung seines jüngeren Bruders und förderte ihn nach Kräften.
Schon in jungen Jahren zeigte Jean-François ein außergewöhnliches Talent für Sprachen. Belegt ist sein brilliantes visuelles Gedächtnis. Worte sind für Champollion Bilder und Bilder Worte. Im Alter von fünf Jahren gelingt ihm die erste Entzifferung: Er bringt sich mit einem Gebetbuch selbst das Lesen bei. Mit neun Jahren begann er, Latein zu lernen, und zeigte schnell solche Fortschritte, dass seine Lehrer beeindruckt waren. Später lernte er Griechisch und Hebräisch. Seine Sprachbegabung war so ausgeprägt, dass er oft als Wunderkind bezeichnet wurde. Während seiner Jugend vertiefte sich Jean-François weiter in das Studium der alten Sprachen. Mit 16 Jahren beherrschte er bereits sieben Sprachen, darunter Koptisch, Arabisch und Syrisch. Seine Kenntnisse des Koptischen waren besonders wichtig, da diese Sprache ein direkter Nachfahre des Altägyptischen war und ihm viele Einblicke in die Struktur und Grammatik der alten Sprache gab. „Ich übersetze alles, was mir durch den Kopf geht, ins Koptische. Ich träume oft koptisch und führe Selbstgespräche in dieser Sprache. Ich möchte sie so beherrschen wie das Französische, denn darauf wird meine große Arbeit über die Hieroglyphen basieren."
Sein älterer Bruder schickte ihn zu den besten Lehrern, die verfügbar waren, und stellte ihm eine Vielzahl von Texten zur Verfügung, die sein Wissen erweiterten. Jean-François war ein wissbegieriger Schüler, der oft die Nächte damit verbrachte, alte Texte zu studieren und neue Sprachen zu lernen.
Der Weg zum akademischen Ruhm
Bereits im Alter von 19 Jahren machte Champollion seine ersten bedeutenden wissenschaftlichen Schritte. Er präsentierte eine Arbeit über die koptische Sprache, die in akademischen Kreisen große Anerkennung fand. Diese Leistung verschaffte ihm 1809 eine Professur für Geschichte in Grenoble. Trotz seines jungen Alters beeindruckte er seine Kollegen und Studenten mit seiner tiefen Kenntnis und Leidenschaft für die alten Sprachen. Während dieser Zeit begann er, sich intensiv mit den Hieroglyphen zu beschäftigen. Der Fund des Steins von Rosette im Jahr 1799, der eine dreisprachige Inschrift in Griechisch, Demotisch und Hieroglyphen trug, weckte in ihm den Ehrgeiz, das Geheimnis der Hieroglyphen zu lüften.
Der Weg zur Entschlüsselung
Das ägyptische Volk übernahm bei seiner Bekehrung zum Christentum von den Missionaren die griechische Buchstabenschrift. Damit kehrten die Ägypter sich für immer von der Religion, der Geschichte und den Institutionen ihrer Vorfahren ab. Die Inschriften der Bauwerke wurden dadurch für ihre Nachkommen unverständlich.
Der Däne Georg Zoëga stellte 1783 fest, dass die Leserichtung durch die Blickrichtung der Zeichen bestimmt wird: Schauen Vögel, Tiere und Menschen nach rechts, beginnt der Text rechts; blicken sie nach links, beginnt der Text links. Einige Hieroglyphen sind von einem Rahmen, einer sogenannten Kartusche, umgeben. Zoëga vermutete, dass die Kartuschen besondere Inhalte wie Eigennamen enthielten und dass einige Zeichen Lautwerte repräsentieren könnten. Diese Ideen sollten sich als entscheidend für die Entzifferung erweisen.
Champollion besorgte sich im Jahre 1808 eine Kopie der Inschriften des Steins von Rosette und machte sich mit Begeisterung an die Arbeit. Er widmete viele Jahre dem Rätsel dieses Steins. Trotz mehrerer Rückschläge aufgrund irriger Annahmen setzt er immer wieder seine Forschungsarbeit hartnäckig fort. „Ich habe bereits über 300 verschiedene Zeichen identifiziert – zu viele, um ein Alphabet darzustellen, aber auch zu wenige, um die Wörter einer Sprache darstellen zu können.“ Bis dahin gingen viele Forscher davon aus, dass es sich bei den Hieroglyphen um eine reine Bilderschrift handelte, dass also jedes Zeichen für das Wort stand, das es darstellte: die Gans für eine Gans, das Auge für ein Auge.
Die entscheidende Idee für die Entzifferung der Hieroglyphen hatte ursprünglich nicht Champollion, sondern der Brite Thomas Young. Im Jahr 1814 untersuchte er die Kartuschen, unter anderem auf dem Stein von Rosetta, und stellte eine Verbindung zwischen den Zeichen des griechischen Namens Ptolemaios und den Hieroglyphen in einer der Kartuschen her. Dieses System funktionierte auch bei Kartuschen, die den Namen der Königin Berenike enthielten. Dennoch war Young der Ansicht, dass es sich bei den Hieroglyphen um eine Bilderschrift handelte und nicht um die Äquivalente von Lauten.
Am 14. September 1822 hat Jean-François Champollion nach vielen Jahren vergeblicher Versuche eine Eingebung und findet endlich des Rätsels Lösung. Ein glücklicher Einfall war es, alle Zeichen beziehungsweise Wörter des hieroglyphischen und des griechischen Textes der Rosettana zu zählen. Champollion stellte 1.419 Hieroglyphen und 486 griechische Wörter fest. Bei diesem zahlenmäßigen Übergewicht der Hieroglyphen konnte nicht jede ein ganzes Wort bedeuten, vielmehr musste es in dieser Schrift auch lautliche Zeichen geben. Diese Erkenntnis führte ihn endlich von der früher herrschenden Meinung vom Symbolcharakter der Schriftzeichen weg. „Hieroglyphen sind keine Symbole, sondern bildhaft, symbolisch und phonetisch zugleich und zwar in ein und demselben Text, in ein und demselben Satz und ich wage auch das zu sagen: in ein und demselben Wort.“
Ägyptische Schriftzeichen drücken also mal ganze Gedanken und mal einzelne Laute aus. Sie sind gleichzeitig phonetisch, bildhaft und symbolisch. Einen Laut stellten die Ägypter in Form eines Bildes dar, das mit diesem Laut beginnt. Der Löwe bezeichnet im Koptischen den Laut "L". Das Zeichen steht auch für das Tier und den Begriff des Herrn. Die Hand bezeichnet im Koptischen den Laut "D". Sie steht auch für eine Hand und eine Maßeinheit. Der Mund bezeichnet im Koptischen den Laut "R". Er kann außerdem für eine Tür stehen. Ausgehend von den Zeichen, die er erkennt, entziffert Champollion einen Namen auf dem Stein von Rosetta. Dank einer griechischen Inschrift weiß Champollion nämlich, dass dieser Name auf dem Obelisken den Namen Kleopatra enthält. Durch Einsetzen der bereits bekannten Buchstaben kann er die restlichen Zeichen entschlüsseln. Als Champollion sich in einer glückhaften Stunde seines Lebens der ganzen Tragweite seiner Forscherarbeit bewusst wurde, da erfasste ihn eine solche überwältigende freudige Erregung, dass er zu seinem Bruder in die Bibliothek stürzte mit dem Ausruf: »Je tiens l` affaire!« Dann brach er zusammen und brauchte einige Tage, bis er wieder arbeitsfähig war.
Nach und nach erstellte Champollion eine Tabelle mit Entsprechungen zwischen diesen phonetischen Zeichen und dem griechischen Alphabet. In der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres präsentierte er sein Entschlüsselungssystem einem namhaften Publikum. Nach anfänglichen Auseinandersetzungen mit Thomas Young wurde ihm das Verdienst der Entschlüsselung zuerkannt. Seine Kenntnisse des Koptischen ermöglichten ihm nun sehr schnelle Fortschritte.
Die Hieroglyphen basierten also seit jeher auf dem Prinzip einer Kombination von Bildern und Lauten. Damit konnte er die Königsliste im Tempel von Abydos entschlüsseln. So erhielten alte, längst vergessene Pharaonen wie Amenophis wieder Einzug in die Geschichte. Champollion nutzte seine Erkenntnisse zur Katalogisierung und Beschreibung der Götter und ihrer symbolischen Darstellungen.
Er verfasste als erstes 1822 eine Arbeit, mit der er der Pariser Akademie die Entzifferung der Hieroglyphen mitteilte. Es war Jubel in ganz Frankreich, dass Champollion dieser Erfolg beschieden war. Somit hatte der Gelehrte den Stein, wenn auch nicht in seiner Materie, so doch in seiner geistigen Bedeutung seinem Vaterland zurückgewonnen.
Die Reise nach Ägypten
Die höchste Belohnung für sein langjähriges Suchen wurde ihm zuteil, als er endlich in seinem 38. Lebensjahr das Land, das ihm zu seiner geistigen Heimat geworden war, sehen sollte. Bei seiner Ankunft sagte er: „Ich bin ein völlig neuer Mensch. Es kommt mir vor, als sei ich hier geboren. Gleich nach meiner Ankunft kleidete ich mich in die landesübliche Tracht. Man hält mich für einen Einheimischen.“ Seine Reise durch Ägypten glich einem wahren Triumphzug, die Fellachen kamen in Scharen und wollten den Mann sehen, der die Inschriften ihrer alten Denkmäler lesen konnte.
Die Reise war nicht ohne Herausforderungen. Das heiße Klima, die langen Märsche und das stete Kopieren der Hieroglyphen forderten die Gesundheit und Ausdauer des Teams. Doch Champollions unermüdlicher Eifer trieb ihn immer weiter. Er war fest entschlossen, so viel wie möglich zu dokumentieren und zu verstehen. Champollion und sein Team erreichten Alexandria im Sommer 1828. Von Alexandria aus reiste die Gruppe den Nil hinauf, besuchte bedeutende archäologische Stätten und machte detaillierte Aufzeichnungen und Zeichnungen der Hieroglyphen und anderer Inschriften. Champollion war schließlich stolz darauf, offiziell verkünden zu können, dass sein Hieroglyphen-Alphabet keine Korrekturen benötigt und auf die Inschriften aller Tempel anwendbar war.
Einer der Höhepunkte der Reise war der Besuch des Tempels von Abu Simbel. Die gewaltigen, in den Fels gehauenen Statuen von Ramses II. beeindruckten Champollion zutiefst. Er und sein Team verbrachten Tage damit, die Inschriften an den Wänden des Tempels zu studieren und zu kopieren. Ein weiterer wichtiger Stopp war Theben, das heutige Luxor. Hier besuchte Champollion den Tempel von Karnak, das Tal der Könige und die Tempelanlage von Luxor. Besonders die Gräber im Tal der Könige boten eine Fülle von Inschriften und Bildern, die Champollions Wissen vertieften. Er konnte hier viele Kartuschen – die ovalen Umrahmungen von Königsnamen – identifizieren und lesen, was seine phonetischen Entschlüsselungen bestätigte.
Späte Jahre und Vermächtnis
Gesundheitlich war Champollion wenig robust. Schon in jungen Jahren plagten ihn Kopfschmerzen, Reizhusten und Atemnot. Er litt unter nervöser Erschöpfung und fiel öfters in Ohnmacht. Ständiges Lesen bei schlechter Beleuchtung griff sein Augenlicht an. Später kamen Tuberkulose, Gicht, Diabetes, Nieren- und Leberschäden hinzu. Dennoch bewältigte er ein ungeheures Arbeitspensum und gönnte sich kaum je eine Ruhepause.
Bei seiner Rückkehr nach Frankreich ist Champollion krank und erschöpft von seiner Reise. 1831 wurde er zum ersten Lehrstuhlinhaber für Ägyptologie am Collège de France ernannt. Diese Position ermöglichte es ihm, seine Forschung fortzusetzen und die nächste Generation von Ägyptologen auszubilden. Der Begründer der Ägyptologie ist nun in ganz Europa berühmt. Doch sein intensives Arbeitspensum forderte seinen Tribut. Am 4. März 1832 starb er im Alter von nur 41 Jahren an einem Schlaganfall.
Trotz seines kurzen Lebens hinterließ Champollion ein bleibendes Vermächtnis. Seine Entschlüsselung der Hieroglyphen öffnete ein Fenster zur altägyptischen Zivilisation und legte den Grundstein für die moderne Ägyptologie. Seine Arbeit ermöglichte es Historikern und Archäologen, tiefere Einblicke in die Religion, Politik und den Alltag des alten Ägyptens zu gewinnen.
Jean-François Champollions Lebensgeschichte ist ein Zeugnis von Leidenschaft, Hingabe und wissenschaftlichem Durchbruch. Seine Entschlüsselung der Hieroglyphen revolutionierte unser Verständnis der alten Welt und bleibt ein Meilenstein in der Geschichte der Linguistik und Archäologie. Champollions unermüdlicher Einsatz und seine außergewöhnliche Begabung machten ihn zu einer der faszinierendsten Figuren der Wissenschaftsgeschichte.