Der abenteuerliche Weg des Nils
Der Nil ist ein Wunder Ägyptens. Jahr um Jahr brachte er nicht nur riesige Wassermengen in die ausgedörrte Wüste, sondern auch die unglaubliche Menge von 140 Millionen Tonnen fruchtbarer Vulkanerde. Irgendwo in weiter Ferne müssen mächtige Kräfte am Werk sein, um den Fluss anschwellen und die Wassermassen flussabwärts stürzen zu lassen. Aber die alten Ägypter hatten keine Vorstellung, woher diese Flut kam. Sie dachten, dass ihn die Götter alljährlich mit seinen lebenswichtigen Gaben schickten.
Woher aber die große Flut tatsächlich kam, gab der Nil im Laufe der Geschichte nur zögerlich Preis. Vor gar nicht allzu langer Zeit gelang es erst, das große Rätsel zu lösen. Dazu mussten viele Entdecker außergewöhnliche und gefährliche Reisen weit stromaufwärts in die entlegensten Winkel Afrikas unternehmen.
Blanko-Karte vom Nilverlauf herunterladbar (rechter Mausklick)
Der längste Kuss der Geschichte
Der Nil reicht weit nach Süden über Ägypten hinaus, bis nach Nubien, eine Region im heutigen Sudan. Hier fließt er als einzige Quelle des Lebens mehr als 1000 km durch eine felsige Wüste. Noch weiter flussaufwärts gibt der Nil sein erstes großes Rätsel auf. Hier vereinigen sich zwei Flüsse: der Blaue Nil und der Weiße Nil. Ihren Zusammenfluss bezeichnen arabische Dichter als „den längsten Kuss der Geschichte“. Die unterschiedlichen Farben des Blauen und des Weißen Nils lassen auf verschiedene Quellen schließen. Am Zusammenfluss der beiden Wasserläufe entstand schon früh eine große menschliche Ansiedlung: Khartum. Khartum ist die Hauptstadt des heutigen Sudan. Ein Land mit fast 600 Völkern und über 100 Sprachen.
Der Sudd – weltweit größtes Sumpfgebiet
Jenseits von Khartum führen die beiden Arme des Nil in ein wilderes Afrika. Aber welcher Flussarm bringt die große Flut? Der Weiße Nil ist der weitaus längere der beiden Zuflüsse. Nur ein paar 100 km aufwärts der Wüstenstadt stoßen wir auf eine völlig andere und fremdartige Welt. Das ist der Sudd, eines der weltweit größten Sumpfgebiete. Sudd bedeutet Barriere. Jeder, der im Laufe der Zeit dieses sich immerzu wandelnde Gebiet durchqueren wollte, fand diesen Namen sehr bezeichnend. Hier stoßen die arabische und die afrikanische Welt aufeinander. Der Lauf des Weißen Nils verliert sich in einem Meer von Papyrusstauden. Das Papyruslabyrinth bietet einer großen Anzahl von Fischen Nahrung und Schutz. Diese Gewässer sind sehr fruchtbar. Aber waren sie auch in der Lage, die weit entfernten Felder des alten Ägypten mit Nährstoffen zu versorgen?
Im Reich des Papyrus ist immer alles in Bewegung. Lufttaschen im Stängel sorgen für starken Auftrieb. Riesige Papyrusflöße treiben in der Strömung und verändern ständig den Lauf der Wasserwege und Kanäle. Kein Wunder, dass die frühen Entdecker den Sudd für undurchdringlich hielten. Eine ganze Reihe gefährlicher Tiere gedeihen hier prächtig, was den Ruf des Sudd als unwirtliche Gegend noch verstärkt.
In der Trockenzeit schrumpft der riesige Sumpf, sodass die Fischkonzentration immer größer wird. Leicht werden sie zur Beute anderer Tiere. Mehr als 1 Million Menschen leben mit ihrem Vieh im Sudd. Wann immer möglich, geht das Volk der Dinka im Sudd auf Fischfang. Bald wird sich alles ändern. Wenn die Regenzeit einsetzt, beginnt der gesamte Sumpf anzuschwellen. Die Dinka müssen weiterziehen, wollen sie nicht vom steigenden Wasser umzingelt werden. Seit der Zeit des alten Ägyptens folgen diese Menschen dem Rhythmus des Nils. Weil sie sich nie endgültig niederlassen konnten, hatten sie keine Gelegenheit große Städte oder Monumente in Ägypten oder Nubien zu errichten. Nebenflüsse bringen von weit her zusätzliches Wasser in den Sudd. Weiden werden zu Seen. Während das steigende Wasser allmählich alle Winkel des Sumpfgebietes erreicht, nimmt die Verwandlung weiter ihren Lauf. Wenn die Flut ihren Höhepunkt erreicht, hat sich die Fläche des Sudd verdoppelt. Mit 32.000 km² ist der Sudd eines der weltgrößten Feuchtgebiete. Einige Monate bleibt diese Wasserwelt ganz sich selbst überlassen. Für manche Tiere ist es ein wahres Paradies. Wo bis vor kurzem noch Weideland war, finden jetzt Fische neuen Lebensraum. Einige wenige Wochen können sie sich so richtig satt fressen an diesem gewaltigen neuen Nahrungsangebot.
Doch bald schon steht die nächste Veränderung an. Die Tropensonne lässt die flachen Stellen des Sudds verdunsten, zurück bleibt ein wechselndes Mosaik aus Tümpeln und Weideland. Für die Dinka ist es nun Zeit weiterzuziehen.
Aber ist diese Flut und Fruchtbarkeit dieselbe, der das alte Ägypten seine Existenz verdankte? Zweifellos führte der Weiße Nil genug Wasser und Nährstoffe, um den Sudd vollständig zu verwandeln. Doch trotz der enormen Wassermengen, die in den Sudd fließen, macht die Flut im Norden halt. Der Wasserstand des weißen Nil hinter dem Sudd ändert sich das Jahr über nur sehr wenig. Die Wüstenwelt des alten Ägypten war aber von der jährlichen Flut des Nils abhängig, die Millionen Tonnen fruchtbaren Ackerbodens mitbrachten. Woher stammte also das Wasser des Nils?
Der Blaue Nil
Die Suche von Ägypten aus stromaufwärts am Weißen Nil entlang brachte nicht die erwünschte Erklärung. Dieser Arm des Nils ist sicher nicht der Ursprung der großen Flut. Kehren wir also nach Khartum zurück und schlagen den anderen Weg ein – diesmal entlang des Blauen Nils.
Flussaufwärts von Khartum fließt der Blauen Nil durch trockene Savanne. Am Rande des äthiopischen Hochlands aber stürzt der Fluss aus einer steilen unzugänglichen Schlucht, die manchem Forscher das Leben kostete, der den weiteren Verlauf des Flusses erkunden wollte. Doch am Grund dieser Schlucht konnte die große Flutwelle auch nicht entstehen. Während der Trockenzeit liegt er nahezu öde da.
Äthiopien
In Äthiopien erheben sich 80 % der höchsten Berge Afrikas. Ein Vermächtnis der vulkanischen Vergangenheit diese Region. Vor 30 Millionen Jahren quoll ein riesiger Pfropfen Vulkangesteins durch Risse an der Erdkruste an die Oberfläche, kühlte dann ab und erstarrte in Form des äthiopischen Hochlands. Seither ist die Erosion am Werk und verwandelt ständig die Ränder dieses Felsendoms in eine spektakuläre Szenerie. Hoch oben liegt eine Überraschung. Ein See in diesem trockenen öden Land. Der Tanasee in fast 2000 m Höhe ist der höchstgelegene See Afrikas. Die Nilpferde am Tanasee leben in größerer Höhe als alle ihre Artgenossen. Könnte der Tanasee die rätselhafte Quelle für die große Flut des Nils sein? Das kleine Rinnsal, dem sie entspringt, wirkt nicht gerade sehr vielversprechend. Aber die Felsen verraten, dass es hier auch ganz anders aussehen kann. Diese Formen können nur durch einen tobenden, wilden Strom geschliffen worden sein. Auch weiter oben auf der Hochlandkuppel über dem Tanasee ist das Land trocken und öde. Doch wenn der blauen Nil wirklich für die große Jahresflut verantwortlich ist, dann muss sie hier oben ihren Ursprung haben.
Eis bricht die Bodenkrume auf
Man muss nur ein wenig warten. Ab Juni stoßen regenschwere Wolken aus dem Kongobecken an diese steilen Berge, dann öffnen sich die Himmelsschleusen. Innerhalb weniger Wochen fallen über 1000 Liter Wasser auf einen Quadratmeter. Das äthiopische Hochland ist bekannt als Afrikas Wasserturm. In der dreimonatigen Regenzeit kann diese Region ein recht jämmerlicher Ort sein. Aber der Regen erweckt die Berge nach der langen Trockenheit zu neuem Leben.
Der Boden hier ist vulkanischen Ursprungs. Das bedeutet, dass er reiche Nährstoffe enthält. Eben dieser fruchtbare Boden wird die Ernten des alten Ägypten gedeihen lassen. Die Regenfälle verwandeln das Hochland in vielerlei Beziehung. Nachts können die Temperaturen so tief sinken, dass jegliches Wasser im Boden gefriert, sich dabei ausdehnt und dadurch die Bodenkrume aufbricht. Wenn das Eis dann am nächsten Morgen wieder schmilzt, bleibt fein gekörnter Boden zurück. Auch lockern Millionen Nagetiere die Erde weiter auf.
Bald schon kann die regengetränkte Erde kein Wasser mehr aufnehmen. Überall an den Berghängen sprudelt es hervor und bildet ein weites Netzwerk kleiner Bäche. Wenn sie zusammenfließen, dann steigt die Menge fruchtbarer Erde an, die mitgeschwemmt wird. Kleine Ströme werden zu reißenden Flüssen. Schließlich münden alle diese Flüsse in den Tanasee. Allmählich füllt sich der See, an seinen Ufern entstehen Sümpfe.
In den Bergen wird der Tanasee zu eiem riesigen Wasserspeicher für den Blauen Nil. Der gelöste vulkanische Boden hat ihn mit einer Fülle von Nährstoffen angereichert, sodass Menschen und Tiere reichlich Fische fangen können.
Mehr als 60 Gebirgsbäche münden in den Tanasee, aber nur ein Strom fließt heraus, der Blaue Nil. Noch wenigen Monaten vorher war er praktisch ausgetrocknet, aber jetzt hat er sich in einen ganz anderen Fluss verwandelt. Diese Kraft ist fürwahr stark genug, die große Flut über Tausende von Kilometern bis zu den Wüsten Ägyptens zu bringen. Immer schneller, immer machtvoller werden die Fluten und stürzen schließlich in die Schlucht des Blauen Nils. Mehr als 1000 m ist sie tief, fast 20 km breit über 600 km lang. Diese Schlucht ist das afrikanische Gegenstück zum Grand Canyon. Die Menschen vom Hochland nennen diesen Wasserfall Tisisatt, das bedeutet rauchendes Feuer.
Vom gesamten Hochland strömen weitere mächtige Flüsse in die Schlucht des Blauen Nils. Wenn der Blaue Nil im Norden Äthiopien verlässt, dann ist er 50-mal größer als in der Trockenzeit. 140 Millionen Tonnen fruchtbaren Erdreichs trägt der Blau Nil mit sich. Seit 1 Million Jahren gräbt er sich in das äthiopische Hochland. Er schleift dabei Stück um Stück des Vulkangesteins ab und schuf so diese gewaltige Schlucht. Schließlich strömt die große Flut des Nils über die Ebenen des Sudan. Nun vereint sich der Blaue Nil bei Khartum mit dem Weißen Nil, durchquert dann die Wüste, um schließlich das ausgedörrte Ackerland Ägyptens zu neuem Leben zu erwecken und fruchtbar zu machen. Dieser großen Flut verdankte das alte Ägypten seine einzigartige Kultur. Aber die alten Ägypter haben nie entdeckt, woher in Wirklichkeit die reichen Gaben kamen, denen sie alles verdankten.