Was verrät die Romulus-Sage über den römischen Kulturimpuls?
Die Sagen und Märchen eines Volkes enthalten zumeist in verdichteter Form, was diese Kultur für Ziele, Aufgaben und Impulse hat. Entwickelt man für ihre Bilder ein Verständnis oder ein Gefühl, so kennt man eigentlich das Wesentliche dieses Volksimpulses.
Stichpunktartig seien hier die wesentlichen Punkte für die römische Sage und die römische Kultur angedeutet.
Am Anfang steht ein Unrecht
Numitor, der rechtmäßige König, wird von seinem jüngeren Bruder Amulius vom Thron vertrieben. Zudem lässt er dessen Sohn töten und seine Tochter Rhea Silvia als Vestalin zum Tempeldienst verpflichten. Damit soll von der Nachkommenschaft Numitors keine Gefahr mehr für Amulius' Herrschaft ausgehen.
Mars greift ein
In einem Gewitter erscheint der Gott Mars Rhea Silvia zunächst als Wolf. Sie wird von ihm in eine Höhle gedrängt. Hier nimmt Mars die Tochter Numitors zur Frau.
Die römische Kultur ist stark durchdrungen von dem Impuls, den der Gott Mars repräsentiert. Es ist der Gott des Kampfes, als Himmelskörper der Vertreter des Eisens. Eine kleine Stadt in der Mitte Italiens eroberte einen Erdkreis. Sie war das Zentrum des Imperiums und sie drückte der römischen Kultur ihren Stempel und ihren Namen auf. Das Imperium wird nach eine Stadt benannt. Die römischen Armeen zeigten eine Durchschlagskraft vergleichbar mit der Härte des Eisens.
Geburt der Zwillinge
Rhea Silvia gebiert Zwillinge.
Das Motiv der Zweiheit taucht bei den Römern immer wieder auf. Der römische Staat enthält ein ganz neues Konzept. Während der Zeit der Republik stehen zwei Konsuln an der Spitze des Staates. Man will die Macht verteilen, man will Kontrolle. Mit Rom wird die Verstandesseele vollständig ausgeprägt. Es gilt das Prinzip "entweder oder". Auch dies ist eine Form der Zweiheit. Wer nicht für Rom ist, ist gegen das Imperium. Das eine oder das andere.
Die Götter lenken
Die Zwillinge gehen im Tiber nicht unter, sondern verfangen sich mit ihrem Körbchen im Schilf des Ufers.
Der Mensch im alten Rom lebte noch stark im Bewusstsein der geistigen Welt, auch wenn er sie, wie wir später sehen werden, nicht mehr verstand. Trotzdem empfand er, wie sein Leben durch die Götter gelenkt und geleitet wurde. Auch der Christusimpuls senkte sich in diese Kulturepoche.
Der Wolf säugt die Zwillinge
In den ersten Tagen kommt immer eine Wölfin zum Tiber, um die Zwillinge zu säugen.
Die erste Nahrung der Zwillinge ist die Wolfsmilch. Mit der Muttermilch haben sie gleichsam die Wolfsnatur in sich aufgesogen: ungestüm, zunächst wild, kämpferisch, rebellisch, ausdauernd, durchsetzungsfähig, blutgierig "in kultivierter" Form in den Arenen, wo man aus der Entfernung zusah. Andererseits fand die Blutgier im Expansionswillen der römischen Legionen ihren Ausdruck.
Faustulus - ein Hirte - Stiefvater
Faustulus, eine Hirte, fand die Zwillinge. Da er keine eigenen Kinder hatte, zog er sie mit seiner Frau auf. Er gab ihnen die Namen Romulus und Remus. Sie wuchsen in den ärmlichen Verhältnissen von Hirten auf.
Das römische Volk war auch in seinen Anfängen raubeinig und ungeschliffen. Später wird in der Sage sogar gesagt, dass Romulus in Rom allen Gestrandeten und Geächteten der Umgebung eine Heimstatt verspricht.
Auch der Beruf ist von Bedeutung: Ein Hirte pflegt und kümmert sich um seine Schafe. Die römische Kultur wird gepflegt. Sie bildet sich erst langsam heraus, wird geschliffen und kultiviert und setzt am Ende sogar auf dem ganzen Erdenkreis Maßstäbe. Noch heute gilt derjenige als gelehrt, der Latein verstehen kann.
Andererseits klingt das Motiv der Heimatlosigkeit an. Romulus und Remus wachsen nicht bei ihren leiblichen Eltern auf. Auch Aeneas verließ mit Troja seine Wurzeln und landete schließlich an der Küste Italiens. Wenn man bei Stiefeltern aufwächst, hat man seine leiblichen Wurzeln verlassen. Verlässt man hingegen Tradition und Vergangenheit, so kann in großem Maße Veränderung und Wandel Platz greifen. Auch wenn die Römer vieles von der griechischen Kultur kopieren und integrieren, beginnt mit Rom doch etwas ganz Neues.
Der Vogelflug - Zeichen der Götter
Romulus und Remus wollen für dieses Neue eine eigene Stadt gründen. Welchen Ort haben die Götter dafür ausersehen? Man beobachtet den Vogelflug: 6 Geier fliegen über Remus' Hügel, anschließend 12 über Romulus Standort.
Die Götter haben gesprochen, aber was haben ihre Worte zu bedeuten? Die Römer verstehen die Götter nicht mehr, man betrachtet ihre Zeichen nur noch von außen. Ist die Frage der Qualität des richtigen Zeitpunktes entscheidend oder einfach die Quantität? Rom entscheidet sich für die Masse. Die Stadt wird dort errichtet, wo die 12 Geier erschienen sind. Das ist sehr bezeichnend. Das Prinzip "je mehr desto besser" setzt sich durch. Rom wächst und wächst, errichtet Provinz um Provinz. Der Blick der Römer ist stark auf das Äußere gerichtet. Der geistige Blick wird trüb.
Am Ende steht wiederum ein Unrecht
Remus überspringt die im Bau befindliche Stadtmauer von Romulus und spottet über ihre Niedrigkeit. Romulus rast vor Zorn und erschlägt seinen Bruder.
In dem starken Expansionsdrang der Römer kommt so manches Volk unter die Räder. Cäsar erobert beispielsweise in kurzer Zeit ganz Gallien und macht es zur Provinz. Die römische Kultur breitet sich im Wesentlichen durch das Schwert aus. Die griechische Kultur, die nicht weniger die Welt berührt hat, wirkte ganz anders. Das Alexanderreich währte nur einen Augenblick und trotzdem ging die Saat auf. Rom schuf und hielt sein Imperium mit seinen Legionen zusammen.