Die sieben Könige als Abbild der sieben Glieder des Menschen
Den inneren Fortgang in der Aufeinanderfolge der sieben römischen Könige stellt Rudolf Steiner so dar, dass jeder der sieben Könige eines der sieben Prinzipien des Menschen repräsentierte. In seinem Vortrag vom 15. Mai 1905 (von dem allerdings nur eine wenig befriedigende Nachschrift existiert) führt Rudolf Steiner dies skizzenhaft für die einzelnen Könige durch. Hier sei das Wesentliche zusammengefasst.
1. Romulus vertritt den physischen Leib des Menschen. Er gründet Rom. Er verwirklicht die Idee einer neuen Stadt und gibt ihr eine physische Gestalt. Er lässt eine Stadtmauer bauen. Auf Romulus führt die Überlieferung auch die äußeren grundlegenden Einrichtungen des römischen Staatswesens zurück.
2. Numa Pompilius steht für die Lebenskräfteorganisation des Menschen. Seine Regierung war eine Friedenszeit, ganz dem inneren Aufbau gewidmet. Diese Aufgabe haben auch die Lebenskräfte des Menschen. Numa Pompilius ist die priesterliche Gestalt unter den römischen Königen; er gilt als der «fromme» König. Auf ihn wird Recht und Ordnung und auch die ganze Gestaltung des kultisch-religiösen Wesens der Römer zurückgeführt.
Numa Pompilius errichtete der Sage nach den berühmten Janustempel, der in Kriegszeiten offenstand, im Frieden aber geschlossen war. Letzteres war bei dem marshaftem Römertum eher selten. Freilich war es nicht das Römertum allein, sondern überhaupt das Altertum, das den Kriegszustand als den normalen unter den Völkern betrachtete.
Ein bedeutsamer Zug, der von Numa Pompilius berichtet wird, ist seine Beziehung zu der Nymphe Egeria, von der er zu seinen weisheitsvollen Gesetzen inspiriert worden sei. Plutarch z. B. erzählt in seinen «Vergleichenden Lebensbeschreibungen», wie Numa nach dem Tode seiner Gemahlin Tatia das Gewimmel der Stadt verließ, sich aufs Land begab, wo er am liebsten allein umherschweifte und in heiligen Wäldern und Auen verweilte.
3. Tullus Hostilius ist der dritte römische König, der das Element des astralischen Leibes repräsentiert. Unter Hostilius beginnt der Unfriede und der Krieg, unter dem Rom groß wurde. So ist er in der Geschichte als kriegerischer Herrscher bekannt. Das Kriegerisch-Aktive, Aggressive eignet dem astralischen Leibe des Menschen. Selbst in dem Namen Hostilius scheint das Wort hostis bzw. hostilis (Feind, feindlich) anzuklingen. Im astralischen Leibe lebt die Selbstsucht des Menschen, ein Element, das wiederum sehr zu dem römischen Wesen gehört.
4. Ancus Marcius - würde dem menschlichen Ich entsprechen. Sein Name soll nach einer Version «Diener des Mars» bedeuten. Sein Charakter sei eine Mischung von Romulus und Numa gewesen (Livius I 32). Er war ein friedlicher und zugleich kriegerischer König, «et Numae et Romuli memor», - was auf einen gewissen Gleichgewichtszustand deuten mag, der durchaus der Ich-Haltung des Menschen entsprechen würde. In seiner Regierung kristallisierte sich der Stand der Plebejer heraus. Diese haben viel zur Entwicklung des Ego-Menschen in seiner römischen Prägung beigetragen.
Bis zu Ancus Marcius ergibt sich ein Anstieg der Entwicklung, eine Art Steigerung der römischen Königszeit. Ab dort findet ein Niedergang in die Dekadenz bis zum siebenten der Könige statt. Was über das Wesensglied des ICH hinausliegt, konnte im Römertum noch keine entsprechende Entwicklung finden.
5. Tarquinius Priscus Rudolf Steiner deutet an, dass uns Tarquinius Priscus im menschlichen Bilde an die Sphäre des Geistselbst heranführt: «Der fünfte römische König ist nicht aus dem römischen Gliederbau herausgeboren, sondern als etwas Höheres aus der Kultur der Etrusker in die römische Kultur hineinversetzt.»
Die Erhebung zum Geistselbst bedeutet ja im wahrsten Sinne die Überwindung jedweden Römertums, geradezu seinen Gegenpol, wo sich aus höheren Welten etwas Überindividuelles auf das menschliche Ich herniedersenkt. Auch das Geistselbst kommt in gewissem Sinne dem Menschen «von außen» zu, wie Tarquinius Priscus dem römischen Volke.
Die Sage erzählt (Livius I 34), wie Tarquinius Priscus mit seiner Gemahlin Tanaquil von Etrurien nach Rom einwanderte. Als sie gerade beim Janiculum angekommen waren, da habe sich ein Adler sanft auf Tarquinius herabgesenkt, ihm den Hut entführt, sei mit lautem Geschrei über den Wagen hin und her geflogen, habe ihm dann, «wie von einem Gotte als Diener gesandt», den Hut gehörig wieder aufs Haupt gesetzt und sei darauf in den Lüften verschwunden. Dies war ein Vogelzeichen. Das Bild kann auch uns heute manches sagen, gerade im inneren Zusammenhang mit der besonderen Rolle des Tarquinius Priscus und des menschlichen Wesensgliedes, das er repräsentiert. Es soll sich dereinst wie von oben auf den Menschen herniedersenken.
6. Servius Tullius Es folgt als sechster König Servius Tullius. Er führte eine Neuordnung der Bürgerschaft, die sogenannte servianische Verfassung durch. Viele bürgerliche Einrichtungen der späteren Zeit hat die Überlieferung auf ihn
übertragen.
7. Tarquinius Superbus ist eigentlich der Erhabene, welcher fallen muss. Übermut und Tyrannei des Tarquinius Superbus führten zu seiner Vertreibung, zur Abschaffung des Königtums und zur Begründung der Republik. Er hat eine Doppelfunktion. Mit seinem Namen deutet er auf seine Bestimmung, praktisch aber ist er der Wegbereiter für die Republik. Das sakrale Königtum musste vom persönlichen Ego abgelöst werden. Wenn dieses Ego eines Einzelnen so auftrat, dass es in despotischer Weise sich geltend machen wollte, musste das Römertum in der Zeit seiner aufsteigenden Entwicklung sich dagegen auflehnen. Denn der Sinn der weiteren römischen Geschichte sollte es zunächst sein, den Boden zu bereiten, auf dem das Ego jedes römischen Bürgers zu einer gewissen Entfaltung sollte kommen können.