Die Sage von Romulus und Remus

Aussetzung und Rettung

Askanius, der Sohn des trojanischen Helden Aeneas, gründete, ausgehend von der zu klein gewordenen Stadt Lavinium, in den Niederungen des Tiber die Stadt Alba Longa. Alba Longa wurde zu einer mächtigen Stadt, die alles Land der Umgebung und die umliegenden Städte mühelos beherrschte.

Lange Zeit ging über das Land. Eines Tages jedoch änderte sich das friedliche Bild. Der König Proca hatte zwei Söhne, Numitor und Amulius. Nach altem Brauch übergab er Numitor, dem Älteren, die Herrschaft. Amulius konnte sich mit der zweiten Stelle nicht zufrieden geben, lehnte sich gegen seinen Bruder auf, stieß ihn vom Thron und verbannte ihn auf einen weit abgelegenen Gutshof. Dort lebte Numitor ein stilles Dasein.

Etwas noch Schlimmeres geschah: Amulius ließ den Sohn Numitors heimlich umbringen, damit dieser später nicht Anspruch auf den Thron erheben könnte. Numitor hatte noch eine Tochter. Rhea Silvia war ein schönes, lebhaftes Mädchen, um das sich die tüchtigsten jungen Männer bewarben. Auch hier hegte Amulius hinterhältige Gedanken. Würde nämlich Rhea Silvia Kinder in die Welt setzen, hätten diese rechtmäßigen Anspruch auf den Thron. Daher machte er sie zur Priesterin der Stadt. Man nannte sie "Vestalin" und ihre Aufgabe bestand darin, in einem Tempel das ewige Feuer der Stadt zu bewachen. Seine Flamme darf nie erlöschen! Sechs Vestalinnen hüten es. Sie üben das Amt für 30 Jahre aus und während dieser Zeit sind sie unberührbar, d.h. sie dürfen mit keinem Mann zusammen sein. Eine Vestalin, die ihre Jungfräulichkeit verliert, wird auf grausame Weise öffentlich hingerichtet. Auf diese Art konnte Rhea Silvia Amulius nicht mehr gefährlich werden.

Keiner der jungen Männer wagte es nunmehr, sich ihr zu nähern. Die zu einer Vestalin erhobenen Frau war entrückt, wie ein fernes Sternbild. Die Vestalin tat ihren Dienst wie im Traum. Sie mäßigte ihren raschen Schritt zu feierlichem Gang, sie lernte es, das nie verlöschende Feuer so zu unterhalten, dass es still und gleichmäßig brannte, und sie brachte die Opfer würdig und hoheitsvoll. Aber sie lebte wie im Traum.

Eines Tages im Frühling, als die Vestalinnen wie immer zur Quelle gingen, wo sie das Wasser für die Opfer holten - hier in Alba Longa lag die Quelle weit vor der Stadt am Fuß des Albanerberges -, zog ein ungewöhnlich heftiges Gewitter auf und überschüttete das Land mit Regen und Blitzen, die wie Peitschenschläge vom Himmel fuh­ren. In dem unausgesetzten Donner ging jeder Ruf verloren, und die Priesterinnen wurden voneinander getrennt. Rhea Silvia sah sich erschrocken um und erblickte keine ihrer Gefährtinnen mehr.

Da sah sie plötzlich in die glü­henden Augen eines riesigen Wolfes. Sie erschrak kaum, sondern ließ sich von dem Tier in eine Höhle drängen. Ruhig blieb sie stehen, stützte sich mit der Hand gegen die raue Höhlenwand. Den Wolf sah sie nicht mehr, und sie war zu schläfrig, um sich darüber zu wundern. Plötzlich aber zerriss ein Blitz ihre Müdigkeit, und nun erschrak sie so, dass sie auf die Knie fiel: Vor ihr stand, riesenhaft und gleißend vor Gold, ein Gott. „Mars!" flüsterte sie. Im Fluge strich alles an ihr vorbei, ihr früheres Leben, das Haus, die Eltern. Ihr Bruder erschien vor ihrem Blick, ein hellhäutiger Knabe auf wildem Pferd, und neben ihm sah sie, fremd und doch so vertraut, zwei Knaben, die ihm ähnelten und die Hand in Hand an einem Flussufer entlang liefen. Diese Bilder kamen und gingen in der Dauer eines einzigen Augen­blicks, dann fühlte sie die Augen des Gottes auf sich und sah ihn nicken: „Ja", sprach er, „du hast deine Knaben gesehen. Sie werden deine Söhne sein und meine. Komm, sei meine Gemahlin und werde die Mutter von Göttersöhnen."

Rhea Silvia wurde hier, in der dämmerigen Höhle, die Gemahlin des Kriegsgottes. Wie lange sie bei ihm weilte, sie wusste es nicht. Die Zeit verging nach anderen Maßen als sonst, und eines Tages war sie allein.

Sie verließ die Höhle und wanderte zurück in die Stadt. Spuren von Schnee lagen auf den Wegen, und es fror sie in ihrem dünnen Gewand. Sie kam zum Haus der Vestalinnen, sah ihre Gefährtinnen am Altar stehen und trat ruhig auf sie zu - da wichen die Mädchen vor ihr zurück wie vor einem Dämon und starrten sie mit aufge­rissenen Augen an. Eine wandte sich und lief davon, den Priester zu holen. Als er kam und sah, was geschehen war, hob er die Hände hoch und rief: „Vesta, Göttin, verzeih den Frevel! Räche ihn nicht an uns! Ver­nichte die Frevlerin, die das Gelübde gebrochen hat!"

Dann wandte er sich zu Rhea Silvia: „Hätte dich doch der Blitz erschlagen, hätten dich doch die Wölfe zerrissen, wie wir es geglaubt haben! Das wäre dir und uns besser gewesen als diese Schmach! Hier an ihrem Altar wagst du zu erscheinen, mit dem Kind, das du gebären wirst?"

Er riss Rhea Silvia aus dem Heiligtum, befahl, sie sofort zu König Amulius zu führen. Dieser  schäumte vor  Zorn  -  aber  im   tiefsten   Herzen hockte ihm blasse Angst. Denn Rhea Silvia berichtete ruhig, dass sie die Gemahlin des Gottes Mars geworden sei und dass sie seine Söhne zur Welt bringen würde. Da wagte es der König nicht, sie und damit auch die Götterkinder töten zu lassen, sondern er ließ sie in ein abgelegenes Haus bringen, wo sie unter scharfer Bewachung leben sollte, bis die Kinder geboren waren.

Es währte nicht lange, bis sie Zwillingen das Leben schenkte. Aber nun war die Frist abgelaufen, die man ihr gewährt hatte: jetzt musste sie sterben. Sie küsste die Kinder und sah sie liebevoll an - dann ließ sie sich ruhig fortführen. Am Ufer des Tiber brachte man sie auf ein Boot, ein Stoß warf sie vom Schiff in die Wellen. Da rauschte das Wasser hoch auf, ein Arm fuhr empor und riss Rhea Silvia in die Tiefe, und schaudernd sprach der Priester: „Der Tiber hat sie geholt. Der Tibergott hat sie zu sich genommen."

 

Die Wölfin

Die Zwillinge lagen in ihrem Korb, Rhea Silvias alte Amme pflegte sie und weinte dabei tausend Tränen um das Schicksal der Mutter. Aber die Kinder durften nicht in der treuen Obhut bleiben, Amulius ließ sie holen. Er betrachtete sie kurz und dachte: „Wenn ihr also eines Gottes Söhne seid, dann wird er euch retten. Hat aber Rhea Silvia gelogen und euer Vater ist ein gewöhnlicher Sterblicher, dann wage ich erst recht nichts, wenn ich euch aussetze." So befahl er, die Kinder in den Tiber zu werfen, aber heimlich, bei Nacht, damit nicht alles Volk davon erfahren würde.

In einer kleinen hölzernen Wanne lagen die Zwillinge, fest einge­bunden in warme Tücher, schlafend und gesund. Ein Knecht trug sie, ein anderer leuchtete mit einer Fackel am Flussufer entlang. Der Strom führte hohe Wogen, es war die Zeit der Schneeschmelze, wo der Tiber reißend und wild weit über seine Ufer tritt, und die beiden Männer gingen ängstlich an seinen schäumenden Wellen entlang. „Hier!" flüsterte der eine, und sie warfen die Wanne mit den Kindern ins Wasser. Dann flohen sie von dem unheimlichen Ort, gejagt von schlechtem Gewissen.

Am anderen Morgen hob sich ein grauer Tag über den Fluss. Die Wasser hatten sich verlaufen, der Tiber floss wieder in seinem alten Bett. Da ertönte ein dünnes Geschrei: Unter einem Feigenbaum, fest an den Stamm gepresst, lag die Wanne mit den beiden Kindern! Der Feigenbaum hatte sie aufgefangen und festgehalten, bis sich die Wasser wieder verlaufen hatten, und so waren die Zwillinge gerettet. Aber kein Mensch sah sie hier, und niemand kam an diesen schreck­lichen Ort der Zerstörung. Die Kleinen erwartete der Hungertod - wozu waren sie dem Ertrinken entronnen? Vom Berg herab strich ein grauer Schatten, vorsichtig, geduckt hinter den Büschen entlang. Schließlich trat eine große Wölfin ans Ufer, beugte sich und trank vom Wasser. Das klägliche Weinen ließ sie aufhorchen, und sie tappte langsam hinüber zum Feigenbaum, wo die Zwillinge lagen. Die Wölfin stutzte und fuhr zurück, dann näherte sie sich wieder mit gesträubtem Fell den Kindern, wich zurück und kam wieder wie auf einen Befehl. Schließlich wagte sie es, die Kleinen vorsichtig mit ihrer rauen Zunge zu lecken, und endlich begann sie, die Kinder mit ihrer Milch zu nähren. Dann lief sie davon. Tagelang kam die Wölfin an den Tiber, ging zum Korb und nährte die Kinder mit ihrer Wolfsmilch, bei der sie gut gediehen.

Nach wenigen Tagen ging der Ziegenhirte Faustulus am Tiber entlang und suchte Holz für sein Feuer. Da sah er voller Schrecken einen riesigen Wolf an einem Feigenbaum stehen. Aber das Tier beachtete ihn nicht, sondern ließ ihn, der nun neugierig geworden war, ruhig herankommen. Faustulus sah die Wölfin eifrig zwei Kinder lecken, die in einer Wanne lagen. Erst als er ganz herantrat, zog sich das Tier scheu zurück. Er nahm die Zwillinge auf und trug sie fort.

Faustulus und seine Frau behielten die Kinder gern bei sich, nannten sie Romulus und Remus und zogen sie auf, wie sie ihre eigenen Kinder erzogen hatten: rau und einfach, bei derber Kost und früher Arbeit mit den Tieren und auf dem Felde. Sie wuchsen zu starken, un­bändigen Knaben heran, und wenn Faustulus ihren Übermut tadelte, vergaß seine Frau nie, ihn sanft zu mahnen: „Du weißt, sie haben Wolfsmilch getrunken. Wie können sie da sanft sein?"

 

Die Zwillinge vor Numitor

Aber es war wohl zu merken, dass die beiden, sobald sie zu Jüng­lingen heranwuchsen, keine Hirtenkinder sein konnten; zwar taten sie willig alles, was Faustulus, den sie für ihren Vater hielten, ihnen auftrug, aber das erschöpfte nicht ihre unbändige Kraft. Jeder von ihnen hatte Freunde, deren Schar er anführte. Sie übten sich im Wettlaufen und Bogenschießen, ja sie trieben auch manches, was nach Gewalttat aussah und die friedlichen Bauern sehr verdross: aus Übermut erschreckten sie die Hirten der Umgebung, trieben ihnen das Vieh fort, forderten sie zum Kampf heraus, in dem ihre eisenharten Fäuste immer siegten.

Deshalb beschlossen die Hirten der Umgebung, sich an den Zwil­lingen und ihrem Anhang zu rächen, und dazu wählten sie das Fest des Gottes Faunus. Beide Brüder nahmen an dem ländlichen Treiben teil, sprangen in ihren Bocksfellen herum und schlugen mit Riemen im Scherz, doch so, dass es schmerzte, auf die Zuschauer. Da gelang es den Hirten, unter denen auch die Leute von Numitors Bauernhof waren, die Brüder voneinander zu trennen und sich auf sie zu stürzen. Romulus entkam und lief zu Faustulus, Remus aber nahmen sie gefangen, banden ihn mit den Riemen und schlepp­ten ihn, der sich wie ein Wolf wehrte, zu Numitor. Der einstige König stand gedankenvoll vor dem Jüngling und blickte ihm lange in das trotzige Gesicht. „Lass mich los!" rief Remus. „Sie haben mich über­fallen, als ich allein war - fünfzig gegen einen, das ist wohl eine Heldentat! Binde mich los, Alter, sonst kommt mein Bruder mit seinen Freunden und brennt hier alles nieder!"

Und wirklich, Romulus war schon auf dem Wege und rückte mit seinen Freunden an. Ihm nach keuchte der alte Faustulus, um für seine Ziehkinder ein Wort zu sprechen. So gelangten sie vor Numitor, der Schweigen gebot. Da trat der alte Faustulus vor, beugte sein Knie vor dem früheren König und bat, ihn anzuhören. Er erzählte, wie er die Kinder vor Jahren gefunden, wie sie von einer Wölfin gesäugt worden wären. „Numitor, sieh sie dir an! Erkennst du die Züge nicht? Kannst du in ihnen nicht das erkennen, was ich schon lange ver­mute?" Jetzt schwiegen die Brüder und sahen einander bestürzt an. Numitor aber sprach:

„Ich verstehe dich, Faustulus. Es ist mein eigenes Blut. Aus den Augen blickt mich mein toter Sohn an und meine Tochter Rhea Silvia." „So ist es", rief der alte Hirte triumphierend. „Es sind deine Enkel, König! Es müssen deine Enkel sein, und sie sind Göttersöhne! Mars ist ihr Vater, Mars hat sie gerettet! Keiner darf sie anrühren, die Göttersöhne!"

Scheu wich alles von den beiden zurück. Remus dehnte sich und zerriss mit einem Ruck die Riemen, die ihn gefesselt hatten. Dann standen die Zwillinge nebeneinander, furchtlos und hoch aufgereckt, und erwarteten die Entscheidung Numitors. Der breitete die Arme aus, Tränen erstickten seine Stimme, als er sagte: „Kommt, meine Enkel, kommt, kommt! So haben mir die Götter das Beste belassen - mein Geschlecht blüht weiter."

Remus und Romulus waren verwirrt von all dem Unerwarteten, aber sie fassten sich schnell. „Wenn Rhea Silvia unsere Mutter war, dann wollen wir sie an Amulius rächen!" Ihr Eifer riss Numitor mit, und sie beschlossen, gemeinsam nach Alba Longa zu ziehen und den falschen König vom Thron zu stoßen.

Dabei gingen sie listig ans Werk, ließen verbreiten, dass ein mäch­tiger Heerhaufen gegen die Stadt rücke, und zogen damit die albanischen Krieger weit ab von der Stadt. Dann gelang es ihnen, sich des Pa­lastes zu bemächtigen und Amulius zu töten.

Die Leute von Alba Longa jubelten den Brüdern zu, denn sie hatten Amulius nie geliebt und es als Schande empfunden, von einem Thronräuber beherrscht zu werden. Nun kehrte Numitor zurück und nahm sein Königsamt wieder an sich. Seine Enkel lebten bei ihm in Alba Longa, und das städtische Leben gefiel ihnen wohl. Sie lernten die Macht der Sitte kennen und einsehen, wie wichtig der Schutz der Götter für eine Stadt und einen Staat ist.

 

Die Gründung Roms

Eines Tages trat Romulus vor seinen Großvater: „Erlaube uns, eine neue Stadt zu gründen, dort unten am Fluss, wo man uns gefunden hat. Der Platz ist gut. Wir können die Hügel Palatin und Aventin in die Befestigung einbeziehen."

Numitor wies sie darauf hin, dass Alba Longa eine Stadt sei, wie man sich keine bessere denken könnte.

Aber die Zwillinge wünschten, eine eigene Stadt zu gründen, die ihren Namen bewahren sollte: „Wir haben viele Freunde, junge Leute, die gern etwas Neues anpacken. Latium ist so volkreich, dass wir noch eine Stadt mehr bauen können." Und Numitor erlaubte es ihnen in Erinnerung an das Orakel, das noch aus Aeneas' Zeiten überliefert worden war: einer aus dem teukrischen Geschlecht werde die mächtigste Stadt der Welt gründen.

Zum ersten Mal stritten sich die Brüder: wer von ihnen sollte über die Neugründung herrschen - und wo sollte ihr Mittelpunkt sein? Sie waren gleich alt, gleich stark und hatten beide eine große Schar von Anhängern. Auch der König wusste keinen Rat und sah dem Streit sorgenvoll zu. Da einigten sie sich, die Götter entscheiden zu lassen, und baten sie um ein Zeichen.

Auf dem Palatin stand Romulus, auf dem Aventin sein Bruder Remus, beide von ihren Freunden umgeben. Sie flehten die Götter an, den Streit zu schlichten, und erklärten sich bereit, sich dem himm­lischen Willen ohne Murren zu fügen. Da kam ein Zug von sechs Geiern geflogen und nahm seinen Weg gerade über den Aventin, und Remus rief: „Mir gilt es! Die Götter wählen mich!"

Aber schon nahte sich ein zweiter Zug, und mit Schaudern sa­hen die Menschen, dass es zwölf Geier waren, die den Weg über Romulus und den Palatin nahmen. „Mich meinen die Himmlischen!" schrie Romulus triumphierend. „Denn mir haben sie die doppelte Zahl gesendet."

„Aber meine waren früher da, und darauf kommt es an!" So stritten sie nun erst recht, und die Götter hatten mit ihrem zweifel­haften Spruch ins Feuer geblasen. Schließlich einigten sich die Brüder auf den Plan von Romulus und begannen, die Stadt um den Palatin herum festzulegen. Remus stand grollend dabei.

Romulus und die Seinen begaben sich eifrig ans Werk, sie hoben zunächst um das Gebiet der künftigen Stadt einen flachen Graben aus, der die Umrisse nachzeichnete, und das taten sie feierlich im Beisein des ganzen Volkes. Dann errichteten sie die Mauern, ehe sie an den Häuserbau gingen, denn Wälle und Mauern waren nötig, um den Besitz einer Stadt vor aller Augen zu behaupten. Die Mauern, und waren sie zunächst auch noch so niedrig, wurden den Göttern zum Schutz empfohlen, denn nur dann - das hatten schon die Grie­chen oft erfahren - konnte das neue Gemeinwesen gedeihen.

Remus beteiligte sich nicht am Mauerbau, sondern schaute finster zu, aber sein Bruder war viel zu eifrig an der Arbeit, um den Groll des anderen zu bemerken und ihn durch ein freundliches Wort zu versöhnen. Als Romulus sich aufrichtete und sich fröhlich den Schweiß von der Stirn wischte, stand Remus neben ihm, sah ihn spöttisch an und sprang plötzlich über die Mauer - hinein in das umfriedete Gebiet und wieder heraus. „So niedrig sind deine Mauern, und das soll eine Stadt werden!"

Da fasste eine Woge schwarzen Zorns den Bruder: „Du wagst es, meine Mauer zu entweihen!" Er griff zum Schwert, das neben ihm lag, schwang es gegen seinen Bruder, und lautlos sank Remus, zu Tode getroffen, zusammen. „So soll es jedem gehen, der es wagen wird, die Mauern meiner Stadt zu übersteigen!"

Dann aber verließ ihn die wilde Wut, und er kniete bei dem Bruder nieder, bitter weinend.

Dass er den Bruder totgeschlagen, bedrückte Romulus' Gemüt noch lange, und nie wieder wurde er der frische, unbekümmerte junge Mensch, der er an Remus' Seite gewesen war. Er ließ den Toten mit allen Ehren bestatten und übte noch lange die Herrschaft auch im Namen des Bruders aus, als ob der noch am Leben wäre.

Es wuchsen die Mauern der Stadt, die Zahl der Häuser und schö­nen Tempel. Rom sollte sie heißen. Die Bewohner waren fast alle junge Leute, Hirten-und Bauernsöhne, die auch jetzt ihrer alten Arbeit nachgingen, denn Rom lebte von seinen Bauern. Und um mehr Volk in die Stadt zu ziehen, errichtete Romulus eine Freistätte für alle Männer, die anders­wo verfolgt wurden, mochten sie unschuldig oder mit Schuld beladen sein: wer die eingezäunte Freistatt erreichte, war frei wie jeder andere Römer - so nannten sich die Bewohner nach der Romulusstadt - und wurde gleichberechtigt aufgenommen.

Ihr Kommentar