Im Kolosseum
Wir befinden uns mitten in der Arena. Alle Zuschauerränge sind voll besetzt. Jubel von allen Seiten. Ein Gladiator liegt, noch halb betäubt von dem Schlag auf seinen Helm, auf dem Rücken im Sand der Arena. Mühsam hebt er den linken Arm, den Zeigefinger ausgestreckt, um Gnade zu erbitten. Verschwommen kann er die Menschenmenge auf den Tribünen sehen. Unzählige Fäuste mit gesenktem Daumen strecken sich ihm entgegen. Die Zuschauer fordern den Tod des Gladiators und dieser Wille muss ausgeführt werden.
Während die Menge noch schreit und der Sieger mit einem Palmzweig stolz zu den Rängen hochwinkt, laufen zwei Männer in der Maske des Götterboten Merkur herbei und beugen sich über Getöteten. Es gibt Gladiatoren, die sich vorher verabreden, als würden sie nur so tun, als würden sie sich töten. Um ganz sicher zu sein hält einer der Männer ein glühendes Eisen an das rechte Bein des Jungen: Niemand, der den Tod simuliert, kann solchen Schmerz ungerührt ertragen. Die Männer können kein Lebenszeichen entdecken. Sie schleifen den Toten durch die Arena zum „Tor der Todesgöttin".
Inzwischen sind Sklavenjungen damit beschäftigt, den blutigen Sand zu beseitigen, neuen zu streuen, zu harken und die Arena für den nächsten Kampf vorzubereiten. Aber noch ist die Menge damit beschäftigt, den vorausgegangenen Kampf zu diskutieren und sich den Gewinn aus den Wetten, sofern man gewonnen hat, auszahlen zulassen. Zwischen den Reihen laufen Händler mit Bauchläden und rufen ihre Ware aus: Wasser, Wein, Brot, Früchte, Gebäck, Süßigkeiten.
Die Sitzordnung
Die Sitzordnung im Amphitheater spiegelt die Rangordnung in der römischen Gesellschaft wieder. Unten ganz nah an der Arena, befinden sich die besten Plätze. Hier, an der Nordseite, hat der Kaiser seine Loge, ihr gegenüber liegt die Ehrenloge des Stadtpräfekten und des Magistrats. Die Reihen des unteren Ranges sind reserviert für Senatoren, Würdenträger, den Klerus, den Adel und die Gäste des Kaisers: Könige, Fürsten und Botschafter aus den von Rom besetzten Ländern. Rom zeigt seine Macht.
Weiter oben befinden sich die Plätze für die Soldaten, getrennt von den Zivilisten, die sich wiederum teilen in verheiratete und ledige Männer. Hier sitzen auch die Schulklassen mit ihren Lehrern. Dieser Teil, bis hinunter zur Arena, ist den Männern vorbehalten, mit Ausnahme der Frauen aus der kaiserlichen Familie und den Vestalinnen, den Priesterinnen des Vesta-Tempels. Frauen und Mädchen haben ihren Sitzplatz im oberen Rang, darüber schließlich die Stehplätze, etwa 5000, für die Armen und Sklaven.
Die 50 Sitzreihen steigen in einem Winkel von 37 Grad an, sodass man von jedem Platz aus einen sehr guten Blick auf die Aren hat. Um die Zuschauer vor der sengenden Nachmittagssonne zu schützen, sind über die Tribünen durchscheinende Zeltplanen gespannte. Das Hissen des Zeltdachs ist keine einfache Sache, deshalb sind Matrosen von der Kriegsflotte, erfahren im Segelsetzen, mit dieser Aufgabe betraut. Weil die Sonnensegel unterschiedliche Farben haben, ist das Stadium in ein bunt schimmerndes, dämmriges Licht getaucht. Für angenehme und frische Luft sorgen Springbrunnen, deren Wasser mit Duftstoffen versetzt ist. Ein wichtiger Punkt bei der Konzeption des Amphitheatrum Flavium war die Sicherheit: Der Bau hat 80 Ein- und Ausgänge; einer davon ist reserviert für den Kaiser und sein Gefolge. 76 Eingänge sind numeriert, ebenso die Ränge und Sitzreihen. Diese Nummern stehen auch auf den Eintrittskarten und Einladungen, die vom Veranstalter der Spiele ausgegeben werden. So findet jeder der 50.000 Besucher mühelos seinen Platz - und kann, wenn nötig, das Stadium auf demselben Weg schnell wieder verlassen. Bei Gefahr ist es möglich, das Gebäude in weniger als einer halben Stunde zu räumen.
Bauweise
Die ersten Kampfarena waren nicht viel mehr als grobgezimmerte Tribünen. Mit der Zeit wurden die Holzbauten größer, aber auch komplizierter - und gefährlicher. Immer häufiger geschah es, dass eine Arena einstürzte, wegen falscher statischer Berechnungen, schlechten Materials, Pfusch und Schlamperei. Oder ein Feuer zerstörte den Bau, wobei allein durch die Panik Tausende zu Schaden kamen. Zu einer Katastrophe kam es, als 27 n. Chr. in Fidenae, nördlich von Rom, urplötzlich ein voll besetztes Amphitheater einstürzte. 50.000 Menschen wurden dabei getötet, oder verletzt. „Es war nicht weniger furchtbar als eine verlorene Schlacht in einem großen Krieg" schreibt der römische Historiker Tacitus in seinen „Annalen".
Der Senat erließ daraufhin spezielle Bauvorschriften für Amphitheater, die aber nach wie vor aus Holz errichtet wurden. Erst nach dem Brand im Jahr 64 n. Chr., während der Regierungszeit von Kaiser Nero, als Rom in Schutt und Asche lag, entschloss man sich, ein Amphitheater aus Stein zu bauen.
Auftraggeber war Kaiser Vespasian (Regierungszeit 69 - 79) aus dem Haus der Flavier; deshalb der Name Amphitheatrum Flavium. Als Standort wählte man den Park des „Goldenen Hauses", Neros ehemaligen Palast. Die Arbeiten begannen im Jahr 72. Zwei Jahre zuvor hatte Vespasians Sohn Titus den Jüdischen Krieg mit der Zerstörung Jerusalems beendet. Es gab also ausreichend Arbeiter; Tausende jüdische Kriegsgefangene schufteten auf der Baustelle - eine Teichmulde, die erst einmal trockengelegt werden musste.
Die Größe des ellipsenförmigen Prachtbaus ist eine Herausforderung: 188 Meter lang, 156 Meter breit und 48,5 Meter hoch. Das Fundament ist neuen Meter tief. Die unteren Bogenpfeiler, die den Bau tragen, sind 2,40 mal 2,70 Meter stark. Insgesamt 400.000 Tonnen Steinmörtel halten das Mauerwerk zusammen. Die Wände und Sitzbänke sind mit Marmor verkleidet oder aus Travertin, einem weißen Kalkstein. Die ovale Arena ist 86 Meter lang und 54 Meter breit. Der Boden besteht aus schweren Holzbrettern, die mit Sand bedeckt sind. Darunter befinden sich Lagerräume, Waffenkammern und die Zellen für die Gladiatoren, Kriegsgefangenen und die zum Tode verurteilten Kriminellen. Gleich daneben die Ställe für die wilden Tiere - Löwen, Leoparden, Panter, Bären und zum Töten abgerichtete Hunde. Bei den Tierkämpfen werden sie mit handgetriebenen Aufzügen in die Arena befördert.
Eine Besonderheit dieses Amphitheaters: Die Arena lässt sich durch ein Kanalsystem in einen See verwandeln; die Bodenbretter werden entfernt und der Keller unter Wasser gesetzt. So kann man dem Publikum auch Seeschlachten bieten mit kleinen Kriegsschiffen, deren Besatzungen gegeneinander kämpfen, auf Leben und Tod. Dass niemand auf die Idee kommt, sich mit einem Sprung ins Wasser zu retten - dafür sorgen Krokodile. Sie umkreisen hungrig die Schiffe und schnappen sich die Verwundeten, die über Bord fallen.
Im Jahr 80 ist der Bau so weit hergestellt, dass Vespsians Sohn und Nachfolger, Kaiser Titus, das Amphitheater mit großem Gepränge einweihen kann. Die Feierlichkeiten dauern 100 Tage, in denen 5000 Tiere in der Arena getötet werden. Die Zahl der getöteten Gladiatoren ist unbekannt, aber wir wissen, dass bei anderen Festen 4.000 oder 5.000 Männer ihr Leben lassen. Kaiser Trajan (Regierungszeit 98- 117) lässt während eines Triumph-Festes 11.000 Tiere töten und 10.000 Gladiatoren kämpfen.
Ablauf
Die Vorstellungen im Amphitheater beginnen am frühen Vormittag, in der Regel mit Tierhatzen. Die professionellen Tierkämpfer haben eine Ausbildung und wissen sich gut zu wehren. Doch die meisten Kämpfer sind Kriegsgefangene und verurteilte Kriminelle - untrainiert, ohne jede Erfahrung.
Um das Publikum nicht mit Grausamkeiten zu übersättigen, bietet das Programm auch artistische Darbietungen, Pantomimen, Darstellungen aus der Mythologie, oder man führt Tiere aus fernen Ländern vor: Elefanten, Nashörner, Hyänen, Zebras, Giraffen.
Absoluter Höhepunkt sind jedoch die Gladiatorenkämpfe am Nachmittag. Der Auftritt der Gladiatoren ist jedes Mal ein glanzvolles Ereignis. Sie marschieren in langer Prozession in schimmernden Rüstungen unter dem Klang von Fanfaren und Tuben in die Arena vor die Loge des Kaiser. Sie heben des rechten Arm und grüßen ihn. „Ave, Imperator, morituri te salutant!" „Sei gegrüßt, Imperator, die Todgeweihten grüßen dich!"
Der Pomp sollte nicht täuschen. Ein großer Teil der Gladiatoren sind Verbrecher, die ad ludum, zum Spiel, verurteilt und in Gladiatorenschulen trainiert wurden. Immerhin besteht für sie die Möglichkeit, nach drei Jahren frei zu sein - falls sie diese Zeit überleben. Es gibt auch einige Freiwillige; sie hoffen, durch spektakuläre Siege Ruhm und Anerkennung zu gewinnen; aber nur den wenigsten gelingt der soziale Aufstieg. Die Mehrzahl der Gladiatoren sind Kriegsgefangene.
Nach dem Untergang des römischen Imperiums
Nach dem Untergang des römischen Imperiums wird es ruhig im Amphitheatrum Flavium, das nun auch Kolosseum genannt wird. Erdbeben fügen ihm Risse zu, Teile des Baus stürzen ein. Aber es ist noch stark genug, um Obdachlosen und kleinen Handwerkern Unterkunft zu bieten. Man benutzt es auch als Steinbruch, in dem sich Arme und Reiche bedienen. Papst Nikolaus V. lässt 1452 mehr als 2500 Wagenladungen Steine, Marmor und Statuen für Bauten im Vatikan herausschaffen. Erst als Papst Benedikt XIV. im Jahr 1744 ein Kreuz in der Mitte der Arena errichtet, haben die Plünderungen ein Ende.