Ehre und Treue
Keine Tugend war für den Germanen so wichtig wie die Ehre. An ihr maß er alles, was er tat oder unterließ. Die Ehre war für ihn das geistige Gegenstück zu Boden und Besitz. Verlor er sie, so hatte er im Grunde alles verloren. Dies galt aber nicht nur für ihn allein, sondern auch für die ganze Sippe. Wurde die Ehre des Einzelnen gekränkt, so war dadurch auch die Ehre der Sippe verletzt. Dann musst Gut und Leben aufs Spiel gesetzt werden, um die Ehre wieder herzustellen. Heldenlied und Saga künden davon. Die Erhaltung der Ehre forderte daher Willenskraft und Selbstüberwindung, Mut und Tapferkeit. Der Einsatz war hoch, aber der Gewinn größer. Er gab das Gefühl des Glücks, des Friedens. Ehre und Friede waren die Summe des Lebens.
Das Wort Treue war gleichbedeutend mit Vertrag. Treu war der Gefolgsmann gegenüber dem Gefolgsmann, der Knecht gegenüber dem Herren, die Frau gegenüber dem Mann. Das einmal freiwillig und in feierlicher Form gegebene Wort, das man unter den Schutz der höheren Wesen gestellt hatte, war eine bindende Macht, es schloss im Fall des Eidbruches die Selbstverfluchung in sich und brachte Schande für die ganze Familie. Geradezu angeboren war die Treue gegenüber der Sippe. Hier bedurfte es keines Vertrages oder Versprechens.
Aber die Schattenseite von Treue war ebenfalls eine ausgeprägte Eigenschaft der Germanen. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus weist auf diese Beharrlichkeit im Schlechten, auf Rechthaberei, Eigensinn und Verbissenheit hin:
»Das Würfelspiel betreiben sie, was Verwunderung erregt, nüchtern wie eine ernste Angelegenheit und mit solcher Verwegenheit im Gewinnen und Verlieren, dass sie, wenn alles dahin ist, auf den allerletzten Wurf Freiheit und Leben setzen. Der Verlierende geht ohne Widerspruch in die Knecht¬schaft. Wenn er auch jünger, wenn er auch stärker ist, lässt er sich fesseln und verkaufen. Solcher Starrsinn herrscht in einer verwerflichen Sache. Sie selbst nennen das Treue.«
Man gab das Treueversprechen dort, wo man Vertrauen in den Gegenüber hatte. Wo aber der Germane den Betrüger argwöhnte, da fühlte auch er keine bindende Verpflichtung, da hielt er es für erlaubt, Trug mit Untreue zu bezahlen. In einem solchen Verhältnis befand er sich oft den Römern gegenüber. Daher liest man bei den bei den lateinischen Schriftstellern auch wiederholt den Vorwurf der perfidia, der Treulosigkeit.