Der Tod des Sokrates
Sokrates war ein großer Philosoph, ebenso verehrungswürdig im Leben wie im Sterben. Wie kam es nur dazu, dass ihn der Gerichtshof von Athen zum Tode verurteilte? Sein berühmtester Jünger, der Philosoph Platon, hat es aufgeschrieben:
Die alten Griechen waren erfüllt vom Glauben an Götter, die die Welt regieren, das Gute belohnen und das Böse bestrafen. Wie konnte man aber den Willen der Götter erfahren, wenn man vor Entscheidungen stand und nicht wusste, was zu tun richtig war? In solchen Fällen wallfahrten sie gern zum Heiligtum des Lichtgottes Apollon in Delphi oder nach einer andern Tempelstätte, um bei den Priestern Rat zu holen; denn sie dachten: die Priester haben Zugang zu den Göttern und können sie befragen.
Nun aber wandelte seit Jahren Sokrates über den Markt und die Turnplätze von Athen, knüpfte da und dort ein Gespräch an und ermutigte alle Menschen, ihrem eigenen Denken und Gewissen zu vertrauen; denn, so sagte er: auch in uns selber wohnt ein göttliches Wesen, das uns lehrt, was wahr und falsch, recht und unrecht ist, wir müssen nur auf diese Stimme achten und sie befolgen. Viele nahmen seine Mahnung ernst; andere aber schimpften: Was ist das für ein neuer Gott, dieses „göttliche Wesen“ in uns? Sokrates verleugnet die alten Götter und verführt die Jugend zu einem falschen Glauben! So wurde er schließlich vor Gericht gezogen. Es war im Jahre 399 vor Christus.
Der siebzigjährige Greis, an dem niemand je eine unheilige Handlung beobachtet hatte, rechtfertigte sich selbst und sprach:
Ihr Männer von Athen! Ich habe getan, was mir Gott als Pflicht auferlegt hat: mein Leben lang nach Erkenntnis zu trachten und mich selbst und andere Leute zu prüfen. Ich glaube an die Götter mehr als irgendeiner meiner Ankläger und lebe in tiefer Armut, weil ich Gott diene. Denn ich treibe, wie ihr wohl wisst, nichts anderes, als dass ich unter euch herumgehe und Alten und Jungen wie ein Vater oder älterer Bruder zurede: Sorget zuerst für eure Seele und erst dann für euren Leib und für Geld und Gut! Das befiehlt mir Gott, ich versichere euch, und geschieht zu eurem Glück. Trotzdem ist es wohl möglich, dass euch diese Belästigung verdrießt - wie Menschen, die eingenickt sind, wenn man sie aufweckt - und dass ihr mich deshalb aus der Welt schafft, worauf ihr den Rest eures Lebens im Schlafe zubringen werdet, wenn Gott sich euer nicht erbarmt und euch einen neuen Erwecker schickt. Tut, wie ihr wollt, sprecht mich frei oder nicht! Die göttliche Stimme in meinem Innern hätte mich längst gewarnt, wenn ich auf falschem Wege wäre. Sie hat es aber nie getan. Und so werde ich auch nicht anders handeln, selbst wenn ich viele Male dafür sterben müsste.
Das Gericht schwankte; 281 von 500 Geschworenen erklärten den greisen Denker aber doch für schuldig wegen „Verletzung der Frömmigkeit“, und so wurde das Todesurteil über ihn verhängt. Sokrates nahm das Urteil in vollkommener Seelenruhe entgegen. Er stand da, ohne zu zittern, und sprach mit unveränderter Stimme:
Ich bin sicher, dass einem guten Menschen nichts Schlimmes widerfahren kann, weder im Leben noch im Tode, und dass sein Schicksal den Göttern nicht gleichgültig ist. Darum zürne ich weder meinen Anklägern noch meinen Richtern, die mich verurteilt haben. Und so wollen wir denn hingehen, ich um zu sterben und ihr um zu leben. Wessen Los aber das bessere ist, weiß nur Gott.
Man führte ihn ins Gefängnis. Freunde, die ihn dort noch besuchen durften, wollten ihn zur Flucht überreden; alle Vorbereitungen waren schon getroffen. Sokrates aber hielt es für seiner unwürdig, das Gesetz zu verletzen, um dem Tode zu entrinnen. Er tröstete die weinenden Freunde und sprach mit ihnen über die Unsterblichkeit der Seele. Dann ließ er sich ruhig den Giftbecher reichen und trank ihn aus mit heiterem Angesicht.