Die Floßfahrt

Der 1877 in dem an der Nagold gelegenen Schwarzwald­städtchen Calw geborene Schriftsteller Hermann Hesse hat in seiner Jugend noch die Flößerei erlebt und später in der folgenden kleinen Erzählung geschildert:

 

Durch meine Vaterstadt im Schwarzwald floss ein Fluss, ein Fluss, an dem damals nur erst ganz wenige Fabriken standen, wo es viele alte Mühlen und Brücken, Schilfufer und Erlengehölze, wo es viele Fische und im Sommer Mil­lionen von dunkelblauen Wasserjungfern gab. Es ist mir unbekannt, wie sich die Fische und die Wasserjungfern zwischen dem zunehmenden Zementgemäuer der Ufer und den zunehmenden Fabriken gehalten haben, vielleicht sind sie noch immer da. Vermutlich längst verschwunden aber ist etwas, was es damals auf dem Flusse gab, etwas Schönes und Geheimnisvolles, etwas Märchenhaftes, etwas vom Allerschönsten, was dieser schöne sagenhafte Fluss besaß: die Flößerei. Damals zu unseren Zeiten, wurden die Schwarzwälder Tannenstämme den Sommer über in gewaltigen Flößen alle die kleinen Flüsse bis nach Mannheim und zu­weilen noch bis nach Holland hinunter auf dem Wasser be­fördert, die Flößerei war ein eigenes Gewerbe, und für je­des Städtchen war im Frühjahr das Erscheinen des ersten Floßes noch wichtiger und merkwürdiger als das der ersten Schwalben.

Ein solches Floß (das aber auf Schwäbisch nicht „das Floß" hieß, sondern „der Flooz") bestand aus lauter langen Tannen- und Fichtenstämmen, sie waren entrindet, aber nicht weiter zugehauen, und das Floß bestand aus einer größeren Anzahl von Gliedern. Jedes Glied umfasste etwa acht bis zwölf Stämme, die an den Enden verbunden wa­ren, und an jedem Glied hing das nächste Glied elastisch, mit Weiden gebunden, so dass das Floß, war es auch noch so lang, mit seinen beweglichen Gliedern sich den Krüm­mungen des Flusses anschmiegen konnte. Dennoch pas­sierte es nicht selten, dass ein Floß stecken blieb, eine auf­regende Sache für die ganze Stadt und ein hohes Fest für die Jugend. Die Flößer, wegen ihres Missgeschicks von den Brücken herab und aus den Fenstern der Häuser vielfach verhöhnt, waren wütend und hatten fieberhaft zu arbeiten, wateten schimpfend bis zum Bauch im Wasser, schrien und zeigten die ganze berühmte Wildheit und Rauhigkeit ihres Standes; noch ärgerlicher und böser waren die Müller und Fischer, und alles, was am Ufer sein Leben und seine Ar­beit hatte, namentlich die vielen Gerber, rief den Flößern Scherzworte oder Schimpfworte zu. War das Floß unter ei­nem Schleusentor steckengeblieben, dann trabten und schimpften die Müller ganz besonders, und es gab dann zu­weilen für uns Knaben ein besonderes Glück: das Flussbett rann eine Strecke beinahe leer, und unterhalb der Wehre konnten wir dann die Fische mit der Hand fangen, die brei­ten, glänzenden Rotaugen, die schnellen, stacheligen Bar­sche und etwa auch ein Neunauge.

Die Flößer gehörten offensichtlich zu den Unsesshaften, Wilden, Wanderern, Nomaden, und Floß und Flößer wa­ren bei den Hütern der Sitte und Ordnung nicht wohlgelit­ten. Umgekehrt war für uns Knaben, sooft ein Floß er­schien, Gelegenheit zu Abenteuern, Aufregungen und Konflikten mit jenen Ordnungsmächten. So wie zwischen Müllern und Flößern ein ewiger Krieg bestand, in dem ich stets zur Partei der Flößer hielt, so bestand bei unseren Lehrern, Eltern, Tanten eine Abneigung gegen das Flößer­wesen, und ein Bestreben, uns mit ihm möglichst wenig in Berührung kommen zu lassen. Wenn einer von uns zu Hau­se mit einem recht unflätigen Wort, einem meterlangen Fluch aufwartete, dann hieß es bei den Tanten, das habe man natürlich wieder bei den Flößern gelernt. Und an manchem Tage, der durch die Durchreise eines Floßes uns zum Fest geworden war, gab es väterliche Prügel, Tränen der Mutter, Schimpfen des Polizisten. Eine schöne Sage, die wir Knaben über alles liebten, war die von einem klei­nen Buben, der einst wider alle Verbote ein Floß bestiegen und damit bis nach Holland und ans Meer gekommen sei und erst nach Monaten sich wieder bei seinen trauernden Eltern eingefunden habe. Es diesem Märchenknaben gleichzutun, war jahrelang mein innigster Wunsch.

Weit öfter, als mein guter Vater ahnte, bin ich als kleiner Bub für kurze Strecken blinder Passagier auf einem Floß gewesen. Es war streng verboten, man hatte nicht nur die Erzieher und die Polizei gegen sich, sondern meistens auch die Flößer. Schöneres und Spannenderes gibt es für einen Knaben nicht auf der Welt, als eine Floßfahrt. Denke ich daran, so kommt mit hundert zauberhaften Düften die gan­ze Heimat und Vergangenheit herauf. Ein vorüberfahren­des Floß besteigen konnte man entweder vom Laufsteg ei­nes Schleusentors, einer sogenannten „Stellfalle" aus - das galt für schneidig und forderte einigen Mut, oder aber vom Ufer aus, was oft gar nicht schwierig war, aber doch jedes­mal mit einem halben oder ganzen Bad bezahlt werden musste. Am besten noch ging es an ganz warmen Sommer­tagen, wenn man ohnehin sehr wenig Kleider und weder Schuhe noch Strümpfe anhatte. Dann kam man leicht aufs Floß, und wenn man Glück hatte und sich vor den Flößern verbergen konnte, war es wunderbar, ein paar Meilen weit zwischen den grünen stillen Ufern den Fluss hinunterzufah­ren, unter den Brücken und Stellfallen hindurch.

Während des Fahrens aber, wenn nicht gerade ein Flö­ßer freundlich war und einen auf einen Bretterstoß setzte, bekam man sehr bald die Unbilden des beneideten Flößer­handwerks zu kosten. Man stand unsicher auf den glitschi­gen Stämmen, zwischen denen das Wasser ununterbrochen herauf spritzte, man war nass bis auf die Knochen, und wenn es nicht sonderlich sommerlich war, fing man stets bald an zu frieren. Und dann kam der Augenblick näher, wo man das rasch fahrende Floß wieder verlassen musste, es ging gegen den Abend, man schlotterte vor nasser Küh­le, und man war bis in eine Gegend mitgefahren, wo man die Ufer nicht mehr so genau kannte wie zu Hause. Nun galt es, eine Stelle zu erspähen und unverweilt mit raschem Entschluss zu benützen, wo ein Absprang ans Land möglich schien - meistens gab es in diesem Augenblick nochmals ein Bad, auch war es oft gefährlich, und hie und da passier­te ein Unglück; auch mir ist bei diesem Anlass einstmals der Schauder der Todesgefahr bekannt geworden.

Und wenn man dann glücklich wieder an Land war, Erde und Gras unter den Füßen hatte, dann war es weit, zuweilen sehr weit nach Hause zurück, man stand in nassen Schuhen, nassen Kleidern, man hatte die Mütze verloren, und nun spürte man nach dem glitschigen Stehen auf den nassen Baumstämmen eine Schwäche in den Waden und Knien und musste doch noch eine Stunde oder zwei oder mehr zu Fuß laufen, und alles nur, um dann von schluch­zenden Müttern, entsetzten Tanten und einem todernsten Vater empfangen zu werden, welche dem Herrn dafür dankten, dass er wider Verdienst den entarteten Knaben hatte heil entrinnen lassen.

Schon in der Kindheit war es so: man bekam nichts ge­schenkt, man musste jedes Glück bezahlen. Und wenn ich heute nachrechne, in was das Glück einer solchen Floß­fahrt eigentlich bestand, wenn ich alle Beschwerden, An­strengungen, Unbilden abziehe, so bleibt wenig übrig. Aber dieses wenige ist wunderbar; ein stilles, rasch und er­regend ziehendes Fahren auf dem kühlen, laut rauschen­den Fluss, zwischen lauter spritzendem Wasser, ein traum­haftes Hinwegfahren unter den Brücken, durch dicke, lan­ge Gehänge von Spinnweben, träumerische Augenblicke des Versinkens in ein unsägliches Gefühl von Wanderung, von Unterwegssein, von Entronnensein und Indiewelthineinfahren, mit der Perspektive zum Neckar und zum Rhein und nach Holland hinunter - und dies wenige, diese mit Nässe, Frieren, mit Schimpfworten der Flößer, Predig­ten der Eltern bezahlte Seligkeit wog doch alles auf, war doch alles wert, was man dafür geben musste. Man war ein Flößer, man war ein Wanderer, ein Nomade, man schwamm an den Städten und Menschen vorbei, still, nir­gends hingehörig, und fühlte im Herzen die Weite der Welt und ein sonderbares Heimweh brennen. O nein, es war gewiss nicht zu teuer bezahlt.

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