Tulla und die Rheinbegradigung

Ein Beitrag von Franka Paul

In meinen Texten für die Schülerinnen und Schüler habe ich mich stark von dem Buch Die Eroberung des Raums. Zum Geographieunterricht in der Klassenlehrerzeit (Band 1: Klasse 4 und 5) von Gunter Keller und Hans-Ulrich Schmutz anregen lassen, das zur weiterführenden Lektüre sehr empfohlen sei. 

Johann Gottfried Tulla wurde 1770 in Karlsruhe geboren und sollte wie sein Vater Pastor (Pfarrer) werden. Doch in der Schule zeigte sich seine Begabung für Mathematik und Physik und da der Markgraf von Baden die neuen Wissenschaften (Naturwissenschaften) fördern wollte, wurde auch Tulla gefördert. Er lernte nicht nur Mathematik, Trigonometrie und Geometrie, sondern auch, wie man eine Landkarte erstellt und Baupläne zeichnet. So kam es, dass Tulla viele Jahre vom Land Baden unterstützt wurde und man seinen Lernweg genau beobachtete.

Die Herrscher von Baden verfolgten die Idee, den Rhein zu begradigen. Man stellte sich vor, dass es weniger Hochwasser geben würde, wenn der Rhein in einem tiefen Hauptbett fließen würde, statt sich ständig neue Wege zu suchen. Viele Dörfer waren im Laufe der Zeit durch das Hochwasser überflutet oder gar ganz weggespült worden. Die Menschen legten zwar hier und dort Gräben an, durch die das Hochwasser abfließen konnte und sie bauten Deiche, also Erdwälle, die das steigende Wasser aufhielten. Aber den Rhein konnten sie dadurch nicht bändigen.

Durch die Rheinbegradigung versprach man sich nicht nur einen Hochwasserschutz, sondern auch neues Ackerland für die Bauern. Die Rheinbegradigung würde ein sehr großes und schwieriges Projekt werden und sie konnte nur von jemandem geplant werden, der sich sehr gut mit Wasserbau auskannte.  

Als Tulla die Schule beendet hatte, wurde beschlossen, dass er das Ingenieurswesen studieren sollte, also alles was damals mit Technik zu tun hatte. Mit 24 Jahren begab er sich auf eine mehr als zweijährige Reise durch Europa. Auch dieses Unterfangen wurde vom Land Baden finanziert, obwohl die Staatskassen durch zahlreiche Kriege fast leer waren. Man kann also erahnen, welche Hoffnungen man in Johann Gottfried Tulla setzte. Tulla kam so nach Hamburg, nach Skandinavien, nach Böhmen und nach Sachsen. Überall nahm er das neueste Wissen seiner Zeit begierig auf. Besonders viel lernte er in den Niederlanden. Die Niederlande, die man auch Holland nennt, haben ihren Namen von ihrer Landschaft: Es gibt dort kaum Berge, dafür viel flaches Land, in dem der Rhein sein Delta bildet, bevor er in die Nordsee mündet. In den Niederlanden lernte Tulla viel über den Wasserbau: Über die Kraft des Wassers, über seine Strömungen und Fließgeschwindigkeit, über Uferbefestigungen, Schleusen und Pumpanlagen.

Ob Tulla auch tüchtig gelernt habe, wollten seine Geldgeber nach der Reise von ihm wissen und man bestellte ihn zu einem Examen ein, das er mit großem Erfolg bestand. Tulla wurde nun nach Frankreich geschickt, um sich dort mit seinen französischen Kollegen auszutauschen. Das war wichtig, da ja der Rhein auch an Frankreich grenzte und man, wenn man den Rhein begradigen wollte, mit Frankreich zusammenarbeiten musste. Tulla konnte in dieser Zeit lernen, wie man Arme von Flüssen stilllegte und sumpfige Gebiete entwässerte und vieles mehr. Auch durch einen Aufenthalt in der Schweiz, dem Geburtsland des Rheins, erweiterte Tulla seinen Erfahrungsschatz: Dort half er bei der Begradigung der Linth, eines kleinen Flusses von etwa 40 Kilometer Länge.

Schließlich schrieb Tulla in einer Denkschrift seine Ideen über die Rheinbegradigung nieder. Das war 1812, als Tulla 42 Jahre alt war. Die Gedanken, die er dort aufschrieb, waren revolutionär, also für viele Menschen unvorstellbar. Tulla wollte nämlich den ganzen Oberrhein, also von Basel bis Mainz in ein einziges, ungeteiltes Flussbett zwängen, das ungefähr 200 – 250 Meter breit sein sollte. Dadurch würde der Rhein schneller fließen, da ja die gleiche Wassermenge einen kürzeren Weg zurücklegen müsste. Dies würde dazu führen, dass der Rhein sich tiefer in sein Flussbett eingraben und es nicht mehr wechseln würde. Er würde weniger oft bei Hochwasser über seine Ufer treten, vor allem, wenn man an beiden Uferseiten Deiche baute. Dadurch würden die sumpfigen und feuchten Auen trockener und Land gewonnen werden.  Auch würde der Rhein für größere Schiffe befahrbar und zu einer großen Wasser- und Handelsstraße werden. 

Natürlich war es nicht leicht, so ein gewaltiges Vorhaben umzusetzen und es sollte Jahrzehnte dauern, bis der Rhein begradigt werden würde. Auch veränderte man später Tullas Pläne. Trotzdem war es eines der größten Bauvorhaben, die jemals in Deutschland in Angriff genommen wurden. Der Oberrhein wurde von 345 km auf 270 km gekürzt, über 2200 Inseln wurden entfernt und 240 km Deichstrecke gebaut.

Besonders spannend war, ob das, was man sich ausgedacht und geplant hatte, auch tatsächlich eintrat. Wollte man zum Beispiel einen Mäander abschnüren, um einen kürzeren Weg zu erhalten, so grub man zunächst einen neuen Graben, der ungefähr 20 Meter breit war. Dann wurde das Wasser in den Graben geleitet, so dass sich der Fluss sein neues Flussbett selber graben konnte. Anschließend befestigte man das neue Ufer mit Faschinen (gebündelten Ästen) und schüttete die Verbindungen zum alten Flusslauf zu. Das Wasser im alten Fluss wurde somit zum Altwasser, also zu einem Stillgewässer, das nicht mehr floss. Zusammen mit anderen kleinen Seen und Tümpeln in der Nähe des Rheins bildete es nun eine Auenlandschaft. Die Arbeit war unglaublich schwer. Das lag vor allem daran, dass die Menschen noch wie im Mittelalter arbeiten mussten, nämlich mit Schaufel, Hacke, Spaten, Eimer und Pferden.

Einer der ersten Durchstiche des Rheins erfolgte zwischen Knielingen und Eggenstein (bei Karlsruhe). Während die Knielinger protestierten, begrüßten die Eggensteiner die Maßnahme, die den bedrohlichen Fluss in eine sichere Entfernung verlegte. Und so war es häufig: Während sich das eine Dorf über die Begradigung des Rheines freute, weil es ihm Sicherheit vor Hochwasser und neues Land brachte, konnte es sein, dass ein Dorf auf der anderen Seite Land verlor und der Rhein für es gefährlicher wurde. So gab es immer Gewinner und Verlierer und nur, wer sich einen Gesamtüberblick über die Rheinbegradigung verschaffte, konnte ihren wirklichen Nutzen verstehen.

Aber die Rheinbegradigung hatte auch unschöne Folgen, die die Menschen erst im Laufe der Zeit bemerkten: Inseln und Seitenarme des Rheines gingen verloren, die Auenlandschaften verkleinerten sich und damit hatten Fische, Insekten, Vögel und andere Tiere, aber auch viele Pflanzen weniger Lebensraum. Viele Fischer und Vogelfänger verloren ihren Beruf. Und noch ein weiterer Beruf konnte nicht mehr ausgeübt werden, der des Goldwäschers. Das Rheingold war berühmt. Gold gelangte aus den Schweizer Alpen in den Rhein und wurde von ihm nach Norden getragen. Die kleinen Goldkörner lagerten sich in den Kiesbänken des Flusses ab. Das geschah vor allem immer dann, wenn der Rhein leichtes Hochwasser hatte, das nur langsam abfloss. Da sich durch die Begradigung und die schnellere Strömung das Gold jedoch kaum noch ablagern konnte, mussten viele hundert Goldwäscher ihr Handwerk aufgeben.

Johann Gottfried Tulla starb 1828 in Paris. Für sein Werk war er vielfach geehrt und zum Ritter geschlagen worden. Die Bauarbeiten zur Rheinbegradigung gingen noch bis 1865 weiter. - In den vergangenen Jahrzehnten hat man an verschiedenen Stellen versucht, dem Rhein etwas von seiner ursprünglichen Gestalt zurückzugeben. Man nennt das Renaturierung.

Die Kraft des menschlichen Geistes: Am Beispiel von Johann Gottfried Tulla sehen wir, wie lange ein Mensch lernen muss, um sich an eine so große Aufgabe wie die Begradigung des Rheins heranzuwagen. Was muss ein Mensch alles können, um große Veränderungen zu bewirken? Er muss nicht nur viel wissen und können, sondern auch Fantasie haben, einen gesunden Menschenverstand, er muss eigenständig wahrnehmen, denken und urteilen können. 

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