Aus der Poetik-Epoche der Klasse 10

Ein Beitrag von Herrn Ostermai (Deutschlehrer an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe - Stuttgart)

Der Sprachbau als Kunstwerk *) - dieses Empfinden in den Schülern zu wecken ist ein Hauptziel des Poetikunterrichts in der 10. Klasse. Dazu bringen die Jugendlichen gute Voraussetzungen mit: Seit Beginn ihrer Waldorf-Schulzeit sprechen die Kinder mit ihren Lehrern Verse und Gedichte; die Bilder und Klänge formen ihren Bildekräfteleib und wandeln sich über die Jahre hinweg zu einem natürlichen Gefühl für Rhythmus und sprachliche Qualität. In der 10. Klasse muss nun dieses Sprachgefühl lediglich „aktiviert" werden, um dann in Verbindung mit der eigenen Kreativität die schönsten Früchte tragen zu können.

Für die Schüler selbst ist die direkte Auseinandersetzung mit der Sprache eine Herausforderung: Auf der einen Seite entwickeln sie mit dem Eintritt in das Reifealter ihren eigenen Sprachstil - der sich oft erst einmal durch eine gewisse Derbheit der Ausdrucksmittel äußert -, auf der anderen Seite erwacht in ihnen nun auch der Sinn für die Schönheit der Sprache. Zusammen mit dem seit Kinderjahren aufgenommenen reichen Schatz deutscher Dichtung ergibt sich so die Möglichkeit die eigene Sprache von innen heraus neu zu bilden. Dabei steht, dem Entwicklungsstand des Zehntklässlers entsprechend, das persönlich-seelische Element stark im Vordergrund: Wie kann ich das, was mich innerlich beschäftigt und bewegt, am treffendsten in Worte fassen? Ging es in der 9. Klasse noch um das Aneignen von Kenntnissen - dementsprechend stand im Sprachunterricht die Grammatik, also die Sprache als Regelwerk, im Mittelpunkt - so richtet sich der Blick nun auf die Erkenntnis, auf das bewusste Erfassen des Wesens der Dichtkunst.

Dass dieser Weg hin zu einem erkennenden Verständnis der Sprache nicht über den schier unüberwindlichen Berg trockener Theorie führen kann, scheint einleuchtend. Deshalb steht an dieser Stelle die Eigentätigkeit der Schüler im Mittelpunkt des Unterrichtgeschehens. Kaum eine Epoche bietet den Schülern derart die Möglichkeit selbst kreativ zu arbeiten. Im Umgang mit der eigenen Muttersprache ist jeder (mehr oder weniger) geübt und so sind der eigenen Sprachphantasie kaum Grenzen gesetzt. Für die etwas zurückhaltenderen Schüler kommt erleichternd hinzu, dass in der ungebundenen Sprache das lyrische Schaffen sich gänzlich frei machen darf von einengenden Regeln und Gesetzen. Niemand hat das Recht zu kritisieren, ohne gefragt zu sein! Natürlich werden auch die theoretischen Grundlagen besprochen; das Schwergewicht liegt jedoch im persönlich Umgang mit der Sprache.

Im Folgenden sollen einige Beispiele aus dem Unterricht der Klasse 10b einen kleinen Einblick gewähren in das kreative Schaffen der Schüler.

*) Titel eines Buches von Erika Dühnfort über den Grammatikunterricht

 

Als Einstieg bietet sich aufgrund seiner strengen Formgebundenheit der japanische Haiku an - ein dreizeiliger Kurzvers a 5-7-5 Silben:

Der Vogel zwitschert
Darunter raschelts im Laub
Dort - eine Schlange.

HENRIKE

 

Die Sonne lacht hell,
Der Regen ist trüb und schnell
Ach, bleib doch bei mir.

MARLIS

 

Ein Reh im Frühling
Es liegt da und schläft sich aus
Bald kommt der Frühling.

JULIA

 

Birken wehn im Wind
Vögel zwitschern im Geäst
Sommer überall.

MAXIMILIAN

 

Die Bienen summen
Ein greiser Mann singt leise.
Der Kirschbaum blüht still.

JUDITH

 

Ursprünglich wurde der Haiku von den Zen-Mönchen zur meditativen Beschreibung von Naturstimmungen verwendet; es sind aber durchaus auch andere Inhalte möglich:

Entsetzte Augen.
Trüber, stumpfer Blick.
Die Welt stirb langsam.

HANNAH

 

Anschließen lässt sich der ebenfalls japanische Tanka, dem auf den oben genannten Obervers ein zweizeiliger, jeweils 7-silbiger Untervers folgt:

Der Wind bläst so wild
Der Regen prasselt nieder
Alles ist ganz still.
Die Welt wie ausgestorben.
Der Geist in der Seele ruht.

SILVIA

 

Weit ist der Morgen.
Ich schaue dich an
Deine Augen sind traurig .
Wohin blickest du?
Mein Ruf erreicht dich nicht mehr
Warum hörest du mich nicht?

CHRISTIANE

 

Dunkel ist die Nacht;
Silberner Mond am Himmel -
Er naht unendlich langsam.
Hell erleuchtet der Morgen.

SEBASTIAN

 

Wann eigentlich kann man von „poetischer Sprache" sprechen? Die verschiedenen Sprachschichten in ihrem Erscheinungsbild und ihrer Wirkung auszuloten war der Zweck der Übung, zwei inhaltlich identische Briefe einmal in gehobener und einmal in trivialer Sprache zu verfassen:

 

1) Gehobene Sprache:

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin!
Ich möchte mich von ganzem Herzen für die Einladung zu diesem wunderbaren Abend bedanken. Nicht nur die köstlichen Speisen, die uns nach interessanten Gesprächen sehr wohl bekamen, sondern auch ihr herrliches Kleid, das, so reich mit Perlen bestickt, ihrem edlen Charakter Ausdruck verlieh, war vollkommen. Ich hätte es mir nie träumen lassen, an einem solchen Feste teilnehmen zu dürfen. Ich war im Übrigen sehr erfreut, dass mit mir noch viele andere Menschen meines jungen Alters diesem Fest beiwohnten. Es war überaus aufschlussreich, von den verschiedenen Natur- und Umweltschutzaktionen hören zu dürfen. Der Höhepunkt der Veranstaltung war in jedem Fall ihre Rede, mit der Sie so deutlich machten, dass der Umweltschutz ein wichtiges Thema in den nächsten Gemeinderatsitzungen werden muss. Dafür möchte ich Ihnen nochmal mein Lob und meine Anerkennung zuteil werden lassen.

Mit Hochachtung...

PAUL

 

Sehr verehrte, hochwohlgeborene Frau Hagen!
Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie mit diesem Brief aufhalte, jedoch ist es mir ein tiefes Verlangen mich für den gestrigen Abend bei Ihnen zu bedanken. Ich glaube, es ist nicht zu viel gesagt, wenn ich mir anmaße den gestrigen Abend als einen der wundervollsten Abende meines bescheidenen Lebens zu bezeichnen. Nachdem mir das kostbare, einfach bezaubernde Mahl eine rechte Gaumenfreude war, komme ich nicht umhin zu erwähnen, welche Befriedigung meine Seele durch Ihre Worte fand. Wie bewandert Sie auf dem Gebiet der Umwelt sind, löst noch immer tiefe Bewunderung in mir aus. Doch all dies scheint nichtig, verzeihen Sie meine Direktheit, wenn man in den Genuss ihrer wundervollen Erscheinung gelangt. Ich muss Sie also nicht nur für Ihren Witz und Ihre Sachkenntnis zu Themen wie Umwelt bewundern, sondern gleichermaßen für Ihren ausgewählten Geschmack - Ihre Garderobe unterstrich Ihre Persönlichkeit vortrefflich! - und Ihre sehr gelungene Wahl des Ambientes, verfeinert durch zarte klassische Klänge. So verneige ich mich in tiefer Ergebenheit, Verehrung und Bewunderung und verbleibe

Mit freundlichen Grüßen, Ihre...

JUDITH

 

2) Triviale Sprache:

Hallo Frau Bürgermeisterin!
Wie geht 's Ihnen so, nach dem ewigen Abend gestern? Also, ich hab erstmal fett ausgepennt. War aber schon echt lustig, der Abend. Ging Ihnen wahrscheinlich voll auf die Kohle, aber das muss ja auch mal sein. Das Essen war voll lecker und cool fand ich auch, dass noch ein paar so Umweltfreaks kamen. Mit manchen konnte man ganz gut labern, aber der eine mit dem Riesendets ging mir tierisch auf'n Sack. Die Mucke am Ende war mega rockig. Echt gut, aber der Hammer waren natürlich Sie bei der Rede in dem Hammer-Hammer-Kleid! Das Beste war aber immer noch der Nachtisch. Boah, da ging's ab wie Schnitzel. Na ja, also sowas könnten Sie ruhig mal öfters machen. Kommt gut an.

Machen Sie's gut. Ciao...

CAECILIA

 

Eigene lyrische Tätigkeit setzt die Fähigkeit voraus, in sich Stimmungen erzeugen oder zumindest nachempfinden zu können. So bekamen die Schüler die Aufgabe ein möglichst sinnenfrohes Stimmungsbild zu entwerfen. Thema: Auf dem Promenadendeck eines Kreuzfahrtschiffes.

 

Auszüge:

... Wogen von Eindrücken schwappen mir entgegen. Ich sehe die Gischt wie eine Spur hinter dem Schiff herziehen. Delphine folgen uns. Schlagendes Tonwerk, es klingt wie bezaubernde Musik zu einem gigantischen Film. - Dunst am Horizont und ich schmecke die salzige Feuchte der Luft. Langsam taste ich mich an der Reling vor, Sonnenuntergang im Westen, die Sonne erglüht ersterbendem der Reling vor, Sonnenuntergang im Westen, die Sonne erglüht ersterbend. Der Schrei einer Möwe zerreißt die bezaubernde Stille. Ich spüre einen Rostfleck unter meinen tastenden Fingern, der sich auf der Reling gebildet hat. Der Wind schlägt um...

SEBASTIAN

 

Der Dampfer „Solveig" bahnt sich seinen Weg aus dem Hafen und macht sich auf den weiteren Verlauf seiner Reise nach fernen Ländern. Der Himmel ist bedeckt und grau vom herannahenden Regen. Die Passagiere haben sich ins Innere des Schiffes zurückgezogen und lauschen gespannt der leisen Jazzmusik des Bordpianisten. Draußen auf dem Deck ist es menschenleer. Kein Laut ist in der Luft. Nur ab und zu hört man das entfernte Kreischen einer Möwe, die weit entfernten Schiffsirenen und das herannahende Donnern des Gewitters. Wie ein Spannungsbogen zieht sich die Zeit, bis endlich der Regen die herrschende drückende Schwüle erlöst...

VERA

 

... Ich schmecke das Meer. Durch Mund und Nase dringt es in mich ein, höhlt mich von innen aus - brennend und befreiend zugleich. Mit jedem Atemzug nehme ich es in mich auf. Ich fülle meine Lungen mit dem stechenden Geruch von Tang, dem beißenden Geruch von Fisch und dem Duft des Windes. Das Tosen der Wellen sprengt meine Ohren - unaufhaltsam rollt es über mich hinweg und gibt nicht nach. Und da stehe ich zwischen Himmel und Meer, nur durch die Reling am Davonfliegen gehindert, übervoll vom Geschmack und Geruch des Wassers, durch das Brausen der Wogen für alles andere taub. Und ich stehe wie im Morgengrauen der urersten Anfänge: blind, taub, unendlich klein. Taumelnd vor Ohnmacht und Staunen; überwältigt und meiner Sinne beraubt.

HANNAH

 

Sprachliche Verständigung eignet nur dem Menschen, durch sie unterscheidet er sich vom Tier. Sprache gibt uns die Möglichkeit das auszudrücken, was uns innerlich bewegt. In der Poesie wird der sprachliche Ausdruck schließlich zur Kunstform erhoben, Sprache wird nun bewusst gestaltet. Neben der eigenen Fähigkeit sich auszudrücken entwickelt sich damit auch ein Empfinden für die Qualität sowohl geschriebener als auch gesprochener Sprache. Durch die eigene Schreibtätigkeit lässt sich für manchen Schüler in dieser Epoche die Freude am Umgang mit der deutschen Sprache entdecken - und manchmal auch eine ganz neue, unverhoffte Begabung!

Ihr Kommentar