Zur „Spiegelgeschichte" im Unterricht
Ein Beitrag von Markus Martin (Lehrer an der Freien Waldorfschule Engelberg)
Der 11. Klasse - der gilt in der Regel im Fach Deutsch die Waldorf-Leib und Magen-Epoche „Parzival". Denn der „Parzival" ist ja auch die Geschichte einer Inauguration, einer Einweihung, aber die Einweihung in was? Und es geht dabei nicht um Päpste, Universitätsdirektoren oder copy-and-past-Dissertationen, sondern um Schüler und, wie es das Wort sagt, um „Auguren", um Kenner der Zukunft.
Nur ist die Zeit, zu denen aus dem Vogelflug Zukunft vorhergesagt wurde, doch vorbei - Parzival ist nur noch von Trauer ergriffen, als er der Schönheit der zum Tode verurteilten Vogelstimmen lauscht. Und Siegfried (aus dem Nibelungenlied) konnte nach dem Kontakt mit dem Blute des Drachen Fafnir die Sprache der Vögel zwar noch verstehen - aber dieser „tumbe" Held, wie ihn heute viele sehen, war der erforderlichen Rückversicherung gegenüber den neuzeitlich sich ankündigenden Wechselfällen des menschlichen Zusammenlebens noch nicht gewachsen - seine Zeit sollte hinterrücks ablaufen.
Parzival aber, ebenfalls zunächst ein „tumber" Junge, lernt dazu. Er blickt nach außen, er blickt nach vorne, er blickt nach oben und - er blickt nach innen. Und „innen" findet sich die Lösung: Was bin ich, woher komme ich, was ist aus mir geworden, wie bin ich es geworden?
Es ist das „nach innen blicken", auch das „rückwärtsblicken", auch das „in den Spiegel blicken", den Spiegel der eigenen Persönlichkeit. Ilse Aichinger hat 1949 eine „Spiegelgeschichte" geschrieben, die sofort bei ihrer Vorstellung 1952 ohne große Diskussion den Preis des Literatenclubs „Gruppe 47" erhielt.
Diese kurze Erzählung handelt von einer jungen Frau, die ihre Lebensgeschichte in der Du-Perspektive rückwärts erzählt - von ihrem zu Beginn der Erzählung soeben eingetretenen Tod über eine unglückliche Liebesgeschichte bis hin zu ihrer Geburt: sprachlich vertrackt und bewundernswert, denn es wird nicht nur ein Film rückwärts erzählt, sondern sprachlich mit der Erzähllogik jongliert. Ein Beispiel für den Beginn ihrer Liebesbeziehung: „ Ihr seht Euch nur mehr selten, aber noch immer seid ihr einander nicht fremd genug. Wartet, seid geduldig. Eines Tages wird es soweit sein. Eines Tages ist er dir so fremd, dass du ihn auf einer finsteren Gasse vor einem offenen Tor zu lieben beginnst."
Oder ein Beispiel aus der Kindheit der Erzählerin: „Die fremden Sprachen hast du schon gelernt, doch so leicht bleibt es nicht. Deine eigene Sprache ist viel schwerer. Noch schwerer wird es sein, lesen und schreiben zu lernen, doch am schwersten ist es, alles zu vergessen. Und wenn du bei der ersten Prüfung alles wissen musstest, so darfst du doch am Ende nichts mehr wissen. Wirst du das bestehen? Wirst du still genug sein? Wenn du genug Furcht hast, um den Mund nicht aufzutun, wird alles gut." Ein vertrackter Satz (vor allem, wenn man ihn auf das Schweigen Parzivals hin interpretiert).
Und am Ende, also zu Beginn, steht in der „Spiegelgeschichte" die Geburt: Die Erzählerin lässt die die Tote Umstehenden des Erzählanfangs sagen: „Es ist zu Ende - sie ist tot!" und antwortet mit dem Recht derer, die das letzte Wort haben: „Still! Lass sie reden!" Das Gralsmotiv aus dem Parzival klingt an - der Phönix aus der Asche - und markiert das Ende der „Spiegelgeschichte". Denn „was hatten die Ritter, die in der Burg des Heiligen Gral waren, für eine Aufgabe? Nicht Eroberungen zu machen, nicht äußeren Besitz zu erringen, nicht Ländereien sich anzueignen war die Aufgabe der Ritter vom Heiligen Gral; ihre Aufgabe war, die Eroberung des Seelenlebens zu machen. (...) [Und] hat die menschliche Seele sich heraufgefunden zu Gott, dann steigt der Gott zu ihr herab. Das ist das Geheimnis des Grales selbst."
Edgar Ende (T 930) Der Schlittschuhläufer, Copyright: VC Bild'+Kunst, Bonn 2074
Über die weite, graue Fläche des Himmels glitt ein Schlittschuhläufer dahin, kopfunter, mit wehendem Wollschal. Er konnte das, denn der Himmel war zugefroren. Mit tropfenden Nasen und offenen Mündern sah die Menschenmenge von der Erde aus zu, zeigte nach ihm hinauf und applaudierte bisweilen, wenn ihm ein besonders schwieriger (natürlich umgekehrter) Sprung gelungen war. Er lief in weiten Bögen und Schleifen, immer wieder die gleichen Figuren, bis sich die Spur seines Laufs in den Himmel gekratzt hatte. Jetzt zeigte es sich , dass es Buchstaben waren, eine dringende Botschaft vielleicht. Dann glitt er davon und verschwand fern hinter dem Horizont. Die Menschenmenge starrte zum Himmel hinauf, aber keiner kannte das Alphabet, keiner konnte die Schrift entziffern. Langsam verschwand die Spur, und der Himmel war wieder nur eine weite graue Fläche. Die Leute gingen nach Hause und hatten bald den ganzen Vorfall vergessen. Jeder hat schließlich seine eigenen Sorgen und außerdem: Wer weiß, ob die Botschaft wirklich so wichtig war".
aus: Michael Ende: „Spiegel im Spiegel"
Im Unterricht haben wir die „Spiegelgeschichte" mit ihren vertrackten Sätzen gelesen. Und Schüler haben versucht, solche „Spiegelgeschichten" selbst zu schreiben. Nicht ganz einfach: der Blick vorwärts im Rückwärts. Die Einweihung in das Innen im Außen. Zwei sprachlich höchst bewundernswerte, aber auch in ihrer Authentizität beeindruckende Beispiele (aus vielen anderen ebenfalls gelungenen!) sollen hier vorgestellt sein.
Edgar Ende (1933): Die Schläfer (Die Gefallenen), Copyright: VC Bild+Kunst, Bonn 2014
Schuldig
Da stehst du und siehst dir selbst in die Augen. Ungewöhnlich siehst du aus mit den schwarzen Rändern unter ihnen. Am rechten Rand kannst du einen Fensterrahmen erkennen, der das fahle Licht eines verregneten Morgens auf dein nicht gemachtes Bett in der anderen Ecke regnen lässt. Es ist zerwühlt und die Hälfte der Bettdecke liegt auf dem Boden, unter ihr kannst du gerade noch deinen schwarzen Rock und die weiße Bluse hervorlugen sehen, dir wird schlecht bei dem Anblick und dein Blick wandert in das untere linke Eck. Eine Zeitung liegt dort auf dem Boden, eine Zeitung, die einen Artikel beinhaltet, einen Artikel über dich. Wieder spürst du dieses Ziehen im Magen und du fragst dich, ob es jemals wieder aufhören wird, ob du jemals wieder vergessen wirst.
Ein letztes Mal siehst du dir in deine verzweifelten Augen, die Augen, die zu dem Mensch gehören, den du am meisten verachtest, der dich anwidert, und wendest dich ab. Alles ist vorbereitet, nichts wird schief gehen, du musst es nur noch tun. Und während du dir immer wieder vor Augen führst warum, tust du es. Dann siehst du wieder deine Augen im Spiegel, denkst an deine Entscheidung und legst dich in dein zerwühltes Bett, damit du erschöpft und schuldig im Dunkeln wieder aufwachst. Dann kannst du beobachten, wie die Sonne im Westen aufgeht und wenn sie ihren Höhepunkt erreicht hat, auf den Friedhof scheint, sie scheint dich zu verhöhnen. Denn dort kniest du vor dem frischen Grab, dein Rock breitet sich um dich aus, den Rock, den du vom Boden vor deinem frisch gemachten Bett aufgelesen hast. Du kniest da und weinst, um die Tat zu bereuen, die du noch nicht begangen hast.
Hab Geduld, auch das wird noch kommen und du wirst froh sein, es schon vorher bereut zu haben, auch wenn du es bis dahin nicht mehr wissen kannst. Du stehst auf, um zu beobachten, wie sich die Angehörigen beim Vikar für sein Kommen bedanken und er daraufhin den Burschen befiehlt, den Sarg auszugraben, immerhin ist er nicht umsonst gekommen, der Vikar. Er beginnt seine Rede mit der Verabschiedung und wenn er am Anfang angelangt ist, überlegt er sich schon, wie er sie am besten zu Ende bringt.
Doch zu was das alles, er wird sie nie zu Ende bringen, denn sie tragen den Sarg fort, fort vom offenen Grab, alle folgen ihnen, alle bis auf dich. Du stehst da in Erwartung, wie das Begräbnis verlaufen wird, wie sie dich anschauen werden, die Leute. Du stehst da, mit Angst erfüllt vor dem, was sie denken, die Leute. Dann gehst du, es ist egal geworden, was sie denken, du bist entschlossen. Mit zunehmender Entschlossenheit gehst du zu deinem Auto, fährst zu deinem Haus, schließt die Türe auf und hängst den schwarzen Rock und die Bluse ordentlich in den Schrank zurück.
Dann sitzt du schon wieder im Auto, du fährst die Straßen hinauf und hinab, musst vor Ampeln stehen bleiben, um zu warten, bis sie rot werden, trinkst einen Kaffee auf der Einkaufsmeile, bevor du ihn bezahlt hast und trägst die Einkaufstüten aus dem Laden, bevor du dich in der Kassenschlange vorne anstellst, obwohl Du eben schon bezahlt hast.
Langsam leeren sich die Straßen und die Luft riecht frischer, es ist morgens, die Läden schließen während die Sonne untergeht.
Du legst dich schlafen, obwohl du nicht die kleinste Müdigkeit verspürst, hab keine Angst, sie wird kommen, wenn du wieder aufwachst. Und sie kommt, sie treibt dich in die Verzweiflung, du wachst auf mit zerwühlten Gedanken und schläfst mit noch zerwühlteren wieder ein, bis du so erschöpft bist, dass kein Schlafmittel mehr wirkt. Plötzlich weißt du, dass du es tun musst, dass dir kein anderer Ausweg bleibt, dass du nicht vergessen wirst. Langsam stehst du auf, wie betäubt, und hast deinen Entschluss in diesem Moment schon wieder vergessen. Das Essen hat dir nicht geschmeckt, auch wenn du es mit so viel Liebe zubereiten wirst, bis du bemerkst, dass du nur kochen willst, um abgelenkt zu sein, abgelenkt zu sein von der knallenden Türe und dem hereintretenden Mann.
Edgar Ende (T 946): Der dunkle und der helle Engel, Copyright: VC Bild+Kunst, Bonn 2014
Er sieht dich entsetzt an und erteilt dir eine Abfuhr, schon bevor er überhaupt wissen kann, warum er dich verlässt, denn du erzählst es ihm erst später. Aber du weißt es, du weißt warum, du willst nur nicht daran denken. Bei der Polizei bist du schon gewesen, sie haben schon geurteilt, nur auf sein Urteil wartest du noch, was wird geschehn in den drei Tagen, die sie dir gegeben haben, bis die Beerdigung vorbei ist, was wird er tun? Du hast schon vergessen, dass er dich verlassen wird, du hoffst auf Verständnis und ein offenes Ohr.
Heute sind es noch 4 Tage, du fühlst dich grauenvoll, weil du ihm noch nichts erzählt hast, immer wieder sagst du ihm, es ginge im Moment nicht so gut, und in dem Moment, in dem er dich fragt, was mit dir los sei, überlegst du dir, was du antwortest. Der ewige Kreis scheint sich nicht zu schließen, wieder und wieder rennst du zu deinen Gefühlen und nimmst dir vor, davon wegzurennen. Du streitest dich mit deinen Freunden und deiner Familie, bevor ihr euch bei einer Begrüßung versöhnt und liebst den Mann, vor dem du alles verschweigst. Du verabscheust diese verzwickte Situation während sie sich lockert, während du vergisst, was geschehen wird. Bis zu dem Moment, in dem du im Polizeiwagen sitzt und aus der Scheibe hinaus auf das kleine, blutverschmierte Gesicht vor deinem rechten Wagenrad starrst. Einer der Polizeibeamten zerrt dich aus dem Auto und dreht dich gewaltsam mit dem Kopf an den Wagen, um dir deine Handschellen abzunehmen. Dann begleitet er dich zu deinem eigenen Wagen und lässt dich stehen.
Bewegungsunfähig siehst du den kleinen zierlichen Körper auf der Straße liegen, in deinem Unterbewusstsein nimmst du verschwommen die Sirene des Polizeiautos wahr, sie verlassen dich, sie überlassen dich deinem Entsetzen. Dann rennst du gerade von diesem getrieben zu deiner Autotür, steigst ein und verspürst einen unangenehmen Stoß, das Kind rennt vor deinem Wagen davon auf den Gehweg, an den Zebrastreifen. Mit rasender Geschwindigkeit und dem Glück und den Schmetterlingen einer frisch Verlobten im Bauch fährst du weg von deinem Opfer, weg von deinen Problemen, die du schon längst wieder vergessen hast. Hin zum Licht.
Du öffnest deine Augen zaghaft, geblendet von weißem, unangenehm kalten Licht und siehst in einen Spiegel, er hängt über dir an der Decke, du siehst schlimm aus, dein Gesicht ist kreidebleich. Du fragst dich, wo du bist, wo die Stimmen herkommen, die dich bedrängen, wo die Hand herkommt, die deine festhält. Das Licht wird immer heller, du kannst Gesichter erkennen. In dem Moment weißt du, dass es dir nicht gelungen ist, es ist dir nicht gelungen das Vergessen zu erzwingen, dir ist jemand zuvor gekommen, die Gerechtigkeit. Sie fordert deine Strafe, ist es nicht genug Strafe, dass du noch lebst? Vorsichtig drehst du deinen Kopf, da steht der Mann, der dich gerade eben noch verlassen hat, du erinnerst dich wieder. Er lächelt dich an. Langsam drehst du deinen Kopf in die andere Richtung, das Grün seiner Uniform macht dir Angst, auch er lächelt dich an, der Vertreter der Gerechtigkeit. Du weißt warum, er hat, was er will und du hast lebenslänglich.
Zurück in den Himmel
Als ich noch ein kleiner Junge war, erzählte mir mein Vater immer vor dem Einschlafen Geschichten über die Sterne, den Himmel, Gott und die Engel. Dann lag ich wie jetzt in meinem Bett, starrte an die Decke und stellte mir die Kassiopeia und den großen Bären am dunkelblauen Nachthimmel vor. Nur bin ich nun um sechzig Jahre älter und am Ende meines Lebens angekommen.
Mein Vater hat immer gesagt, ich solle froh sein, dass ich noch so klein und neu auf dieser Welt bin, so hätte ich noch eine unsichtbare Nabelschnur zum Himmel, wie ganz am Anfang im Bauch meiner Mutter. Und ein wenig schwermütig fügte er noch hinzu, ich sollte diese Gaben, nachts in meinen Träumen nochmals an das Himmelstor zurückkehren zu können, genießen und auskosten, denn sie verschwände mit der Zeit des Lebens und am Ende gälte dann nur noch die Einäscherung oder der Sarg. Er hatte recht. Diese Gabe verschwindet und der Ernst des Lebens und somit all seine Tücken kommen und bleiben bis zuletzt. Einäscherung. Ich wollte es so, vielleicht kann meine Seele so noch den letzten Weg finden.
Das Feuer brennt, ich erhebe mich langsam und steige aus dem Sarg, wie aus einem Zug, und werde, von trauernden Menschen umgeben, als wäre ich eine zerbrechliche Kostbarkeit, zurückgetragen in ein vollkommen weißes Zimmer. Ich werde in ein ungemachtes Bett gelegt, Schläuche und Herzschrittmacher werden an mich angeschlossen, alle weinen, ich sehe sie und will sie trösten, aber sie können mich einfach nicht verstehen. Ich bin ratlos, mir geht es jeden Tag besser und trotzdem trauern sie.
Edgar Ende (1948): Das Spiegelbild (Der Taucher)
Copyright: VC Bild+Kunst, Bonn 2014
Irgendwann rolle ich rückwärts in ein mir auf eigenartige Weise bekanntes Zimmer. Es ist gemütlicher und ich sehe meine Kindeskinder, wie sie gehen, bevor sie reinkommen, jedes Mal mit einer Blume, die die Krankenschwester doch einen Tag zuvor in den Müll geschmissen hat. Und mir geht es besser, ich werde jünger und lebendiger, ich gehe spazieren, sehe den schon platt getretenen Schnee, wie er sich, wie die warme Luft vom Himmel angezogen, auf den Weg zur Kassiopeia macht und sich bald mit den Sternen am Himmel vermischt. Immer mehr Laub finde ich auf den Straßen und statt Schlitten ziehen die Kinder nun Drachen hinter sich her, bis sich auch wieder jedes Blatt wie durch Zauberhand vom Boden löst und seinen Platz am Ast eines Baumes einnimmt.
Mit der Färbung der Blätter halte ich ein kleines witzelndes Menschenwesen in den Armen, dass vor wenigen Stunden noch älter war als jetzt und ich gehe glückselig mit einem Blumenstrauß aus dem Haus meiner Tochter.
Edgar Ende (l 933): Zwiegespräch, Copyright: VG Bild+Kunst, Bonn 2014
Die Sonne zieht höhere Kreise und es wird wärmer. Ich werde jünger und meine Schmerzen im Herz werden weniger und das Gefühl immer stärker, bald wieder einen sehr geliebten Menschen in meinen Armen halten zu dürfen, aber dieser Gedanke ist schmerzhaft.
Bis ich mich vor einem Grab stehen sehe, der Sarg wurde herunter gelassen, bevor ich ihre Lieblingsblumen, die Blume des Frühlings, das Schneeglöckchen, auf ihren Sarg gelegt habe und meine Kinder mich stützend langsam wieder zurück nach Hause bringen, wo meine Frau schon aufgebahrt auf mich wartet, obwohl sie doch schon längst begraben ist. Ihre Seele kommt wieder herab aus dem Himmel und beginnt zu atmen. Sie lebt, sie lebt! Ich verschlucke meine eigenen Worte, aber die anderen weinen wieder nur und ich verstehe die Welt nicht mehr. Sie lebt und so der fürchterliche Krebs in ihr, aber sie weiß ja nicht, was ich weiß, dass sie gesund wird, noch in diesem Jahr.
Bis dahin geht noch oft abends die Sonne im Westen auf und morgens im Osten unter und mit ihr schneit es wieder und der Schnee verwandelt sich in Regen, der wie von einem unglaublichen Sog in das Nichts verschwindet. Die Blätter färben sich und der Sommer ist vorbei, bevor er beginnt. Unsere Kinder arbeiten schon, obwohl sie noch nie eine Schulbank gedrückt haben und ich gehe Rad fahren, das erste Mal und es fühlt sich an, als würde ich schon immer Rad fahren.
Die Kinderziehen bei uns ein und lernen für ihren Abschluss, den sie schon längst haben und ehe ich mich versehe, rauschen die Jahre an mir vorbei, ohne dass ich mich besinnen kann und die Welt verändert sich. Sie teilt sich, wir können unsere Freunde im Osten nicht mehr besuchen, obwohl wir doch noch in den Herbstferien bei ihnen waren. Wir müssen damit leben und die Wut auf die Regierung lässt nach, uns geht es noch gut.
Wir leben nun in der DDR, die Kinder kommen in den Kindergarten, ich werde immer glücklicher und eines Tages erzählt mir meine Frau, dass sie schwanger ist, obwohl ich es doch schon seit Monaten weiß. Der Frühsommer geht und wieder kommt der Frühling, wie immer. Zu diesem Zeitpunkt heirate ich eine mir sehr vertraute Frau, die ich über alles liebe. Schrecklicherweise entfremden wir uns immer mehr und irgendwann kennen wir uns nicht mehr.
Ich gehe zur Schule, fahre Mofas, ohne es je gelernt zu haben und sitze brav im Unterricht, um dann in der Frühe schnurgerade nach Hause laufen zu können, um mich in mein noch warmes Bettchen zu kuscheln. Die Zeit vergeht und ich denke abends an die Kassiopeia und den großen Bären, von denen mir mein Vater am nächsten Tag erzählen wird. Und ich darf wieder an das Himmelstor und bald darauf werde ich hereingelassen in die großen Hallen des Himmels. Hier bekomme ich einen Stern und kann von ihm herunter auf die Welt schauen und sehe meine Kinder und Kindeskinder an meinem Grab stehen. Auf dem Grabstein steht geschrieben: Wir trauern um unseren Vater und Opa, der nun wieder im Himmel ist, der Heimat seiner Seele. Ich bin tot und beginne zu leben.