Avatar Nibelung 3.0 - das Theaterprojekt der 10. Klasse
Ein Beitrag von Martin Carle (Rudolf Steiner Schule Berner Oberland, Schweiz)
Warum regte Rudolf Steiner für die 10. Klasse an, sich im Deutschunterricht mit dem Nibelungenstoff zu beschäftigen? Und wie kann der Inhalt im Unterricht für heutige SchülerInnen lebendig werden? Diese Fragen beschäftigten mich im Frühjahr 2014 und lange Zeit fand ich keine befriedigende Antwort darauf. Sicher, die Sage ist spannend und weist eine gehörige Mischung von „Sex and Crime" auf. Erwachsenenwerdung, Abenteuerlust, Heldentum, Leben in der Fremde, Liebe, Treue, Eifersucht, Betrug, Verrat, Hass, Rache und Mord sind „ewige" Motive, über die man mit Jugendlichen in diesem Alter immer allgemein sprechen kann. Aber würden sie sich auch wirklich innerlich vom „Unterrichtsstoff" betroffen" fühlen? Allein schon die Textgrundlage des Nibelungenliedes ist ein Hindernis: 2376 vierzeilige Strophen in 39.Kapiteln auf fast 400 eng bedruckten Seiten, in altertümlichen Mittelhochdeutsch, das kaum zu verstehen ist. Man braucht also noch einmal 400 Seiten für die hochdeutsche Übersetzung. Was auswählen, was thematisieren, wie die Jugendlichen berühren?
Da war es ein Glücksfall, dass einige SchülerInnen der damals noch 9. Klasse fragten, ob ich in der 10. Klasse ein künstlerisches Projekt mit ihnen machen könnte. Wie so oft kam mir auf dem Fahrrad zur Arbeit die richtige Idee: Wir verlegen den Nibelungenstoff in die virtuelle Welt aktueller Computerspiele und zeigen auf der realen Ebene heutige Jugendliche, die gemeinsam „gamen" und parallel dazu in ihrer Clique dieselben Themen erleben. Noch war die Idee unausgereift, aber die SchülerInnen liessen sich abends am Lagerfeuer der Klassenfahrt begeistern. Das Projekt konnte starten. Zunächst einmal musste das Kollegium überzeugt werden, dafür Zeit, Raum, praktische Unterstützung und Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. In den Sommerferien schrieb ich ein paar Szenen, um den SchülerInnen zeigen zu können, wie die Idee drehbuchtechnisch umgesetzt werden könnte und organisierte vom Kanton Bern über den Kulturfonds weitere finanzielle Unterstützung (insgesamt 3.000 Franken).
Nach den Sommerferien hatte sich bei einem Teil der Klasse aber zunächst einmal die Stimmung gedreht. Es wurden Bedenken geäussert gegen den riesigen Aufwand, den solch ein Projekt bedeuten würde, bei dem alles - angefangen vom Text bis zur Technik - selbst gemacht werden müsste und das auf Kosten von regulärem Unterricht gehen würde. Es brauchte einige Zeit und viele Klassen- und Einzelgespräche, damit alle sich wieder bereit erklärten, das Projekt zu unterstützen. In der anschliessenden Deutschepoche wurde der Sagenstoff behandelt, wir lasen Auszüge aus dem Originaltext, analysierten Sprache und Sprachentwicklung, charakterisierten die Protagonisten, wählten aus der atemberaubenden Fülle von Handlungssträngen und Figuren die wichtigsten aus und unterhielten uns immer wieder über obige Motive.
Wir teilten das Schreiben des Textbuches auf, es gab kleine Gruppen, die die Texte der Jugendlichen Gamer schrieben, andere entwickelten die Szenen der Computeravatare. Noch bevor das Textbuch fertig war, wurden Organisationsgruppen gebildet, die sich um den Entwurf, die Planung und Umsetzung von Bühne, Kulisse, Musik, Video- und Filmeinspielungen sowie der aufwändigen Technik kümmerten. Ziel war auch hier, die grösstmöglichste Selbstständigkeit der SchülerInnen zu fordern und zu fördern. Und sie sollten ordentlich auf ihre Belastbarkeit getestet werden, denn all dies fand parallel zu oder zwischen den anderen Projekten der 10.Klasse statt: Bauernhofpraktikum, Florenzreise, Zehntklassarbeit....
Im Februar begann eine erste intensive Phase mit der professionellen Regisseurin. Für die Jugendlichen war es ein Erlebnis, mit einem Schauspielprofi arbeiten zu dürfen und zu merken, dass der noch etwas trockene und spröde selbstgeschriebene Text nun anfing beim Spielen lebendig zu werden. Nun konnten sie sich erst richtig vorstellen, wie man Computerfiguren spielen konnte, wie sich reale und virtuelle Welt durchdringen würden. Gleichzeitig konnten die TextbuchschreiberInnen in Zusammenarbeit mit der erfahrenen Schauspielerin erleben, wie ihr Text noch zusammengestrichen, verändert, ergänzt und „theatertauglich" gemacht werden musste. Noch vor den Frühlingsferien wurden 3 geplante Videos mit Hilfe eines externen Filmregisseurs gedreht, dies gab besonderen Stress für die Kostümgruppe, denn die Kostüme mussten dadurch schon frühzeitig fertig werden.
Die drei letzten Probenwochen vor der Aufführung wurden wieder durch die Regisseurin angeleitet, diesmal auf der inzwischen aufgebauten Bühne im Galoppschopf und sie erforderten alle Kompetenzen und Kräfte der SchülerInnen. Es wurde geschauspielert, musiziert, getanzt und zwischendurch immer wieder an der Bühne, den Kostümen und der Technik verbessert.
Die Aufführungen wurden für die SchülerInnen sicherlich zu einem der emotionalen Höhepunkte ihrer Schulzeit: manche Träne floss schon vor der letzten Aufführung, weil ihnen klar wurde, welche einmalige, unwiederbringliche Erfahrung nun bald zu Ende gehen würde.
Das Projekt war mit den Aufführungen und dem Bühnenabbau nicht abgeschlossen. Im Unterricht ging es anschliessend daran, die gesammelten Erfahrungen schriftlich auszuwerten. Die SchülerInnen schätzten ihre eigenen erbrachten Fach-, Sozial- und Individualkompetenzen ein und erstellten über mehrere Tage ein individuelles Portfolio, indem sie u.a. folgende Fragen reflektierten: In wie weit habe ich mich in meinen verschiedenen Tätigkeitsbereichen engagiert, welche Selbständigkeit habe ich dabei gezeigt, wie war mein Zeitmanagement, sah ich selbst, welche Arbeit es zu tun gab oder handelte ich erst nach Auftrag durch den Lehrer, wie ging ich mit persönlichen Ängsten, sachlichen Problemen oder gruppendynamischen Konflikten um, war ich in der Lage, Tipps oder Feedbacks durch Mitschüler oder Lehrer aufzugreifen...?
Die Erfahrung, ein so umfassendes Projekt mit all ihrem Können erfolgreich im Team umgesetzt zu haben, wird die SchülerInnen sicherlich noch lange begleiten. Und einige werden wohl Nibelungenmotiven auf ihrem weiteren Lebensweg in Realität begegnen. Vielleicht wird es ihnen dann ähnlich wie Dietrich von Bern in der Sage möglich sein, sich über den anscheinend ewigen Kreislauf von Aktion und Reaktion, Gut und Böse, Unschuld und Schuld zu erheben und sich für freie moralische Taten zu entscheiden, die die Welt ein kleines bisschen voranbringen.
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