Eine Erzählung zur Erfindung des Schwarzpulvers
BRUDER BERTHOLDS IRRTUM
von Arno Erich Corvis
„So ein Blö-lödsinn“, murmelte Frater Bertholdus vor sich hin, nach der dritten und letzten ihm vom Prior genehmigten Maß Lorettoberger nicht mehr ganz Herr seiner Zunge und seiner Beine, als er aus dem Refektorium leicht schwankend seiner Zelle zustrebte, „diese Tüf-Tüv-Tüfteleien rauben einem noch den, hupp, gesunden Me-Menschenverstand!“
„Du sagst es, Bruder!“ bekräftigte Frater Lambertus, sein bester Freund und Bundesgenosse, der ihm bei spitzfindigen scholastischen Erörterungen wie der gerade beendeten – nein, beendet konnte man nicht sagen, denn ein Ende gab es nicht für Dispute dieser Art, also: der wieder einmal erfolglos abgebrochenen Disputation – mit pfiffigen Argumenten stets treu zur Seite stand und ihn noch nie im Stich gelassen hatte.
Mit gegenseitigem herzlichem Schulterklopfen und lautstarkem Gähnen wünschten sie einander eine gute Nacht, bevor sie in ihren Zellen verschwanden, um sich schlafen zu legen.
Frater Bertholdus fand aber noch lange keinen Schlaf, obwohl er andachtsvoll seine Nachtgebete gesprochen und sich bekreuzigt hatte, wie es die Ordensregel des Hl. Franziskus von Assisi vorschrieb. Zu sehr schwirrte ihm noch der Kopf von all den Reden und Gegenreden, von denen der sonst so stille Konventssaal widerhallt hatte. Wie hatten sie sich die Köpfe heißgeredet, sogar bei der Abendmahlzeit nach dem Angelusläuten war es im Refektorium weitergegangen. Der Wein, dem mancher reichlich zugesprochen, hatte die Gemüter bis zum Siedepunkt erhitzt. Und welch hochgelahrter Unsinn wurde zusammengeschwätzt! Irgendwann war Bertholdus es leid, weitere Argumente einzubringen. Es war sinnlos, da eigentlich niemand die Probleme zu lösen vermochte. Er hatte, die Ellbogen breit auf den Tisch gestützt, zusammen mit Lambertus den köstlichen Wein genossen, der vor Freiburgs Toren auf dem Lorettoberg wuchs.
Doch auch dieses Vergnügen war nur relativ. Er seufzte. Seit der letzten großen Klosterbesäufnis hatte der Prior Pater Ambrosius den Wein für die Mönche streng rationiert. Nachdem an jenem denkwürdigen Tage die schlimmsten Katersymptome bei den meisten der frommen Brüder abgeklungen waren, hatte er sie alle in den Konventsraum beordert und ihnen folgende Standpauke gehalten:
„Meine lieben Brüder in Christo, so geht es nicht weiter! Gott hat uns den Wein gegeben, damit wir Seine Herrlichkeit preisen, nicht aber, damit wir uns sinnlos besaufen und hernach uns am Boden in unserem Unrat wälzen wie die Schweine! Gott hat uns Menschen nach Seinem Ebenbilde geschaffen. Wenn wir uns gleich den Schweinen im Kote wälzen, beleidigen und lästern wir Gott den Herrn, denn dadurch sinken wir noch unter die Stufe der unvernünftigen Kreatur hinab, die es nicht besser weiß. Wir aber sollten es wahrlich besser wissen!
Drum möge von Stund an niemand mehr trinken, als er seiner Natur nach vertragen kann! Der eine verträgt ein Maß, einer vielleicht zwei Maß, ein anderer mag auch drei Maß vertragen… Nur mir allein hat es Gott der Herr in seiner unermeßlichen Gnade gegeben, daß ich zwölf Maß vertrage!“
Und dann hatte er für jeden der Brüder das an einem Abend erlaubte Quantum Wein festgesetzt. Jeder hatte auf die Kornwaage steigen müssen, und der Prior hatte unbestechlichen Auges die Gewichtssteine abgezählt, die Frater Correctus aufzulegen hatte, bis das Zünglein wieder in der Mitte stand. Bertholdus hatte noch Glück: Seiner rundlichen Gestalt verdankte er die Höchst-Freigrenze von drei Maß. Am schlimmsten hatte es Frater Exiguus getroffen: Ihm als Kleinstem und Schmächtigstem hatte Ambrosius nur eine halbe Maß zugebilligt, punktum. Nur sich allein genehmigte er zwölf Maß. Hochgewachsen, hager, jeder Zoll ein Asket, ließ er sich, wie viel er auch trank, niemals das geringste Zeichen eines Rausches anmerken. Mochte der Himmel wissen, wie er das anstellte.
Wenn auch Bertholdus oft über diese Frage grübelte – der heutige Disput hatte sich um ganz andere, wirklich weltbewegende Fragen gedreht, und zwar immer nur im Kreise. Frater Jacobus hatte die Frage aufgeworfen, wie weit Gottes Allmacht reiche. Dahinter stand unausgesprochen die Hauptfrage: Kann der Mensch mit seinem Denken umfassen, was die Kirche ihm zu glauben vorschreibt? „Wenn Gott allmächtig ist“, hatte er begonnen, „kann Er dann einen Stein erschaffen, der zu schwer ist, als daß Er ihn von der Stelle bewegen kann?“ „Unmöglich“, hatte Frater Andreas eingewandt, „mit Seiner Allmacht kann Gott jedes Ding bewegen, ganz gleich, wie schwer es ist!“ „Falsch!“, hatte Jacobus gekontert, „wenn Gott solch einen Stein nicht erschaffen kann, ist Er eben nicht allmächtig!“
Nach hitzigem Wortgefecht hatte der uralte Frater Zebedäus die Hand gehoben. Nachdenklich hatte er seinen silberweißen Bart mit den Fingern gekämmt, bevor er anhob: „Wie man es auch dreht und wendet – diese Frage erregt Zweifel an Gottes Allmacht! Wenn Er einen für Ihn zu schweren Stein nicht erschaffen kann, ist Er nicht allmächtig, wenn Er es aber kann, ist Er auch nicht allmächtig, weil Er ihn dann nicht mehr bewegen kann!“
An diesem Punkt hatte Pater Ambrosius ein Machtwort gesprochen. „Gottes Allmacht darf nicht angezweifelt werden, denn das wäre schlimmste Ketzerei, die den Tod auf dem Scheiterhaufen verdient! Laßt uns unverfänglichere Themen wählen, zum Beispiel: Wieviele Engel können auf einer Nadelspitze Platz nehmen?“
Als hätte er eine Lawine losgetreten, so wogte jetzt das Wortgetümmel im Saal. Alle, meinten die einen, denn Engel hätten keine physische Dimension, also auch keine Raumerfüllung. Überhaupt keiner, meinten andere, denn eine Nadelspitze sei nicht relevant für geistliche Wesen. Wieder andere verfochten eine bestimmte Anzahl, über deren Größe man sich nicht einigen konnte. Kurzum, die Redeschlacht sprengte alles bisher Dagewesene, besonders als man anfing, die Autoritäten zu zitieren, von Paulus über Augustinus bis zu Thomas von Aquin, als man in den dicken Folianten in der Bibliothek suchte, was und von wem über Engel gesagt worden war.
Bertholdus war es klar, daß dieser Disput nie zum Ziel führen konnte. Man müßte es experimentell herausfinden, war sein letzter Gedanke, bevor er einschlief, und auch sein erster, als er am Morgen erwachte. Wenn überhaupt, dann konnte nur ein alchymistisches Experiment Klarheit bringen. War doch Bertholdus nicht der erste oder einzige Mönch, der es geschafft hatte, sich in einem Kellergewölbe des Klosters ein gut ausgerüstetes Laboratorium einzurichten.
Sein großes Vorbild war der Engländer Roger Bacon, gleich ihm Franziskanermönch, dem das naturwissenschaftliche Experiment mehr galt als unfruchtbare theologische Dispute. Dann war da noch der Dominikaner Albertus Magnus, eine Leuchte der Naturwissenschaften. Ihnen fühlte Bertholdus sich geistesverwandt, ihnen strebte er nach.
Den Ablauf seines Experimentes sah er schon klar vor sich: Er mußte eine Nadel mit der Spitze nach oben in einen Halter einspannen und sich inbrünstig ins Gebet versenken, um die Scharen der Engel anzulocken. Doch wie sie erkennen? Dafür brauchte er die Quintessenz, die quinta essentia, aus der im letzten und schwierigsten Schritt der Stein der Weisen bereitet wurde, mit dessen Hilfe man ein Meer von Blei in Gold umwandeln konnte. Ein Tropfen der Quintessenz, zwischen zwei waagerecht eingespannten Nadelspitzen gehalten, bildete eine perfekte Kugel aus kristallklarer Flüssigkeit. Durch sie hindurchblickend konnte man die Engel und alle Herrlichkeiten des Paradieses erkennen. Doch bisher war noch niemand hinter das Geheimnis gekommen, wie diese Quintessenz zu gewinnen sei.
Wieder einmal studierte er die Tabula smaragdina des großen Weisen Hermes Trismegistos. Unendliche Geheimnisse bargen die mystischen Worte, in die Bertholdus sich versenkte. Im Opus Magnum suchte er die Rezeptur auf, die er schon so oft erfolglos ausgeführt hatte. Warum war es nie gelungen? Ein „Leu, ein kühner Freier“ sollte „im lauen Bad“ der „Lilie“ vermählt werden. Mit dem Leu war Sulphur gemeint: gelb, die Wärme liebend, stets bereit, andere Stoffe anzugreifen. Die Lilie stand für Mercur, Quecksilber. Üblicherweise gab man von beiden Stoffen etwas in einen Glaskolben und verschloß ihn „hermetisch“, nach den Regeln des Hermes Trismegistos, indem man sein oberes Ende in scharfem Feuer zuschmolz. Das erforderte Geschicklichkeit, Sorgfalt und Geduld beim behutsamen Abkühlen, damit die Schmelzstelle nicht plötzlich zersplitterte. Das laue Bad war ein Sandbad, in dem der Kolben allmählich auf dem Athannor genannten Ofen erhitzt wurde, bis sich die Reaktionsprodukte, regenbogenfarbig schillernd, im oberen Teil niederschlugen. Diese Prozeduren hatte er immer wieder vollzogen – aber was kam danach? Wie sollte aus dem schönen, bunten Gefärbsel die Quintessenz und daraus dann der Stein der Weisen werden? Der „alte König“ sollte erschlagen werden, ein Löwe seinen Leichnam fressen und in Flammen aufgehen, damit aus der Asche der „junge König“ strahlend schön erstand. Wie war das zu verstehen? Keine verläßliche Kunde gaben die alten Schriften: Jeder Alchymist nannte andere Wege und Stoffe, doch keiner hatte es je geschafft.
Bertholdus versank in tiefes Grübeln, bis die Müdigkeit sich seiner bemächtigte. Doch sein Schlaf währte nicht lange. Im Traum hatte er etwas gesehen, das ihm weiterhelfen konnte: Ein Triangulum schwebte frei vor ihm, von einem Schriftzug umkränzt: „Aller guten Dinge sind drei“. Er griff sich an den Kopf. Warum war er nicht schon längst darauf gekommen? Drei Stoffe mußte er vereinigen, nicht zweie! Nur die Tria principia: Sal, Mercurius und Sulphur konnten zusammen den Stein der Weisen hervorbringen. Frisch ans Werk!
Seinen Vorrat des teuren, schwer zu beschaffenden Quecksilbers hatte er bei fruchtlos gebliebenen Versuchen aufgebraucht. Doch Merkur war ja nicht allein im Quecksilber gegenwärtig, sondern auch in manch anderer Materie, zum Beispiel in der Kohle. Merkurial war sie, da sie die Gegensätze des trockenen, erdigen und festen Sal und des brennbaren Sulphur in sich vereinigte. Außerdem war sie billig.
Schwerer fiel ihm die Wahl des Sal-Repräsentanten. Das einfache Küchensalz verwarf er als zu profan und trivial. Nur ein Salz mit bedeutender innerer Kraft kam in Frage. Sein Blick fiel auf eine Phiole mit einem besonderen Salz, Sal petrae genannt, Salz aus dem Felsen, das ihm vor Jahren einmal ein Ordensbruder aus dem fernen Welschlande auf dem beschwerlichen Weg über die Alpen mitgebracht hatte. Am Mittelmeer fand man es an einigen Stellen.
Er schüttete einen ordentlichen Schwung in seinen Mörser, stampfte, stieß und rührte mit dem Stößel darin herum, bis die groben Kristalle sich in feinen Staub verwandelt hatten, den er in einen Tontiegel füllte. Auch Holzkohle und Schwefel mahlte er so fein er konnte und mischte sie gründlich mit dem weißen Salz im Tiegel. Der Deckel schloß nicht dicht genug. Ein gehöriges Quantum rasch aushärtender Gipsmasse mochte dem Kriterium hermetischer Abdichtung genügen. Er stellte den Tiegel auf den Athannor und heizte das Feuer kräftig an. Emsig trat er den Blasebalg, bis der Tiegel rot glühte.
Auf alles war er gefaßt, nur nicht auf den hellweiß-rosa flammenden Blitz und den mächtig-dumpfen Donnerknall, mit dem der Tiegel urplötzlich explodierte. Eine unsichtbare Kraft, stark wie eine Gigantenfaust, schleuderte ihn gegen die Tür. Krachend sprang sie auf und entließ eine dicke, graue, schweflig riechende Wolke, die bald das ganze Kellergewölbe erfüllte und wabernd aus allen Ritzen ins Freie herausquoll.
Stöhnend richtete Frater Bertholdus sich auf, rieb sich die schmerzenden Glieder und griff nach dem Wassereimer, um die aus dem Athannor herausgeschleuderten glühenden Holz- und Kohlebrocken abzulöschen.
Besorgt eilten die Brüder herbei und freuten sich, Bertholdus zwar schwarz wie einen Köhler, aber bis auf einige Schrammen und Beulen unversehrt zu finden. Das Laboratorium indessen bot ein Bild der Verwüstung. All die kostbaren Ton- und Glasgeräte waren ein einziger Scherbenhaufen. Sie wiederzubeschaffen würde ein Vermögen kosten.
Die Mär von der Entdeckung des Bruders Bertholdus Schwarz verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und es dauerte gar nicht lange, bis menschlicher Erfindergeist Mittel und Wege fand, um dem Krieg ein neues, noch schrecklicheres Antlitz zu geben. Kein Ritter konnte sich in seinen Mauern mehr sicher fühlen, die Kanonen legten Burg um Burg in Schutt und Trümmer.
Die Frage, wieviele Engel auf eine Nadelspitze passen, geriet in Vergessenheit. Mochten künftige Geschlechter sich die Köpfe darüber zerbrechen, wieviele Teufel gleichzeitig auf einer Kanonenkugel durch die Luft reisen können…
© 2002 by Arno E. Corvis