Charles Darwin, Leben und Werk

Die Forschungsergebnisse Charles Darwins prägen bis heute das Weltbild vieler Menschen. Sein Lebensweg verläuft anders als geplant, seine Veröffentlichungen vollziehen sich unter ungewöhnlichen Umständen. In der vorliegenden Zusammenfassung ist das Wesentliche auf spannende Art auf den Punkt gebracht.

HERKUNFT UND JUGEND

Charles Robert Darwin wurde am 12. Februar 1809 als fünftes Kind (von sechs) und zweiter Sohn des wohlhabenden Arztes Robert Waring Darwin in dem Landstädtchen Shrewsbury (Grafschaft Shropshire) geboren. Die Familie gehörte in der Oberschicht der Provinzgesellschaft zur ersten Garnitur. Zu ihren häufigsten Aktivitäten zählten Reisen zum Besuch von Verwandten, die Teilnahme an lokalen karitativen Projekten und Ferienaufenthalte an den malerischsten Stellen der walisischen Küste.

Seine frühe Kindheit empfand Darwin als überaus glückliche Zeit, obwohl er mit acht Jahren die Mutter verlor. In seiner Autobiografie schrieb er, er könne sich an seine Mutter und ihren Tod nur schwach erinnern, was vielleicht daran liege, dass seine drei älteren Schwestern ihn danach mit viel mütterlicher Liebe umsorgt hätten.

1818 bis 1825 besuchte Darwin die private Shrewsbury School for Boys. In dieser Zeit fasste er den Arztberuf als Ausbildungsziel ins Auge und begleitete manchmal seinen Vater auf dessen Krankenbesuchen. Sein Leben nahm eine aufregende Wendung, als sein Vater ihn 1825 vorzeitig von der Schule nahm und, wie zuvor schon seinen Bruder Erasmus nach Cambridge, zum Medizinstudium nach Edinburgh schickte. Männliche Jugendliche konnten schon in sehr jungen Jahren an der Universität probeweise ein paar Fächer belegen, ehe sie zum ernsthaften Studium übergingen. Nach anfänglicher Begeisterung entdeckte der sechzehnjährige Charles, dass sein Nervenkostüm den blutigen Realitäten der Medizin des frühen 19. Jahrhunderts nicht gewachsen war. Nachdem er bei zwei „grässlichen“ chirurgischen Operationen – eine davon an einem Kind – zugeschaut hatte, stand für ihn fest, dass der Arztberuf nicht für ihn war (man war noch zwei Jahrzehnte von der Anwendung der Narkose entfernt).

Dr. med. Robert Darwin war nicht erfreut über Charles’ Ausstieg aus dem Medizinstudium. Anfang 1828 nahm Charles an der Universität Cambridge das Studium der Theologie mit dem Ziel auf, wenigstens den Grad eines „Bachelor of Arts“ zu schaffen – die Voraussetzung für die Aufnahme in den Klerus der Anglikanischen Kirche. Die Familie Darwin war nicht sonderlich religiös, aber als Vikar in den geistlichen Stand zu treten war in der Viktorianischen Epoche ein von jungen Leuten aus dem gehobenen Bürgertum gern beschrittener Weg.

Die Jahre an der Universität Cambridge sollten von höchster Bedeutung für Darwins weiteres Leben sein, wenn auch mit etwas anderem Ergebnis, als Vater und Sohn es erwarteten. Darwin verlebte an den Ufern des Cam drei fabelhafte Jahre. Der akademische Stundenplan stellte keine sonderlich hohen Ansprüche und ließ ihm reichlich Zeit, seinen naturkundlichen Interessen zu frönen. Er nahm an Fuchsjagden teil, schoss Federwild, tauschte mit Freunden Objekte aus seiner Naturaliensammlung oder spielte mit ihnen Karten.


DIE "BEAGLE"

Nachdem er Anfang 1831 das Bachelor-Examen bestanden hatte, wollte er sich zunächst das Jahr über einfach nur seinem Vergnügen widmen, bis er im Herbst nach Cambridge zurückkehren würde, um als Kandidat für das Priesteramt seine Ausbildung fortzusetzen.

Bei der Rückkehr nach Shrewsbury fand er im Elternhaus ein Schreiben Henslows vor, in dem ihm die Teilnahme an einer Weltreise auf einem britischen Vermessungsschiff, der „Beagle“, angeboten wurde. Die Einladung hatte auf dem Weg zu ihm mehrere Stationen durchlaufen und war auch für die damalige Zeit durchaus ungewöhnlich. Ausgegangen war sie von Kapitän Robert FitzRoy, der von dem für die „Beagle“-Expedition zuständigen Gewässerkundler der britischen Admiralität die Erlaubnis erbeten hatte, als Reisegefährten einen jungen „Gentleman“ mit wissenschaftlichen Interessen mitzunehmen, der die Fahrt zur Naturbeobachtung und zum Sammeln von Naturalien würde nutzen können. Er würde als Gast der Admiralität am Tisch des Kapitäns speisen, aber keine Bezahlung erhalten. Dank des gut funktionierenden elitären Netzwerks, das Regierungsstellen, Marineleitung und die alten Universitäten verband, war die Einladung reihum an mehrere Cambridge-Professoren ergangen. Am Ende kam Henslow zu dem Schluss, Darwin sein „genau der Mann, den sie suchen“.

Vater Darwin verlangte zunächst, der Sohn solle ablehnen. Der ganze Plan sei „braver Unfug“, erklärte er. Enttäuscht notierte Charles die Einwände des Vaters. Der wichtigste war, dass die Reise „dem Charakter des Geistlichen, der ich hernach sein werde, ein schlechtes Zeugnis ausstellt … dein Leben wird niemals in geordnete Bahnen kommen … du solltest begreifen, dass du schon wieder beruflich umsattelst … dass das Ganze ein sinnloses Unterfangen wäre“. Glücklicherweise ließ Vater Darwin sich von seinem Schwager Wedgwood umstimmen. Später schrieb Darwin: „Die Reise der ‚Beagle’ ist das bei weitem bedeutungsvollste Ereignis in meinem Leben gewesen und hat meine ganze Laufbahn bestimmt.“

Die Reise dauerte 5 Jahre (von Dezember 1831 bis Oktober 1836). In dieser Zeitspanne besuchten man die Kapverdischen Inseln, die Falklandinseln, zahlreiche Orte an südamerikanischen Küsten, anschließend die Galapagosinseln, Tahiti, Neuseeland, ganz kurz auch Australien und Tasmanien, ebenso die Kokosinseln im Indischen Ozean, zum Schluss das Kap der Guten Hoffnung sowie die Inseln St. Helena und Ascension (Himmelfahrtsinsel). Darwin unternahm auf eigene Faust mehrere ausgedehnte Exkursionen ins südamerikanische Landesinnere und überquerte dabei auch einmal den Andenkamm. Wann immer möglich, ließ er sich von FitzRoy irgendwo an der Küste absetzen und zu einem vereinbarten Zeitpunkt dort wieder abholen.

Volle fünf Jahre lang blieb er gut gelaunt und umgänglich – eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass auf der „Beagle“ vierundsiebzig Erwachsene und Jungendliche männlichen Geschlechts auf engstem Raum zusammengepfercht waren. Nur mit der Seekrankheit hatte er ein Problem. Bei starkem Seegang wurde ihm immer mal wieder übel; er brachte es nie zu Seefestigkeit und wurde darum vom Kapitän wie von seinen Kabinengenossen sehr bemitleidet.

Darwin hatte völlige Freiheit, seiner Liebe zur Naturwissenschaft in all ihren Verzweigungen zu frönen. Dabei nahm er die Erwartungen, die an ihn gerichtet waren, sehr ernst, legte Sammlungen von Vögeln, Wirbeltieren, Wirbellosen, Meeresfauna, Insekten, Fossilien sowie Gesteinsproben an und brachte auch ein hübsches Sortiment von Pflanzen zusammen. Diese Dinge wurden von Zeit zu Zeit zu Henslow nach Cambridge geschickt, der die Sachen bis zu Darwins Heimkehr verwahrte. Es war eine ausgezeichnete Sammlung, mit vielen seltenen oder bislang unbekannten Arten. Unermüdlich machte er umfassende Beobachtungen zu Einzelheiten wie Lebensraum, Verhalten, Färbung, Verbreitungsgebiet und dergleichen und legte parallel dazu eine penible Dokumentation an, die ihm nach der Reise als Materialbasis für eine Reihe von Büchern und Artikeln dienen sollte.


DER GARTEN EDEN

1835 steuerten sie die Galapagos-Inseln an. Alles an diesen Inseln beeindruckte den Naturforscher kolossal. Die den Strand und das Hinterland bevölkernden Leguane, die Riesenschildkröten, Spottdrosseln und Tölpel, aber auch die vulkanische Landschaft und die mit Lianen wie mit Lametta begangenen und darum so eigenartig wirkenden Bäume – das alles faszinierte ihn maßlos. Die „Verzauberten Inseln“ – wie diese 13 maßvoll großen, 6 kleinen und 11 winzigen Flecken Erde mitten im weiten Ozean jahrhundertelang geheißen hatten, liegen direkt auf dem Äquator, werden aber vom kalten Humboldtstrom umspült, mit dem sogar Pelzrobben und Pinguine an ihre Ufer gelangt sind Die Landtiere und Vögel hatten noch keine Erfahrungen mit menschlichen Störenfrieden und verhielten sich entsprechend arglos. Die Männer von der „Beagle“ hatten das Gefühl, in einen Garten Eden geraten zu Sein. Darwin gönnte sich einen Ritt auf einer Riesenschildkröte, fing einen Leguan am Schwanz und konnte sich einem auf einem Ast sitzenden Habicht bis auf so kurze Distanz nähern, dass er ihn mit dem Gewehrlauf von seinem Platz schubsen konnte.

Auf der Reise begann Darwins Denken um die Idee der kleinen Veränderungen, die sich zu großen Wirkungen summieren, zu kreisen. Damit vollzog er einen wichtigen konzeptionellen Schritt auf seinem geistigen Weg. Bis an sein Lebensende gab er diesen Glauben an die Macht der sukzessiven kleinen Veränderungen nicht mehr auf. Auch als er später seine Vorstellungen von der Evolution ausarbeitete, was das Konzept der kumulativen kleinen Veränderungen für ihn der Schlüssel zur Entstehung der Arten.


HEIMKEHR

Nach fünfjähriger Fahrt kehrte die „Beagle“ heim, und Darwin hielt Rückschau auf das Geleistete. Alle einschlägigen Dokumente deuten darauf hin, dass er während der Expedition noch keine Evolutionstheorie konzipiert hatte. Aber er hatte bei der Heimkehr den Kopf voller Ideen und immensen wissenschaftlichen Ehrgeiz im Herzen. Sein Entschluss war gefasst: Er würde das Gebirge von Informationen, das er aufgehäuft hatte, fruchtbringend auswerten.

Darwin kehrte in eine von Umwälzungen und umwälzenden Ideen gärende Welt zurück, und er hatte das Gefühl, dass auch er selbst in einer Metamorphose begriffen war. Seine Londoner Zeit war die arbeitsreichste Phase seines Lebens. Verbindungen wurden geknüpft, Veröffentlichungen in die Wege geleitet. Er verfasste einen anschaulichen Reisebericht auf der Grundlage des Tagebuchs, das er auf der „Beagle“ fünf Jahre lang sorgfältig geführt hatte. In der deutschen Übersetzung ist es unter dem Titel: „Reise eines Naturforschers um die Welt“ bekannt geworden und machte ihn als Autor berühmt.

Das Einzige, was ihm jetzt noch fehlte, war eine Ehefrau. Gegen Ende des Jahres 1838 fand Darwin sich so gut situiert, um seiner Cousine Emma Wedgwood einen Heiratsantrag zu machen, die er seit beider Kindheitstagen kannte. Sie war die jüngste Tochter desselben Onkels Wegwood, der Charles gegen die Einwände von Vater Darwin den Weg an Bord der „Beagle“ geebnet hatte – eine warmherzige, gütige und hilfsbereite Frau, die ihn aus Liebe heiratete und von da an mit ihm durch dick und dünn ging. Nachdem die junge Familie Zuwachs bekommen hatte, siedelte sie 1842 von London in die Grafschaft Kent, wo Darwin ein stattliches Haus auf einem gut acht Hektar großen Anwesen erworben hatte. Dort wohnte und arbeitete Darwin bis zu seinem Tode.

Anfang 1837, vier oder fünf Monate nach seiner Rückkehr, kam Darwin zu der Überzeugung, dass Arten ohne göttliches Eingreifen entstehen. „Der Mensch in seiner Arroganz hält sich für eine famose Schöpfung, für die eine Gottheit die Hände rühren musste. Bescheidener und, wie ich finde, der Wahrheit näher, [ist es,] ihn als Ableger der Tierwelt zu betrachten“ „Da ich hinreichend darauf vorbereitet war, den überall stattfindenden Kampf um die Existenz zu würdigen … kam mir sofort der Gedanke, dass unter solchen Umständen günstige Abänderungen dazu neigen, erhalten zu werden, und ungünstige, zerstört zu werden. Das Resultat hiervon würde die Bildung neuer Arten sein. Hier hatte ich nun endlich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte.“


THEORIE DER SELEKTION

Im Oktober 1838 formulierte Darwin in einer Erstfassung seine Theorie von der natürlichen Selektion. Einem Einfall folgend bediente er sich zur Veranschaulichung seines Gedankens eines Bildes, das er aus der Welt der englischen Industrie bezogen hatte. Die natürliche Selektion begünstige wahrscheinlich am meisten diejenigen Tier- und Pflanzenspezies, welche die am breitesten gefächerten Varianten aufweisen, – als ob die Natur ein Industriebetrieb wäre, in dem ja die Arbeiter bekanntermaßen desto effizienter produzieren, je weiter fortgeschritten die Arbeitsteilung ist – je vielgestaltiger also die Tätigkeiten der Einzelnen sind.

Zunächst behielt Darwin seine Theorie für sich; er sah ein, dass er vorsichtig vorgehen musste. In seinen Augen bestand keine Notwenigkeit, die Veröffentlichung zu überstürzen. Im Juni 1842 hatte er nach eigenem Eindruck seine Theorie im Umriss hinreichend ausgefeilt, um eine kurze Skizze für den Eigengebrauch zu Papier bringen zu können, die er dann 1844 zu einer 240-seitigen Abhandlung ausbaute. Die Abhandlung war ein druckreifes Produkt, und Darwin hätte sie ohne weiteres so, wie sie da auf dem Papier stand, veröffentlichen können. Tatsächlich war das, mit einer Einschränkung, auch seine Absicht. Er gab das Manuskript seiner Frau in Verwahrung, zusammen mit einem verschlossenen Kuvert, das im Fall seines plötzlichen Todes geöffnet werden sollte; es enthielt die Bitte an sie, einen Herausgeber zu bestellen, der die postume Veröffentlichung besorgen würde. Aber rätselhafterweise war die Sache damit für ihn abgetan; zu seinen Lebzeiten wollte er sie nicht veröffentlichen. Hielt er sie bewusst zurück? Schien es ihm ein allzu großes Risiko, sie zu veröffentlichen? Viele glaubten es.


„NATÜRLICHE GESCHICHTE DER SCHÖPFUNG DES WELTALLS, …“

Ein bemerkenswertes Ereignis gab ihm allerdings zu denken: 1844 veröffentlichte ein Anonymus ein von evolutionistischem Geist durchdrungenes Buch mit dem Titel „Vestiges of the Natural History of Creation“ (dt. unter dem Titel „Natürliche Geschichte der Schöpfung des Weltalls, der Erde und der auf ihr befindlichen Organismen“ ) das Buch veränderte die Evolutionsdebatte radikal – es brachte die Theologen in Harnisch, trug ungemütliche säkulare Gedanken ins viktorianische Wohnzimmer und zog eine Frontlinie durch das lesende Publikum: auf der einen Seite hitzige Kritiker, auf der anderen faszinierende Enthusiasten. Die „Natürliche Geschichte der Schöpfung“ wurde zu einem Renner auf dem Buchmarkt. Sie verbreitete sich in billigen Volksausgaben in rasendem Tempo in der gesamten Englisch sprechenden Welt und machte als Übersetzung auch in anderen Ländern Furore.

In süffigem Stil beschrieb der unbekannte Verfasser die autogene Entwicklung der organischen Welt von den ersten Partikeln belebter Materie bis hin zu Mann und Frau. Zwar war die wissenschaftliche Substanz des Ganzen ziemlich dünn, und was da an Veränderungsmechanismen gemutmaßt wurde, reizte manchmal zum Lachen, der evolutionistische Grundtenor kam jedoch einprägsam zur Geltung. Das Buch sprach erfolgreich die Fortschrittsehnsüchte des Zeitalters an. Sei es beifällig, oder abfällig, die Menschen diskutierten über die „Natürliche Geschichte der Schöpfung“ in der Zeitung, im Salon, im Gemeindesaal.

Wie sich später herausstellte, war der Buchautor der bekannte schottische Journalist namens Robert Chambers. Er interessierte sich lebhaft für die Naturwissenschaften der Zeit. Er veröffentlichte des anonym, weil er voraussah, wie viel Staub es aufwirbeln würde. Wenn später gesagt wurde, seinerzeit habe die Evolution in der Luft gelegen, dann war damit die „Natürliche Geschichte der Schöpfung“ gemeint.

Darwin aber war wie vor den Kopf geschlagen. So kurz, nachdem er seine Abhandlung über die Evolution abgeschlossen hatte (im November 1844), die „Natürliche Geschichte“ zu lesen, versetzte ihm einen Schock. Sehr grob schematisiert war die Generalthese des neuen Buches der seinen verblüffend ähnlich. Gewiss, der Verfasser bezog die Menschheit in seine Betrachtungen ein, was Darwin bewusst vermied. Und nicht wenig von dem angeführten Tatsachenmaterial war unzutreffend. Aber das Grundprinzip der allmählichen natürlichen Entstehung war in dem Buch richtig erfasst. Die „Natürliche Geschichte“ war das Schärfste an Konkurrenz, was Darwin bisher untergekommen war. Vor der Breitenwirkung des Buches konnte er unmöglich die Augen verschließen. Ein Freund, der Botaniker Joseph Hooker, konnte in seinen Briefen gar nicht aufhören zu äußern, wie begeistert er von der Themenvielfalt in der „Natürlichen Geschichte“ war. Darwin war genervt. „Ich habe ebenfalls die `Natürliche Geschichte` gelesen, aber mit etwas weniger Vergnügen, als sie Ihnen offenbar bereitet hat“, schrieb er steif zurück. Mit großer Energie begann er nun sein Gebäude von zuverlässigem Tatsachenmaterial zu errichten, das so viel Bewunderung erwecken sollte, als er schließlich die „Entstehung der Arten“ veröffentlichte, und das sein Werk weit über den Durchschnitt der wissenschaftlichen Publikationen hinaushob. Die nächsten eineinhalb Jahrzehnte trug Darwin unermüdlich empirische Tatsachen zusammen, die seine Theorie zu untermauern vermochten.

Als ihn im April 1856 eine kleine Freundesschar übers Wochenende besuchte, fühlte Darwin sich in der Lage, seine Überlegungen zur Diskussion zu stellen. Lyell drängte Darwin mit Feuereifer zur Veröffentlichung. Er erzählte ihm von einem Artikel, den ein relativ unbekannter Naturforscher namens Alfred Russel Wallace in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht hatte. Darin ging es um das Verhältnis zwischen Rassen und Arten, und wer Augen hatte zu sehen, der konnte nicht übersehen, dass hier implizit von einer echten Kontinuität zwischen den beiden Kategorien die Rede war. Höchste Zeit, dass Darwin zur Veröffentlichung schritt, meinte Lyell.


ALFRED RUSSEL WALLACE

Als Darwin an einem Junimorgen 1858 ein sorgsam in steifes Papier eingeschlagenes dünnes Päckchen in der Post fand, fragte er sich, wer das sein mochte, der ihm da etwas aus Niederländisch-Ostindien, und zwar von Ternate, einer Molukkeninsel auf halber Strecke zwischen Celebes und Neuguinea, zuschickte. Er hoffte, die Sendung werde interessante Informationen über irgendwelche exotischen Spezies enthalten. Doch was er fand, war ein handgeschriebener Aufsatz des Naturforschers Alfred Russel Wallace, in dem dieser seine Auffassung von der Evolution durch natürliche Selektion darlegte.

Darwin gestand Lyell in einem Brief vom 18. Juni 1858 seine Verzweiflung: „Eine verblüffendere Duplizität der Ereignisse habe ich noch nie erlebt … hätte Wallace das Manuskript meines Entwurfs von 1842 in der Hand gehabt, er hätte keine treffendere Kurzfassung davon anfertigen können.“ Entgeistert davon, dass jemand anders auf dieselbe Theorie gekommen war wie er, fragte er seine zwei besten Freunde, Lyell und Hooker, um Rat, wie er nun weiter verfahren solle. Sie schlugen ihm vor, sie würden Wallaces Aufsatz zusammen mit einem kurzen Abriss von Darwins Anschauung bekannt machen. Die Sache würde eine Doppelpräsentation werden, und so würde die Priorität zwischen den beiden Entdeckern geteilt. Darwin stimmte halbherzig zu.


DOPPELPRÄSENTATION

Die Doppelpräsentation fand am 1. Juli 1858 bei einer Zusammenkunft der Linne-Gesellschaft statt. Dank ihrem Einfluss im Leitungsgremium dieser erstrangigen naturforschenden Gesellschaft des Vereinigten Königreichs gelang es Lyell und Hooker, die Papiere von Wallace und Darwin quasi in letzter Minute, auf die Tagesordnung der aus ganz anderem Grund anberaumten außerordentlichen Mitgliederversammlung zu setzen.

Wallace hielt sich Tausende Meilen weit weg im Fernen Osten auf. Da der Postweg um den halben Globus damals drei bis vier Monate beanspruchte, war selbst der Brief noch gar nicht bei ihm angekommen, der ihn darüber informieren sollte, dass sein Aufsatz ein Doppelgänger der Arbeit eines anderen war und gemeinsam mit dieser präsentiert werden sollte. Als er es dann erfuhr, konnte er seine Verwunderung nicht verbergen. Von Natur aus zuvorkommend und sanft, schrieb Wallace sofort an Darwin und seine beiden Freunde, um ihnen zu sagen, das es seiner Ansicht nach an dem Veröffentlichungsverfahren absolut nicht auszusetzen gebe.

Dass Wallace am anderen Ende der sozialen Stufenleiter der viktorianischen Gesellschaft stand, lässt sich nicht verheimlichen. Der Autodidakt ohne Vermögen und geregeltes Einkommen erwarb seinen unsicheren Lebensunterhalt als Naturalien sammelnder Forschungsreisender, der die präparierte Ausbeute seiner Streifzüge an Museen und Privatsammler verkaufte. Seine erste Reise zu Sammelzwecken hatte er 1848 – 1852 gemeinsam mit dem Naturforscher Henry Walter Bates in das Amazonasgebiet unternommen, wo die beiden den Regenwald nach seltenen Vogel- und Insektenarten durchkämmten. 1856 reiste er allein nach Indonesien, wo er sich acht Jahre lang aufhielt und auf seinen Streifzügen insgesamt mehr als 14.000 Meilen zurücklegte. Auch Wallace hatte bei seinen Forschungen ein Schlüsselerlebnis: Eines Tages erholte er sich, an Malaria erkrankt, von einem Schüttelfrost-Anfall und verfiel dabei ins Grübeln über die demografische Situation Neuguineas und der vorgelagerten Inseln und Inselgruppen, als ihm plötzlich aufging, dass die Papua nach und nach von eindringenden Malaien verdrängt wurden. Und wie seinerzeit für Darwin, so fügten sich jetzt für Wallace alle Puzzleteile ineinander. Er schrieb seine Entdeckung nieder – und benutzte ein Vokabular, das aus demselben Vorstellungsrepertoire geschöpft war wie das darwinsche, sprach von einem „Krieg“ in der Natur, einem Wettstreit zwischen den Individuen, aus dem die besser disponierten Varietäten als Sieger hervorgehen.

Die unerwartete Entdeckung der Überschneidung mit Wallace hatte für Darwin eine unmittelbare Folge: Sie zwang ihn zum sofortigen Ausarbeiten der „Entstehung der Arten“. Innerhalb von eineinhalb Jahren schuf er eine kompakte Darlegung seiner Theorie mit sauberer Beweisführung. Kompromisslos entwirft Darwin ein Bild vom Ursprung der organischen Welt, in dem kein Patz mehr für einen Garten Eden ist und einen Uhrmacher im Himmel, der geduldig Organismen konstruiert, um mit ihnen die Erde drunten zu bevölkern. Darwin schrieb die „Entstehung der Arten“, wie er immer schreib: in demselben liebenwerten autobiographischen Stil, den er während der Zeit auf der „Beagle“ entwickelt hatte. Jahre nach seinem Tod bemerkte sein Sohn Francis, dass diese sympathische Schreibweise gerade „in ihrer an Naivität grenzenden Einfachheit und so frei von jeglicher Affektiertheit, wie sie war“ charakteristisch für seinen Vater gewesen sei.

Darwin baute sein Theorie wohldurchdacht auf: Die natürliche Auslese ist aber kein offensichtlicher Naturvorgang, den man sich einfach anschauen könnte. Und auch Darwin hat keinen eindeutigen Schlüsselbeweis anzubieten, welches den eindeutigen Beweis für die praktische Wirksamkeit der Evolution liefern würde.


„DIVERGENZPRINZIP“

Neben der Selektion entwirft Darwin eine neues Prinzip: das „Divergenzprinzip“. Es ist schnell umschrieben. Darwin sagt, dass es für die einzelnen Arten von Organismen stets von Vorteil ist, auf breiter Skala divergierende, also voneinander abweichende Nachkommen hervorzubringen. „Je mehr die Wesen in Struktur, Lebensweise und Konstitution abändern, desto mehr kann eine große Zahl derselben in einem und demselben Gebiet nebeneinander bestehen.“

Im Jahre 1859 veröffentlichte Darwin „Die Entstehung der Arten“. Die erste Auflage betrug damals 1250 Exemplare und war noch am gleichen Tag vergriffen. Im Rückblick ist klar zu erkennen, dass die „Entstehung der Arten“ beachtlich zur Dynamisierung anderer Wandlungsprozess beitrug, die im Abendland bereits in Gang waren, insbesondere zu solchen in der religiösen Sphäre. Dass die Diskussion sich auf Blumen und Schmetterlinge beschränken würde, war zu keinem Zeitpunk zu erwarten. Die eigentliche Provokation des Darwinismus lag für die Viktorianer darin, dass er das Leben zu einem amoralischen Chaos machte, in dem keine göttliche Autorität nachweisbar ist und weder ein Zweck noch eine Planung wahrnehmbar sind.

Bewusst umgeht er in diesem Buch allerdings noch zwei Fragen, auf die jeder Leser früher oder später wird kommen müssen. Er verliert kein Wort darüber, was die Evolutionstheorie über die Ursprünge der Menschheit zu sagen haben könnte, und er schweigt sich aus über die Frage nach der Gegenwart einer göttlichen Wesenheit in der Natur.

Am bedeutensten fanden viele Beobachter in Darwins Buch „Entstehung der Arten“ das Kapitel, in welchem er über die Schwierigkeiten seiner Theorie spricht. Hier behandelt er viele Probleme, die dem Leser sofort würden auffallen müssen, beispielsweise das Fehlen von Zwischenstufen im Fossilbericht oder die Schwierigkeit, sich die allmähliche Herausbildung komplexer Organe wie des Auges vorzustellen. Darwin selbst hat endlos über diese Probleme nachgegrübelt. „Der Gedanke an das Auge lässt mich noch jedes Mal am ganzen Leib erschauern“, gestand er 1860 seinem Freund Asa Gray, dem amerikanischen Botaniker. Das Fehlen von Zwischenformen im Fossilbericht war wirklich eine harte Nuss, die sich nur mit einer Argumentation ex negativo knacken ließ. Darwin vermutete, dass die fraglichen Organismen als taxonomische Gruppen so wenige und so kurzlebig waren und geologische Erhaltung generell so selten und so stark vom Zufall abhängig ist, dass Fossilfunde höchst unwahrscheinlich sind. Deren Fehlen sei also kein legitimer Beweisgrund gegen seine Theorie.


RAMPENLICHT

Darwin selbst mochte bei dieser Kontroverse das Rampenlicht überhaupt nicht. Er hasste Konfrontationen, bei denen seine Ehrbarkeit oder Ehrlichkeit hätte infrage gestellt werden können. Er zog es vor, sich im Hintergrund zu halten und still zu Hause zu bleiben, und war zufrieden, wenn andere entschiedener Flagge zeigten, als er sich dazu in der Lag fühlte.

Trotzdem blieb Darwin am Ball. Er rührte sich zwar nicht aus Down House weg, führte jedoch eine rege Korrespondenz, bei der täglich Briefe aus- und eingingen: anspornende, schulterklopfende, nörgelnde, klarstellende, höflich widersprechende, dankende, Rat suchende und Rat erteilende. Mittels seiner Korrespondenz mischte Darwin bei den Streitigkeiten draußen in der Welt mit.

Die Hauptabwehr der öffentlichen Attacken leisteten vier von Darwins Freunden, allesamt selbstständig denkende, hochintelligente, absolut nicht zur Schmeichelei neigende Geister, jeder ein Spezialist in seinem Wissenschaftsfach. Die vier unterstützten Darwin in der Öffentlichkeit rückhaltlos, obwohl sie ihm im privaten Rahmen da und dort Schwachstellen in seinem Material und seinen Schlussfolgerungen vorhielten.

Bemerkenswert ist jedoch auch, dass es in der Gesellschaft zu keiner Zeit eine wirkliche Anti-Darwin-Bewegung gab.


„SOZIALDARWINISMUS“

Deutlich ist, dass Darwins Theorie in die gesellschaftliche Sphäre hineinwirkte: Dort entwickelte sich die Ansicht, dass zwischen Völkern und Rassen ein Kampf ums Dasein stattfinde. Nach der Veröffentlichung der „Entstehung der Arten“ nutzte die berühmt-berüchtigte Lehre vom „Sozialdarwinismus“ die Idee des Erfolgs zur Rechtfertigung einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die einzig den Kampf als Antriebskraft kannte. Einmal Credo, auf das Nationalökonomen und Wirtschaftsbosse schworen, ein andermal Freibrief für soziale, rassische und geschlechtsspezifische Diskriminierung, dann wieder Ideologie, die sich von vielerlei politischen Interessenrichtungen vor den Karren spannen ließ. Die eine, unverwechselbare Form des Sozialdarwinismus gab es nicht. Begeisterung für das freie Unternehmertum uferte prompt in wuchernde imperialistische und eugenische Ideologie aus. Das Konzept des „Überlebens der Tauglichsten“ unterstützte die Ansicht von naturgegebenen „rassischen“ Wertunterschieden und schien auf der internationalen Bühne des fortgesetzten gnadenlosen Kampf um Territorien und politische Macht zu rechtfertigen. Der Erfolg der Europäer bei der Eroberung und Besiedlung Tasmaniens zum Beispiel schien die vollständige Ausrottung der indigenen Tasmanier zu einem „naturgesetzlichen“ Vorgang zu machen. Eroberungen sah man als notwenige Elemente des Fortschritts an.


WALLACE UND DARWIN

Nachdem Alfred Russel Wallace 1862 nach England zurückgekehrt war, hatte sich zwischen den zweien eine Freundschaft ergeben, in der jeder die Leistung des anderen respektierte. Dennoch schickte sich Wallace dabei in Unvermeidliches. Zum Zeitpunkt seiner Rückkehr war der Schock, den die Evolutionstheorie ausgelöst hatte, schon weitgehend abgeklungen. Darwins „Entstehung der Arten“ hatte die vordersten Stellungen besetzt, und das Wort „Darwinismus“ war bereits als Synonym für „Evolutionstheorie“ im Umlauf. Wallace aber schrieb eines der besten Bücher über die natürliche Selektion, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat, und gab ihm bescheidenden Titel „Darwinism“ (1889) Er brachte es aus irgendeinem Grund nie zu der Prominenz oder Stellung in der viktorianischen Naturwissenschaft, die Darwin erlangt hatte.

Uneins waren sie sich vor allem über den Ursprung der Menschheit. Wallace brachte noch in den 1860er Jahren zwei überzeugende Aufsätze über die Evolution des Menschen zu Papier, in denen er behauptete, dass die natürliche Selektion zur Erklärung der evolutionären Anfänge der Menschheit nicht ausreiche. Ihm zufolge beförderte die natürliche Selektion unsere äffischen Vorfahren nur bis an die Schwelle des Menschseins. Dort habe die körperliche Evolution aufgehört, und etwas anderes sei an ihre Stelle getreten: die Macht des Geistes.


DIE ABSTAMMUNG DES MENSCHEN

Unter anderem war es auch die Betroffenheit über diesen Aufsatz, was Darwin den Anstoß gab, seine eigenen Ansichten in der „Abstammung des Menschen“ (Veröffentlichung 1871) in vollem Umfang darzulegen. Er war entschlossen zu zeigen, dass alle menschlichen Merkmale – Sprache, Moral, religiöser Sinn, Mutterliebe, Zivilisation, Schönheitssinn usw. – sich von der animalischen Basis des Menschen herleiten. Das Werk wurde umfangreich, und Darwin nahm die Hilfe vieler Freunde und Gelehrten in Anspruch, die bereits auf dem Feld der evolutionistischen Anthropologie tätig waren. Mut bewies Darwin, als er den religiösen Sinn behandelte und dabei die These vertrat, der sei letztlich nichts als ein urtümlicher Drang, unerklärlichen Naturvorgängen eine Ursache zuzuordnen.


AUSKLANG

Gegen Ende seines Lebens hatte der dauernde Druck, der auf Darwin lastete, seine Kräfte aufgezehrt. In den Jahren von 1860 - 1880 erkrankte er häufiger und auf längere Zeiten. Eine besonders langwierige Krankheitsperiode belastete ihn vom April 1865 an bis knapp vor das Jahresende; von Übelkeit und Brechanfällen geplagt musste er das Bett hüten, unfähig, Freunde zu empfangen oder, von den einfachsten im Sitzen zu bewältigenden Verrichtungen abgesehen, zu arbeiten. Er war so geschwächt, dass er nicht einmal seinen gewohnten Schwall von Briefen zu schreiben vermochte. Als er im Jahr 1866 das Krankenzimmer wieder verlassen konnte, war er der gebrechliche Greis mit dem mächtigen grauen Vollbart geworden, dessen Bild wir heute alle vor Augen haben, wenn wir den Namen Darwin hören.

Für alle, die sich von Darwin hatten überzeugen lassen, wurde er zu einer Art Prophet, einem weltlichen Heiligen. Von Mitte der 1870er-Jahre an tauchten in seinem Leben allerlei viktorianischer Starrummel auf, der sich eher belastend auswirkten. Von seiner Familie geliebt, von seinen Freunden geschätzt und verehrt, für viele ein geistiges Signalfeuer - einerseits bewundert, andererseits geschmäht, näherte sich Darwin dem Lebensende in dem Bewusstsein, dass er das wissenschaftliche Denken in außerordentlichem Maße umgeformt hatte. Darwin starb im Jahre 1882.

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