Hüttenbau - Waldwoche

Ein Beitrag von Martina Deichmann (Tübinger Freie Waldorfschule)

Wie in den vergangenen beiden Schuljahren plante ich in der dritten Klasse nach den Pfingstferien eine Waldwoche. Waren wir in den Jahren zuvor täglich gewandert, hatten uns mit Spiel- und Ent­deckerfreude ins Walddickicht begeben, Feuer gemacht, Stockbrot gebacken oder uns mit Staudamm- oder Rindenschiffchenbau und ersten Schwimmversuchen im Goldersbach beschäftigt, so wollte ich im dritten Schuljahr unsere Waldwoche als Auftakt zur Haus­bauepoche nutzen.

 

 

Zum Auftakt dieser Epoche ging die Klasse 3b nun in der Nähe der Schule an einen Platz mit vielen hohen Buchen, natürlichen Wegen und jeder Menge Unterholz, Moos und Farn. Am ersten Tag bildeten sich Baugemeinschaften. Jeweils 2-3 Kinder suchten sich ihren Lieblings-Bauplatz.

Die einen fanden eine Erdkuhle, die von einem großen umgestürzten Baum überdeckt war. Die anderen sahen in einem umgebogenen jungen Buchenbäumchen den idealen Dachfirst für ihr Haus, wieder andere hatten einen Lehmberg in der Nähe ihres zukünftigen Hauses gesichtet, der sich als nützlich erweisen sollte, oder sie bauten ihre Hütten unter lichten Bäumchen mit viel Moos und Farn in ihren Garten.

Alle Kinder erkundeten die nahe Umgebung und die Nachbarschaf­ten und prüften, ob ihre Laubhütte an dem bevorzugten Ort bestens platziert wäre. Bald war schon kein Halten mehr und die Beschaf­fung des Materials begann. Nur mit Taschenmessern und Kordeln waren die jungen Baumeister ausgerüstet und haben es doch ver­mocht, in der kurzen Zeit von drei Tagen herrlich unterschiedliche und phantasiereiche Hütten zu errichten. Ja, der ganze Bauprozess glich einem Urbild!

 

 

Es wurde gemeinschaftlich geplant, gearbeitet, verziert und doch wurden rasch auch Aufgaben geteilt, Spezialisten gefunden und ... Handel getrieben! Wo z. B. viel Moos vorhanden war, dafür aber kein Lehm, begannen rege Tauschgeschäfte. Wer eine Säge hatte, konnte Bäumchen zu Fall bringen, die anderen als Baumaterial dienten. Wer ein Tier im Wald entdeckte, rief alle anderen herbei, und wer als Erster die Idee hatte, aus dem Lehm Schüsseln, aus den Gräsern Be­sen oder aus den Rinden Schiffchen zu machen, hatte als Fachmann große Aufmerksamkeit und bei der Anleitung der Anderen gut zu tun. So wuchs unser Hüttendorf „Stockhausen" und wurde am letz­ten Tag bei strömendem Regen glücklich den tapferen Eltern prä­sentiert. Voller Stolz wurden die Unannehmlichkeiten des Wetters übersehen und gemeinsam weite Führungen durch unser Dorf ge­macht. Hier oder da wurde gequengelt, wann man eine Übernach­tung im Hüttchen planen dürfe.

Schön war es, dass, angeregt durch unsere Waldwoche, die Klasse 3a mit Ihrem Klassenlehrer Herrn Beck auch noch losgezogen ist, um Hütten zu bauen und diese Erfahrungen freudig und begeistert zu teilen. Ein Dank an dieser Stelle gilt dem Förster, der das Anliegen unterstützte.

 

 

„Gehört das denn alles in die Schule?", könnte man fragen. Die klare Antwort der Waldorfpädagogik ist: „Ja!", denn, wenn die Schülerin­nen und Schüler der dritten Klassen durch die bildhaften Erzählun­gen ihrer Lehrer in diese Urbilder eintauchen können und ihnen dann Gelegenheiten gegeben werden, diese Urtätigkeiten selber zu erproben und daran zu wachsen, bekommen sie ein Fundament für ihre innere Suche nach einem neuen, selbst gegründeten Halt, nach ihrer ureigenen Persönlichkeit.

 

Zum menschenkundlichen Hintergrund:

Drittklässler, also neunjährige Kinder, durchleben im Laufe des Jah­res eine mehr oder weniger starke Krise und Veränderung: Fühlten sie sich im Kindesalter ganz aufgehoben in der sie umsorgenden Umgebung, so geschieht auf seelischer Ebene nun so etwas wie die „Vertreibung aus dem Paradies". Die Zeit der Wunder, die ein Jahr zuvor noch so stark im Erzählstoff der 2. Klasse, den Heiligenlegen­den, von den Kindern mit vollzogen werden konnte, ebbt ab. Je mehr das Kind beginnt, sich seiner eigenen Gefühle bewusst zu werden und zu spüren, dass ein selbstständiges Ich in seinem Inneren lebt und wirkt, umso deutlicher und manchmal schmerzlich erfährt es die Trennung zwischen seinem inneren und seiner Umgebung.

Einerseits beginnen die Drittklässler nun, die Dinge und Menschen wie von außen als etwas dem eigenen Ich Gegenüberstehendes zu sehen und sich nicht mehr wie vorher mit der Umwelt völlig verbun­den und mitschwingend zu fühlen. Sie können nun zum Beispiel beim Kanon-Singen ihre Stimme halten, auch wenn der neben ihnen Stehende an anderer Stelle singt. Dazu braucht es Ich-Kraft und das Erleben von „ich bin hier, du bist dort". Dieses plötzliche Erkennen des innerlichen Alleinseins kann den Kindern Angst und Unsicher­heit einflößen. Einsamkeit taucht auf. Andererseits beginnen man­che Kinder aber auch zu testen, ob bemerkt wird, dass sie lügen oder etwas stehlen, und ob die Unwahrheit in ihrem Inneren verborgen bleiben kann, ohne ans Licht zu kommen.

Als Waldorfpädagogen wollen wir diese Entwicklung fein beobachten und sie durch die Inhalte unseres Lehrplans begleiten, denn der geht auf diese besondere Zeit des Umbruchs im neunten Lebensjahr ein.

Zu Beginn des dritten Schuljahres werden die Schöpfungsgeschich­te und die Vertreibung aus dem Paradies erzählt. Der Mensch kommt auf der Erde an und ist nun auf sich gestellt. Er beginnt die Erde zu bearbeiten. Darum gibt es im Herbst der dritten Klasse eine Acker­bauepoche. Er rührt seine Hände, um sich zu ernähren, aber auch um sich eine Leibeshülle, die Kleidung, zu bilden.

Durch seine Handgeschicklichkeit und seinen Erfindungsreichtum entstehen verschiedene „Hand-Werke" In der Mitte des Schuljahres, zum Fasching, können die Drittklässler dies in der Handwerkerepo­che durch eigene Erfahrungen und Besuche in den Werkstätten der Meister erleben und in Unterrichtsgesprächen, beim reflektierenden Aufsatzschreiben oder Malen darüber nachsinnen.

Schließlich brauchen die Menschen, um Gemeinschaften zu grün­den und diesen Raum zu geben, ebenfalls eine Schutzhülle, die Behausungen. Darum beschließen wir das dritte Schuljahr mit der Hausbauepoche.

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